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Wenn Redakteur*innen allergisch auf den Begriff „Nische“ reagieren
Der folgende Text von mir über den Dokumentarfilm-Branchentreff Dokville ist zuerst in epd Medien (Nr. 25/23) erschienen.
„Warum bin ich jetzt unseriös mit lackierten Nägeln?“ So lautet eine Frage in „Janboris Rätz NonBinär“, einem kurzen Porträtfilm von Studierenden der Stuttgarter Hochschule der Medien. Er war zum Auftakt des Dokumentarfilm-Branchentreffs Dokville zu sehen, den das Haus des Dokuemtarfilms am 15. und 16. Juni zum 19. Mal in Stuttgart veranstaltete.
Der Film war Teil der Keynote, für die die Organisatoren Janboris Rätz gewonnen hatten. Rätz definiert sich, wie der Titel des Porträts bereits verrät, als nicht-binär und spricht die Nachrichten für „SWR aktuell“ im Programm für Rheinland-Pfalz. Seine Non-Binarität bringt er auf dem Bildschirm unter anderem durch seine lackierten Nägel zum Ausdruck.
Rätz hatte vor der Veranstaltung überlegt, ob er/sie/es den Film dort überhaupt zeigen soll. Denn: „Meinem Abteilungsleiter hat er nicht gefallen.“ Angesichts der mangelnden Selbstreflexion in öffentlich-rechtlichen Führungsetagen ist das kein Wunder, denn es ist, ein plakativ formuliert, SWR-kritischer Film. „Den Job, den ich heute habe, habe ich ja bekommen, als ich den Nachrichtensprecher gespielt habe, den alle wollten. So wie ich heute auftrete, würde ich diesen Nachrichtensprecherjob nicht bekommen“, sagt Rätz dort. „Jetzt bin ich die Person geworden, die ich bin, und jetzt ist das ein ‚Problem‘.“
Rätz erläutert in dem Porträt, dass er/sie/es seit der Pubertät unter Depressionen gelitten habe, „weil ich gemerkt habe: Ich werde mir selber nicht gerecht, ich lebe an mir vorbei und mache das, was andere von mir verlangen“. Die Krankheitsgeschichte sei auch „auf der Arbeit“ immer wieder ein Thema gewesen, so Rätz weiter. „Irgendwann sagte mein direkter Vorgesetzter mal zu mir, dass es auch Menschen in der Redaktion gibt, die ernsthaft krank sind. Und das für war mich so ein Punkt, wo ich gesagt habe: So, jetzt reicht’s. Jetzt gehe mich lackierten Nägeln auf den Schirm.“
Rätz betonte während der Keynote, er/sie/es sehe sich bei Dokville nicht nur als Vertreter*in queerer Personen - und erwähnte zum Beispiel, dass es nach seiner/ihrer Kenntnis in Deutschland keinen „Nachrichtensprecher mit einer sichtbaren Behinderung“ gebe. Ein Hauch der 1970er Jahre wehte kurz durch den Saal des Stuttgarter Hospitalhofs, als Rätz berichtete, kürzlich habe sich eine perfekt Deutsch sprechende Frau mit osteuropäischen Wurzeln an ihn gewandt, deren Bewerbung für ein Volontariat der SWR mit der Begründung abgelehnt habe, ihr Deutsch sei nicht „akzentfrei“.
An dem folgenden Panel „Diversity in den Medien“, an dem auch Rätz teilnahm, ging es unter anderem um die von der Moderatorin Adrienne Braun formulierte Frage, ob es zumindest bei durch öffentliche Gelder finanzierten Medien eine Quote geben müsse, um verschiedenen Minderheiten eine Teilhabe zu ermöglichen. Ja, sagte Negin Behkam, 2010 aus dem Iran geflohen und heute Redakteurin beim „ND“ (vormals „Neues Deutschland“) - und nannte davor folgendes Beispiel: Wenn es in den Medien nicht genug Migranten gebe, „könnten diese Medien deren Probleme nicht erkennen“. So lange fühlten sich viele Migranten „nicht repräsentiert“, und „deshalb interessieren sie sich nicht für die Medien“. Insofern würde die Medienlandschaft mittelfristig von einer Quote profitieren.
