#Tilman Otter
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2023
Geldbündel
Im Jahr 2023 verstirbt meine Schwester in den USA. Ich reise hin, um zu regeln, was halt in solchen Fällen so zu regeln ist.
Ich muss eine Menge Leute und Sachen bezahlen. Die Putzfrau, die ihren Lohn noch nicht bekommen hat, das Entrümpelungsunternehmen, Geld hier und Geld da, was noch fällig ist. Auf das amerikanische Konto meiner Schwester werde ich noch lange, lange keinen Zugriff haben. Kreditkarten akzeptiert kein Mensch. Auf die Frage, wie ich bezahlen kann, ist die Antwort jedes Mal: Scheck, Scheck, Scheck. Aber natürlich kann ich auch keine amerikanischen Schecks ausstellen.
Es endet damit, dass ich wie Walter White selig mit dicken Bündeln grüner Dollarnoten umhergehe, und allenthalben Stapel davon auf Tische zähle. Nur der Gärtner - er hat das Grundstück, das während der Krankheit meiner Schwester ein wenig abenteuerlich geworden ist, aufgeräumt - akzeptiert eine Zahlung per PayPal.
(Tilman Otter)
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1983 - 1997
Musik im Auto: Die wilden Achtziger
Von 1983 bis 1997 bin ich, mit Unterbrechungen, stolzer Besitzer einer Folge mehr oder weniger schrottiger Altautos. Alle haben Radios, in allen installiere ich einen Cassettenspieler, um „meine eigene Musik“ hören zu können. In den ersten Jahren haben die billigen Cassettenspieler (und nur solche kommen für mich in Frage) typischerweise zwar einen schnellen Vor- jedoch keinen Rücklauf. Wenn man also dasselbe Lied wieder und wieder hören möchte, hilft nichts als: Cassette auswerfen, umdrehen, andersrum wieder einlegen, schneller Vorlauf, bis man meint, dass weit genug zurückgespult ist, dann wieder auswerfen, wieder drehen, wieder einlegen, und horchen, ob man an der richtigen Stelle ist. Man entwickelt ein lässiges Geschick darin, Cassetten furios auszuwerfen (der entsprechende Bedienungsknopf funktioniert mechanisch, die Heftigkeit des Knopfdrückens korreliert mit der Heftigkeit des Auswurfs), sie mit einer Hand aufzufangen, sie in derselben fließenden Bewegung herumzuwirbeln und genauso fließend wieder einzulegen.
Allenthalben wird man gewarnt, Cassetten vor Schmutz, Hitze und Kälte zu schützen, papperlapapp. Die Cassetten liegen jahraus, jahrein im Auto, normalerweise hüllenlos in Dreck und Zigarettenasche (wenn man alles mit einer Hand bedienen muss, verlieren Cassettenhüllen rasch an Bedeutung). Das halten sie aus. So lange eben, bis sie es nicht mehr aushalten, aber es geht meistens verblüffend lange gut.
(Tilman Otter)
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Juni 2016
Einstieg in Fahrtrichtung rechts
Zum ersten Mal bin ich in England mit einem rechtsgelenkten Mietwagen unterwegs. Das Linksfahren macht nach kurzer Eingewöhnung eher wenig Mühe, außer am ersten Abend, als ich auf engen englischen Landsträßchen unterwegs bin – ich habe noch kein rechtes Gefühl für den linken Straßenrand. Zuerst geht es sehr gut, weil ich den linken Außenspiegel zur häufigen Blickkontrolle habe, aber nach Einbruch der Dunkelheit wird es ziemlich nervenaufreibend.
Irgendwann während des Urlaubs kaufe ich in einem kleinen ländlichen Dorfladen ein, die Parkplätze im verwinkelten Dorf sind sehr knapp. Da ich wirklich nur ganz kurz brauche, stelle ich das Auto mit einem optimistischen Da-werden-die-schon durchkommen-falls-überhaupt-einer-kommt-Gedanken ab und eile in den Laden.