Wiltrud Baier von der Dokumentarfilm-Produktionsfirma Böller und Brot legte auf diesem Panel nahe, die Begriffe Diversität und Vielfalt möglichst weit zu fassen. Sie berichtete davon, dass Redakteure der Sender auf den Begriff „Nische“ mittlerweile allergisch reagierten. Diese seien mittlerweile vor allem an „Leuchtturmprojekten“ interessiert - ein Begriff, den Funktionäre des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gern verwenden, um Diskussionen über den Programmalltag auszuweichen. Baier argumentierte: Wenn man von den 44 Millionen Euro, die die ZDF-Serie „Der Schwarm“, eines der fiktionalen „Leuchtturmprojekte“ der jüngeren Vergangenheit, gekostet habe, je 500.000 Euro auf Dokumentarfilme verteilt hätte, hätte man davon 88 drehen und damit eine enorme gesellschaftliche Vielfalt abbilden können. Wobei man bedenken müsse, dass 500.000 Euro für einen Dokumentarfilm heute ja ein großzügiges Budget sei, weshalb man mit dem „Schwarm“-Etat auch noch weitaus mehr als 88 hätte drehen können.
Zu den bei dieser Dokville-Tagung vorgestellten dokumentarischen Serien gehörte die SWR-Produktion „Drags of Monnem“. Die „vorwärts erzählte Alltagsreportage“ (Regisseurin Julia Knopp), die seit dem 23. Mai in der ARD-Mediathek abrufbar ist, erzählt von fünf schwulen Männern und einer lesbischen Frau, ihren Rollen als Drag Queens und Drag King und ihrem bürgerlichen Leben in Mannheim. Angelika Knop, die Moderatorin des Panels, fragte zunächst, warum ausgerechnet diese Stadt Schauplatz einer solchen Serie sei. Sie passe zur „Mentalität“ Mannheims, sagte SWR-Redakteurin Ursula Schwedler. Hier finde zum Beispiel Deutschlands fünftgrößter Christopher Street Day statt.
In einem der gezeigten Serien-Ausschnitte liefert die Drag Queen Macy M. Meyers eine perfekte Definition von Drag. Es sei die „theatralische Repräsentation dessen, was man in der Öffentlichkeit als Frau verstehen kann“. Auf dem Podium sagte sie, angesichts der „brandgefährlichen“ Queerfeindlichkeit, „die aus den USA herüberschwappt“, sei es wichtig, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk dazu beitrage, dass sich so ein Klima in Deutschland nicht verstärke. Schwedler betonte, man habe das Ziel gehabt, junge und andere Zielgruppen zu erreichen, die man sonst zu wenig erreiche, und die Abrufzahlen in der Mediathek zeigten, dass dies gelungen sei.
Als Moderatorin Knop erwähnte, dass es während der Produktion von „Drags of Monnem“ ein „kreatives Ringen“ darum gegeben habe, wie viel Off-Text es braucht und ob es ihn überhaupt braucht, kam auf dem Podium eine Anspannung auf, die für jedermann im Publikum spürbar war. Julia Knopp sagte, sie hätte mit weniger Off-Text „leben können“. SWR-Redakteurin Schwedler meinte dagegen, angesichts des „vielen Personals“ - es gibt sechs Protagonisten in fünf nicht monothematischen Folgen - trage die Off-Stimme dazu bei, „Ordnung“ zu schaffen. Aus dem Publikum meldete sich dazu die Dokumentarfilmregisseurin Sigrid Faltin („Anne-Sophie Mutter - Vivace“) zu Wort. Der Off-Text sei nicht notwendig, sagte sie, die Geschichte erschließe sich auch ohne ihn. Sie fragte Schwedler, ob man den Off-Sprecher aus „Rücksicht auf althergebrachte Zielgruppen“ eingesetzt habe. Ein Sprecher könne „in fünf Sekunden kompakt und schnell etwas erzählen“, wofür die Gesprächspartner der Serie viel länger bräuchten, sagte Schwedler dazu. Das mache es „einfacher“.
Das klingt nicht völlig unplausibel, aber es gibt auch Passagen in der Dokuserie, für die das nicht zutrifft. Zum Beispiel eine zu Beginn der vierten Folge, als es um eine Mannheimer Inszenierung des Theaterstücks „La Cage aux folles“, in der einer der Protagonist*innen, Markus Beisel, erzählt, wie wichtig es ihm ist, hier die Figur Albin zu spielen, und wie wichtig dieses Stück für die „schwule Popkultur“ ist. Ein Störfaktor ist aber vor allem der zwischen Lockerheit und Onkelhaftigkeit changierende Stil des Sprechers, der überhaupt nicht zur sonstigen Tonalität der Serie passt. Vielleicht wäre es ja ein guter Kompromiss gewesen, auf eine Erzählerstimme zu setzen, die dem Stoff angemessen ist.