Aber als ich herauskomme, hat sich ein kleiner Stau von schlechtgelaunten Autofahrern gebildet. Mit entschuldigenden Gesten rase ich zum Auto, schmeiße meine Einkäufe hinein, werfe mich auf den Fahrersitz und – AAAAAARGH DIE REALITÄT LÖST SICH AUF – das Zündschloss, das eben ganz sicher noch da war, ist weg, desgleichen Lenkrad und Pedale. Ich blicke nach rechts. Dort sind die vermissten Teile. Ach so. Klar. Falsche Seite.
Auch nach zwei weiteren Mietwagenurlauben in England bleibt es dabei – links fahren ist nicht so schwer, aber auf der korrekten Seite einzusteigen, bleibt ein gelegentliches kleines Problem.
(Tilman Otter)
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2023
Vortragstechnik und Maniküre
Mehrmals habe ich im Techniktagebuch schon vermeldet, dass der Overheadprojektor im deutschen Schulalltag schwer totzukriegen war, hier, hier, und auch hier.
Nun aber scheint es zu doch zu passieren. Nachfolger ist der Visualizer, eine eigentlich naheliegende Konstruktion - eine geeignete Kamera wird auf eine Fläche gerichtet, auf der man allerhand Schrifstücke, Bilder oder sonst Zeug ablegen kann, und das Ergebnis wird dem Auditorium durch einen Projektor oder Großbildschirm präsentiert.
Zwei befreundete Lehrerinnen loben die neue Technik, die sie erstmals im Unterricht als ebenso praktisch empfinden wie den alten Overheadprojektor. Einziger Nachteil: Man muss peinlich auf seine Maniküre achten, denn bei der Bedienung muss man ständig unter die Kamera greifen, dabei werden die eigenen Finger riesig und gestochen scharf auf dem Bildschirm gezeigt; und wenn Fingernägel oder Nagelbetten irgendwelche Schwachstellen aufweisen, judgen einen die Schülerinnen und Schüler gnadenlos dafür.
(Tilman Otter)
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5. April 2023
Ein Stempel als Atavismus
Die Stadtbibliothek schickt mir einen papiernen Brief mit der Post; mein mildes Interesse beim Öffnen verwandelt sich in heißen Schrecken, als ich das Schreiben lese.
Wie sich herausstellt, habe ich in dieser Sache bereits drei E-Mails erhalten, eine Terminerinnerung und zwei Mahnungen, die aber alle als Spam klassifiziert und in einem nie gelesenen Ordner untergebracht wurden. Ehrlich gesagt hatte ich mich schon gewundert, dass ich gar keine Nachricht wegen der Rückgabe dieser Hörbücher bekomme, und mir fest vorgenommen, mal nachzusehen, wann sie fällig sind. Aber natürlich habe ich das dann wieder vergessen.
Trotz angeborener Vergesslichkeit und Unordnung bin ich es nicht gewohnt, so scharfe Mahnungen zu bekommen – eilig gebe ich die Medien zurück, und versuche, die Bibliothekarin davon zu überzeugen, dass ich aber trotzdem ein guter Mensch bin; was diese aber gar nicht so arg interessiert. Außerdem weise ich Thunderbird an, Mails von der Stadtbibliothek künftig prominent und rot eingefärbt zu präsentieren.
Wirklich verwunderlich finde ich jedoch das rot eingestempelte Datum der Nachfrist. Selbstverständlich ist der Rest der Mahnung, samt Liste der fälligen Medien, automatisch per Computer erzeugt worden - aber wäre es nicht in jeder Hinsicht einfacher , auch dieses Datum mit auszudrucken, anstatt es hinterher einzustempeln? Drei mögliche Erklärungen fallen mir ein:
1. Es ist kein Geld da für einen Farbdrucker, und man findet es pädagogisch wichtig, das Datum in rot darzustellen.
2. Es ist in Wirklichkeit mit ausgedruckt worden, und ein fancy Bibliotheksprogramm setzt das Datum extra schief und mit mühsam errechneter stempeltypischer Ungleichmäßigkeit ein, weil Psychologen herausgefunden haben, dass die Mahnung eindringlicher wirkt, wenn es so aussieht, als habe sich ein Mensch damit befasst.
3. Der Arbeitsschritt ist beim Streamlinen des Mahnprozesses einfach übersehen worden und übriggeblieben.
Ich muss mal nachfragen. Allerdings bin ich, seit ich bei langen Autofahrten großenteils von Hörbüchern auf Podcasts umgestiegen bin, nicht mehr so oft in der Bibliothek.
(Tilman Otter)
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Seit etwa 1970
Gaslicht 2: Das trügerische Shangri La
In den siebziger Jahren bin ich Schüler, und Familie Otter fährt mindestens einmal jährlich in den Campingurlaub; anfangs noch mit einem Hauszelt, später mit einem kleinen Zeltanhänger der Marke Alpenkreuzer. Abends sitzt man oft vor dem Zelt, im Schein einer fauchenden Gaslampe, und spielt Rommee. Die Geruchssymphonie enthält mindestens: unverbrannte Gasreste, verbrannte Insekten, den Rotwein der Eltern, plus die Gerüche, die der Süden von sich aus hat, die Kräuter, gegebenenfalls das Meer.
Später, als junger Erwachsener, mache ich völlig andere Urlaube – wenn dabei Camping eine Rolle spielt, dann auch ein Rucksack, und die Mitnahme einer Gaslampe verbietet sich alleine aus Gewichtsgründen.
Noch später habe ich selbst Frau und Kinder. Aus verschiedenen Gründen ist diese neue Familie weitaus weniger campingaffin als meine ursprüngliche; aber die Situation «an einem Sommerabend spielend vor einer provisorischen Behausung sitzen» kommt doch immer mal wieder vor; und irgendwie ist es für mich klar, dass man dazu eine Gaslampe benötigt. Also beschaffe ich eine.
Leider muss ich feststellen, dass sie erstens ein gleißendes Licht mit ausnehmend hässlicher Spektralverteilung, und zweitens einen zischenden Heidenlärm verbreitet. Im Nachhinein muss ich mir Rechenschaft ablegen, dass ich beides irgendwie wusste; aber als Kind trat es für mich hinter der Idylle der Situation völlig zurück. Nun aber finde ich keinen Ansatzpunkt, um die Gaslampe gegen den entsetzten Protest meiner Frau zu verteidigen. Überhaupt brauche ich nur Sekunden um feststellen, dass die Romantik der Kindheit durch Gaslicht keineswegs zurückkehrt. Stattdessen entstehen neue Beschaulichkeiten mit neuen Triggern, die weder Zischen noch Gasgeruch benötigen. So entpuppt sich die Gaslampe als trauriges Missverständnis und fristet ihr Dasein im Keller.
(Tilman Otter)
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März 2023
Boomers meet VR
In Tübingen besuchen meine Frau und ich das Museum im Hölderlinturm, ein hübsches altes Haus am Neckar, in dem Friedrich Hölderlin die letzten Jahrzehnte seines Lebens gewohnt und gedichtet hat (naja, fast jedenfalls – es ist zwischenzeitlich mal abgebrannt und so ähnlich wieder aufgebaut worden). Es enthält viele Gedichte und Dokumente, teils als papierne Faksimiles, teils interaktiv auf Touchscreens. Das einzige so richtig dreidimensionale Exponat scheint ein Tisch zu sein, an dem Hölderlin gedichtet und mit der linken Hand die Gedichtrhythmen geschlagen haben soll.