Die bei der Veranstaltung ebenfalls vorgestellte Dokuserie „Capital B - Wem gehört Berlin?“ (RBB/WDR/Arte) kommt dagegen ohne Kommentar aus. Zumindest in einer Hinsicht ging es in der Planungsphase der Serie offenbar geradezu paradiesisch zu. Denn: Eine Diskussion zum Thema Off-Kommentar habe man mit den beteiligten Redakteuren gar nicht führen müssen, sagte Regisseur Florian Opitz. Mit Hilfe von 29 Interviewpartnern erzählen Co-Autor David Bernet und er hier die Geschichte der Stadtentwicklung und der Skandale in Berlin seit dem Ende der DDR - und vom Einfluss politischer Netzwerke auf die jüngere Geschichte der Stadt.
„Wenn man sich vornimmt, ohne Kommentar zu erzählen, braucht man mehr Erzählzeit und damit auch mehr Schnittzeit“, erläuterte Opitz - und bezog sich damit auf Ursula Schwedlers Argumentation auf dem vorigen Panel. Während die Folgen von „Drags of Monnem“ 30 bis 33 Minuten lang sind, hatten die Macher von „Capital B“ 52 bis 56 Minuten zur Verfügung.
Ein weiterer Veranstaltungspunkt lautete: „Unterrepräsentiert? Produzentinnen im Dokumentarfilm“. Bei der Diskussion stellte sich heraus, dass die Repräsentanz von Macherinnen nur ein Aspekt des Problems sei. Es gebe auch eine Unterrepräsentanz von Frauen vor der Kamera, sagte die Produzentin Nicola Graef. Konkret berichtete sie von Interviewanfragen bei Künstlerinnen und Künstlern: „Wenn man zehn Männer fragt, sagen elf zu. Fragt man zehn Frauen, sagen alle ab.“ Ein Thema dieser Runde war auch die „50:50-Challenge“ - eine Initiative der BBC, die zum Ziel hat, mehr Geschlechtergerechtigkeit im Programm zu erreichen, und der sich 2021 auch hiesige Sender, etwa der SWR oder der BR, angeschlossen haben. Teil dieser „Challenge“ ist die Ermittlung des Anteils von Frauen und Männern in TV-Formaten. Das greife aber zu kurz, sagte Antje Boehmert, Inhaberin der Produktionsfirma Docdays, denn es gehe „nicht nur um ein quantitatives, sondern auch um ein qualitatives Problem“. Wenn Geschlechtergerechtigkeit bedeute, dass in einem Film „Frauen Krebs haben und Männer Krebs heilen“, sei sie nichts wert.
Die Teilnehmerinnen hatten sich, wie Moderatorin Cornelia Köhler, Vorsitzende der WIFTG (Women in Film & Television Germany) sagte, vor der Veranstaltung vorgenommen, „nicht rumzuheulen“, und das taten sie dann auch nicht. An die jüngeren Frauen im Publikum gerichtet, sagte Dagmar Biller, die Geschäftsführerin von Tangram International: „Die Zeiten, in die Branche einzusteigen, waren noch nie so gut wie jetzt.“ Denn: „Nachwuchs“ werde gesucht - zum Beispiel, weil, wie die SWR-Dokumentarfilmredakteurin Mirjam Dolderer sagte, „es ein Bewusstein dafür gibt, dass wir Zuschauerschaften erreichen müssen, die wir verloren haben oder nie hatten“.
Wie man bisher vernachlässigte Zuschauerschaften erreicht - darum ging es unter einem anderen Fokus auch in einem Impulsvortrag von Anna Koktsidou, der Beauftragten für Vielfalt und Integration beim SWR. „Menschen zu erreichen, die bisher nicht im Fokus standen, geht nicht einfach nur so, weil wir es nun beschlossen haben“, sagte sie. „Menschen, die bisher wenig partizipiert haben, müssen davon überzeugt werden, dass das Angebot nun ehrlich gemeint ist. Dass es nicht nur um ‚Colourwashing‘ geht, sondern um einen neuen Blick auf die Gesellschaft.“
Darüber hinaus verband Koktsidou einen Appell an die Verantwortlichen in den Sendern mit einem persönlichen Rückblick: „Als ich anfing, konnte man uns tatsächlich mehr oder weniger an einer Hand abzählen, auch wenn wir uns in der ARD nicht immer persönlich kannten, so wussten wir ganz häufig voneinander“, sagte die 1962 in Griechenland geborene Integrationsbeauftragte. „Das hat sich geändert. Der Nachwuchs ist längst da. Wir müssen ihn aber auch halten. Ihn aufbauen, fördern. Damit er auch bleibt.“
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