Aber sieh an, als wir das oberste Turmzimmer betreten, finden wir doch noch etwas Dreidimensionales: mit Hilfe einer VR-Brille kann man dieses Zimmer erleben, wie es zu Hölderlins Zeiten ausgesehen haben mag. Die Benutzung ist nur unter Anleitung und Aufsicht eines Museumsmitarbeiters erlaubt, der uns die Handhabung erklärt. Man trägt die Brille, die einem das Bild einspielt, dicke schwere Kopfhörer, und in der rechten Hand einen Stab mit einigen Bedienungstasten, mit dem man nach etwas Probieren halbwegs intuitiv eine virtuelle Hand steuern kann. Wie es so in der virtual reality ist, ist man für die wirkliche Welt blind und beinahe taub; dem Museumsmitarbeiter kommt daher neben der technischen Einführung auch die Rolle der behütenden Aufsicht zu.
Abwechselnd erkunden wir das virtuelle Zimmer. Vögel zwitschern, das Häusermeer vor den Fenstern ist verschwunden und offener Landschaft gewichen. Man kann die Fenster öffnen und sich hinauslehnen, und es gibt einige Möbelstücke und Gegenstände, die man in die Hand nehmen kann. Insgesamt eine recht zahme und beschauliche Art, zum ersten Mal die Freuden der virtual reality zu entdecken. Während ich ein Fenster öffnen und mich hinauslehnen will, höre ich, gedämpft durch die Kopfhörer, plötzliche eilige Schritte, meine Frau, die sich für mich entschuldigt, und den Museumsmitarbeiter, der versichert, es mache gar nichts – offenbar habe ich ihn auf der Suche nach dem Fenstergriff in die Ecke getrieben und war drauf und dran, ihn zu begrapschen.
Deutlich ungnädiger reagiert er, als später meine Frau die verschiedenen Tasten der “Hand” ausprobiert und dabei unversehens einen Rechnerneustart auslöst. Da fühlen wir uns aber wirklich unschuldig – bei einem Gerät, das dem Publikum zur Verfügung steht und zum Herumprobieren gemacht ist, sollte man doch eigentlich die Bedienungstasten laiensicher konfigurieren. Finden wir.
(Tilman Otter)
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Dezember 2022
Bunte Farben, scharfe Kanten
Meine Frau und meine 19jährige Tochter waren krank und sind auf dem Wege der Besserung. Beide fühlen sich erstmals wieder gesund genug, einen Film anzuschauen, aber nichts Anstrengendes; und ihre Wahl fällt auf Disneys “Dornröschen”. Das ist im Prinzip kein Problem - irgendwann wurde eine umfangreiche Sammlung gebrauchter VHS-Kassetten voller Disneyfilme in unseren Haushalt gespült, und auch der Videorecorder steht noch an Ort und Stelle. Ich wollte ihn rauswerfen, als der Flachbildfernseher bei uns Einzug hielt - ich kann den Zeitpunkt leider nur schätzen, vielleicht 2011 oder so - wurde jedoch von der Familie vor die Wahl gestellt, ihn entweder wieder benutzbar zu machen, oder aber die gesamte Disneysammlung auf moderneren Speichermedien herbeizuschaffen. Also beschaffte ich ein gar nicht billiges Kästchen, das den analogen Video-Output per Scartkabel erhält und über HDMI digital an den Fernseher weiterleitet.
Aber ach, es will nicht funktionieren. Offensichtlich ist die Cassette selbst hinüber, denn Bambi und Dumbo funktionieren einwandfrei -nur wenn man die Dornröschen-Cassette einlegt, tanzt beharrlich der Schriftzug “no signal” über den grauen Bildschirm.
Wir recherchieren daraufhin nach dem Film im Internet, finden eine Lösung, ihn auf unseren Fernseher zu holen, und die Damen sind zufrieden. Es sei, sagen sie, ein ganz neues Erlebnis gewesen, den bekannten Film mit richtig bunten Farben und messerscharfen Kanten zu sehen, und nicht das pastellfarbene Ungefähr, das abgenudelte Videocassetten zu bieten haben.
Ich selbst schaue gar keine Videocassetten mehr, besitze aber einige (sehr wenige) Filme auf Festplatte, die ich vor Jahrzehnten aus dem Fernsehprogramm auf VHS aufgenommen und später digitalisiert habe, weil ich sie liebte und sie partout nirgendwo sonst aufzutreiben waren. Von diesen Digitalisaten kenne ich die pastelligen aufgeweichten Bilder, die für VHS-Inhalte typisch sind, sehr gut.
(Tilman Otter)
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Etwa 1975
Hundert Lire
(Das ist eine Geschichte, die mir beim Aufschreiben dieses Beitrags ins Gedächtnis gespült wurde)
In Italien wird in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre – in mehreren Wellen, wenn ich mich recht erinnere - das Kleingeld knapp. Der Einzelhandel löst das Problem kreativ. Wenn der Händler kein Wechselgeld mehr hat, erhält man stattdessen Briefmarken, Telefonjetons, bisweilen auch Süssigkeiten. Das alles funktioniert irgendwie, aber als diese Geschichte sich um 1975 zuträgt, befinde ich mich mit Eltern und Geschwistern auf einem Campingplatz in Südtirol, und dort gibt es warme Duschen nur gegen den Einwurf von Hundert-Lire-Münzen, da ist nichts zu wollen. Diese werden daher, sobald man ihrer habhaft wird, ängstlich gehortet.
Ich werde zum Campingladen geschickt, um ich-weiss-nicht-mehr-was zu kaufen, und man schärft mir ein, auf jeden Fall mit einem Schein zu bezahlen, damit der ohnehin schon passable Vorrat an Hundertermünzen weiter vermehrt werden kann. Es kostet, oh, ich erinnere mich ganz genau, 600 Lire, und ich bezahle mit einem Tausenderschein. Der ältere Mann hinterm Tresen schaut auf. «Hast du kein Kleingeld?». Und als ich verneine, sieht er mir streng in die Augen und sagt: «Gib mir mal den Geldbeutel rüber». Das würde er heute nicht mehr versuchen, aber mit meinem elfjährigen Ich kann er’s machen. Er entnimmt meinem Geldbeutel sechs Einhundert-Lire-Münzen, und gibt mir alles andere zurück. Ich ziehe vollständig besiegt von dannen.
(Tilman Otter)
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August 2022
Der Mann, der auszog, um ein IT-Problem zu lösen, und mit einem Karabinerhaken zurückkam
Seit Jahren kämpfe ich mit dem Problem, dass USB-Sticks immer schlechter funktionieren und ganz häufig von Computern nicht erkannt werden. Wenn ich anderen Menschen davon erzähle und auf Zustimmung und Mitgefühl hoffe, ernte ich günstigenfalls Ratlosigkeit, ungünstigenfalls Amüsement, dass ich noch solche Uralt-Technik verwende.
Ist Linux schuld? USB-Stick-Viren? Nichts davon. Irgendwann komme ich dahinter. Der USB-Stick mit meinen Leib-und-Magendaten hängt an meinem Schlüsselbund, und letzterer zerrt mit seinem Gewicht an den Kontakten und macht sie unzuverlässig. Die Platine mit den USB-Anschlüssen an der Front meines Heim-PC hat er sogar irreversibel gekillt.
Seit ich den Stick mit einem Karabinerhaken am Schlüsselbund befestigt habe und bei Bedarf abnehme, existiert das Problem nicht mehr.
(Tilman Otter)
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1923, und die nächsten hundert Jahre
Das hintere Törle
Im Garten meiner Tanten gab es zwei running gags, die sich viele Jahrzehnte lang hinzogen: Die Betonschwellen, die sich ebensowenig entfernen ließen wie das Gemälde des froglike little man im Büro des britischen Premierministers bei Harry Potter; und das hintere Törle.
Das hintere Törle führte von der Rückseite des Hausgrundstücks hinaus auf eine kleine Straße und wurde selten benützt. So lange ich denken kann, war es immer schief und ließ sich nicht richtig schließen. Es war immer zugebunden, mit einem Seil, einem Fahrradschloss oder was gerade zur Hand war.
Mindestens zwei Mal wurde das hintere Törle durch ein neues ersetzt, durch einen der diversen handwerklich begabten Männer, die meinen Tanten im Lauf der Jahrzehnte in Haus und Garten zur Hand gingen. Jedes Mal begann es nach wenigen Wochen, schlechter und schlechter zu schließen, und bald war es wieder zugebunden. Ähnlich wie bei Schlankheitskuren war der anfängliche Erfolg jeweils ein großes Gesprächsthema und wurde ausführlich bejubelt, während man über die spätere Rückkehr zum status quo ante diskret hinwegging.
Auch unser heutiges Grundstück hat ein hinteres Törle. Es führt in den Wald und war seit vielen Jahren zugebunden, weil es nicht mehr zu schließen war. Die Familie unkte schon, das Hintere Törle an sich sei ein allgemeiner Topos in der Welt, und müsse immer zugebunden sein. Es sei einfach niemand bereit, an der Rückseite des Grundstücks den nötigen hohen Aufwand zu betreiben, um ein dauerhaft funktionierendes Gartentor herzustellen.
Vor einigen Wochen habe ich ein neues Hinteres Törle installiert. Von Ehrgeiz getrieben habe ich so tiefe Pfostenfundamente gegraben, dass ich selber erschrocken war, wie viel Beton sie geschluckt haben. Das neue Törle öffnet und schließt leicht und leise, dass es eine Freude ist. Ob damit der Fluch des Hinteren Törle besiegt ist, müssen die nächsten Wochen und Monate zeigen.
(Tilman Otter)
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Etwa 2000
Elektrisierende Nachbarschaft
Für kurze Zeit wohne ich mit meiner Frau in einem bezaubernden, aber auch ganz schön unpraktischen Häuschen. Das (damals) große Textilunternehmen unserer Stadt hat diese Reihenhäuschen Mitte des 19. Jahrhunderts für die Arbeiter gebaut, als man noch andere Vorstellungen von Platzbedarf, Schallisolierung und Privatsphäre hatte.
Der Nachbarschafts-Kuschelfaktor beschränkt sich, wie wir feststellen müssen, nicht auf akustische und visuelle Nähe, sondern hat auch eine elektrische Komponente. Eines Tages kommt nämlich der (sehr freundliche) Nachbar zur Linken, druckst ein wenig herum, und rückt schließlich damit heraus, dass er und seine Frau unter der Dusche manchmal - jedoch nicht immer - elektrische Schläge bekommen.
Da wir unser Häuschen (wie fast alle Nachbarn) mit viel Eigenleistung hergerichtet haben, schlägt mein schlechtes Gewissen sofort wild aus, auch wenn ich mir die Sache nicht erklären kann. Ich gehe mit dem Nachbarn durch unser Haus, und wir schalten alle möglichen elektrischen Verbraucher an und aus, während drüben seine Frau mit dem Handy unter der Dusche steht und sagt, ob sie was spürt*. Wir finden nichts.
Richtig erleichtert bin ich jedoch erst, als später am gleichen Abend die tatsächliche Ursache des Phänomens gefunden wird. Schuld ist der Nachbar zu unserer Rechten, dessen selbst installierte Außenbeleuchtung das Balkongeländer der gesamten Häuserreihe unter Strom setzt, der dann - glücklicherweise nur zum Teil - den Weg zurück in die Erde durch die nachbarliche Dusche findet.
(Tilman Otter)
*) Erst Jahre später kommt mir in den Sinn, dass dies wohl kaum die vom VDE empfohlene Art ist, solche Probleme anzugehen
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15. November 2022
Zeitenwende
Der 15.11.2022 ist ein Tag, den ich für die Annalen festhalten möchte. An diesem Tag wird mir zum ersten Mal in Deutschland verweigert, einen Bagatellbetrag bar bezahlen zu dürfen.
Ort der Handlung ist der Frankfurter Flughafenbahnhof, wo ich beim Umsteigen zwischen zwei ICE-Zügen eine Brezel und ein Getränk kaufen möchte. Der junge Mann in der Bude macht keine Anstalten, das Verlangte zusammenzutragen, offensichtlich hat er mich mit Kennerblick als Barzahler erkannt. «Wir nehmen nur Karten, kein Bargeld» sagt er träge. Leicht gereizt halte ich meine zuvor bereits gezückte Kreditkarte höher, so dass er sie sehen kann. Daraufhin wird er aktiv, rechnet den Verkauf ab und reicht mir sein Kartenterminal herüber, hält es jedoch so, dass er das Display mit der Hand verdeckt. Ich runzle die Stirn und frage, «Wie viel macht es denn?». Da muss er selber nochmal nachsehen, und lässt mich sogar gnädiglich einen Blick auf das Display werfen, ehe ich meine Karte dranhalte.
Wenn man von mir erwartet, dass ich eine Zahlung blind autorisiere, fühle ich mich immer wie ein Kleinkind, Greis oder Suffkopp, der beim Bezahlen einfach sein Portemonnaie rüberreicht und darauf vertraut, dass die Gegenseite schon den richtigen Betrag rausnehmen wird. So weit werden wir bald genug sein, aber noch nicht jetzt.
(Tilman Otter)
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Oktober 2022
Wir akzeptieren nur Dingsda-Karten
Ich betrete ein Restaurant in Bern. An der Tür empfängt mich ein großes Schild, dass keine Kreditkarten und keine Debitkarten akzeptiert werden. Bezahlung ist nur möglich mit EC-Karte, Twint, oder in bar.
Ich schicke mich an, den Laden wieder zu verlassen. Da aber ausser mir im Moment kein Gast zu sehen ist, läuft der Besitzer mir nach. Ich erkläre ihm, dass ich keineswegs aus Ärger weggehe - es ist nur so, dass ich nur undeutlich weiß, was Twint überhaupt ist, Bargeld habe ich nicht genug dabei, und EC-Karten gibt es bekanntlich seit 2002 nicht mehr.
Jaja, schon klar, antwortet er, mit EC-Karten meint er halt diese Dingsda-Karten, die die Banken herausgeben. Das dachte ich mir zwar, aber meine schweizerische Bank hat die Dingsda-Karten seit einigen Monaten durch Visa-Debitkarten ersetzt, und Debitkarten stehen auf seiner Negativliste.
Ja doch, sagt er, Debitkarten, welche Dingsdakarten ersetzen, sind natürlich okay. Ich solle mich doch hinsetzen.
Da er sich so immense Mühe mit mir gibt, lasse ich mich breitschlagen und setze mich hin. Nicht sonderlich gerne, denn ich bin geschäftlich unterwegs, und Spesen, die ich bar oder mit Dingsdakarte bezahle, verursachen mir später ungefähr zehnmal so viel Abrechnungsaufwand, als wenn ich die Firmenkreditkarte benütze.
Es gibt einen Teller Pampe, irgendwie Bio und fremdländisch, der nicht wirklich schlecht schmeckt und 38 Franken kostet, und nur ein bisschen faserig zwischen den Zähnen hängenbleibt.
Als ich schließlich flüchten kann, sind immerhin zwei weitere Gäste da.
(Tilman Otter)
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Seit etwa 1969
Eine kurze, völlig subjektive Kulturgeschichte des Einkaufswagens
Meine Erinnerung setzt Ende der Sechziger Jahre ein. Ich kann mich an einen altmodischen Kaufladen erinnern, in dem man noch an der Theke bedient wird, aber das ist ein Schreibwarenladen. Im Lebensmittelhandel hat die Selbstbedienung bereits vollen Einzug gehalten. Es handelt sich um ziemlich kleine, enge Selbstbedienungsläden, wie man sie 2022 auf dem Land noch gelegentlich findet. Die Kunden tragen die Waren in eckigen Drahtkörben zur Kasse. Nur in einigen etwas größeren Läden findet man auch Einkaufswagen. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass meine Eltern sie je benützt hätten – sie haben die zeittypischen kleinteiligen Einkaufsgewohnheiten mit sehr häufigen, kleinen Einkäufen, es ist einfach nicht notwendig, sich einen Wagen zu nehmen, und es wird, glaube ich, als schwerfällig und sperrig empfunden.
Das ändert sich erst, als die ersten großen Einkaufszentren am Stadtrand öffnen, wo man mit dem Auto hinfährt, und der einzelne Einkauf deutlich größer wird. Es muss 1969 oder 1970 sein, denn ich erinnere mich genau, noch mit einer Kindergartenerzieherin über die Lustbarkeiten der neuen Riesenläden gesprochen zu haben. Hier werden Einkaufswagen – man empfindet sie als dekadent riesig, denn in den kleinen Läden sind natürlich auch die Wägen kleiner – zum Standard. Nach dem Bezahlen packt man seinen Einkauf in Taschen und trägt ihn zum Auto. Bis eines Tages in den Kassenzonen Schilder hängen:
“Sie dürfen mit den EINKAUFSWAGEN gerne bis zu Ihrem Auto fahren. Wir holen die EINKAUFSWAGEN zurück!”
(Die zweimalige Hervorhebung des Wortes EINKAUFSWAGEN wundert mich schon damals)
Das ist eine unerhörte Neuerung! Vorher wäre es ein Unding gewesen, mit dem Einkaufswagen den Laden zu verlassen, es kam einem einfach nicht in den Sinn, Einrichtungsgegenstände mit hinauszunehmen. Da es aber ungeheuer praktisch ist, bürgert es sich sehr schnell ein. Den leeren Einkaufswagen wild irgendwo stehen zu lassen, ist nicht nur geduldet, sondern sogar ausdrücklich gewünscht, schliesslich ist den Betreibern daran gelegen, dass die Kunden sich sauwohl fühlen sollen. Bagatellunfälle mit im Wege stehenden oder entlaufenen Einkaufswagen sind an der Tagesordnung, aber man nimmt das in Kauf.
Irgendwann in den Achtziger Jahren scheint bei den Betreibern der Einkaufszentren Reue einzusetzen, dass man die Vereinzelung der Einkaufswagen auf dem Parkplatz geduldet und sogar gefördert hat. Da man aber seinen Kunden nicht gut Verhaltensweisen verbieten kann, die man zuvor aktiv eingeführt und beworben hat – schließlich kann man Kunden auf breiter Front weder beschimpfen, noch beschämen, noch ihnen mit dem Gesetz drohen - halten Sperrkette und Pfandmünze Einzug.
(Tilman Otter)
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Januar 2022
Ich schick dir nen Strich
Homeoffice. Ein Kollege fragt mich per Teams, ob er in unserer Firmendatenbank eine Abfrage bauen kann, die in einer einzelnen Abfragezeile eine Oder-Verknüpfung realisiert.
Ja, antworte ich ihm, verbinde die beiden Bedingungen einfach mit einem senkrechten Strich; und da der Zeichensatz diverse senkrechte Striche enthält, beschreibe ich ihm gleich, wo auf der Tastatur er den richtigen findet, sicherheitshalber für deutsche und Schweizer Tastaturen.
O weh, sagt er, denn er hat irgendeine sinistre ungenormte Tastatur.
Kein Problem, antworte ich, ich schick dir den richtigen Strich zum copyundpasten: |
(Tilman Otter)
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