In Reichweite
The only way to get rid of a temptation is to yield to it.
- The Picture Of Dorian Gray, Oscar Wilde
I
Marios öffnete seinen schweren Ranzen und zog das Messer hervor. Wir waren in der Schule, dorthin hatte er es mitgebracht. Damals war er zehn, ich neun Jahre alt. Wir waren Kinder, nicht mehr, was sonst. Beim Anblick des Messers erschrak ich. Sein Schulranzen war dunkelblau und hatte orange Reflektoren in Warnfarbe an den Außenseiten angebracht. Marios ließ die fettige Klinge des Messers unter einem spitzen Klicken herausspringen. Er drehte und wendete sie hin und her, die Klinge glänzte metallisch in der Mittagssonne. Wir standen im hintersten Eck des Pausenhofs, da wo der Betonplatz des Schulgeländes abrupt endete und in die kniehohe, grüne Sommerwiese mit der Birkenschonung überging. Dort fanden wir Schutz vor neugierigen Blicken, dort waren wir alleine und konnten in Ruhe die wildesten Theorien über die Geschichte des Messers erfinden. Wenn es irgendjemand damals darauf angelegt hätte, wir waren in keinem Augenblick sicher gewesen. Aber niemand nahm Notiz, wir waren Außenseiter, allen egal gewesen. Die giftgrünen Grasflecken auf meiner blauen Jeans, die ich an diesem Tag mit nach Hause brachte, trug ich mit Stolz.
Um 10:13 Uhr, wie immer zwei Minuten zu früh, ertönte der schrille Pausengong. Zu meiner Kommunion hatte ich eine rote Armbanduhr bekommen, die ich bis zu meinem verspäteten Übertritt aufs Gymnasium nur zum Schlafengehen ablegte; und das, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr richtig lief und das Glas über dem ovalen Ziffernblatt gesprungen und eingedrückt war – ein billiges Modell. Made in China stand in fetten, kleinen Druckbuchstaben auf der zerkratzten Nickelrückseite. Marios und ich machten uns zügig auf den Rückweg. In erster Linie war das mein Verdienst. Ich war es, der drängte, weil mich die Sache mit dem Messer nervös machte. Während der gesamten Zeit dort hinten bei den Birken, hatte ich Angst gehabt, entdeckt zu werden. Hatte mir die heftigsten Konsequenzen unserer Tat ausgemalt: Mein Vater, der informiert werden würde und Marios, der erneut für zwei Wochen zu seinem Taufpaten würde ziehen müssen, da zuhause alles vorne begann. Der Streit zwischen seinen Eltern, seinetwegen, der Seitenwechsel seines Bruders. Er war so ganz anders als ich, ist es noch heute, und schon immer gewesen. Mache sagten damals, er sei aggressiv. Aber aggressiv, das war das falsche Wort. Das stimme nicht. Vielmehr hatte sein Verhalten etwas Treibendes, etwas Nach-vorne-Strebendes. Ja. Vielleicht trifft es diese Umschreibung. Eine andere finde ich nicht.
„Du musst es in deinem Rucksack lassen.“, hatte ich Marios zugezischt und war mir auf diese kindliche Art ungeheuer dramatisch dabei vorgekommen. Als hinge die Welt daran, an diesem einen, dummen Messer.
„Ich bin nicht blöd. Lass mich nur machen“
Er rollte mit den Augen und strich sich durchs Haar, wie er es oft tat.
Er hatte zwei Finger auf seine Lippen gelegt und waren durchs hohe Gras in Richtung der Turnhalle gestackst. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht und brannte uns in den Nacken. Grillen zirpten im trockenen Gras. Von der Sonne geblendet, kniff ich die Augen zusammen. Als wir den Schulgang erreicht hatten und uns durch die Reihen der nach innen strömenden Schüler drängten, Marios ging voran, fühlte ich mich dem allen haushoch überlegen; da war ein Geheiminis zwischen uns, das Tiefe gab und unverwundbar machte. Ich schupfte ein kleines Mädchen zur Seite. Das Mädchen fiel der Länge nach auf den harten Kunststoffboden, der nach scharfem Putzmittel roch, ein paar weiße Kaugummis klebten in den Ritzen zwischen den Bodenplatten. Das Mädchen begann leise zu weinen. Wir sahen uns an und rannten.
Trotz dieser Überlegenheit verloren wir kein Wort mehr über das Messer. Die nächste Stunde war Sport. Ich hasste die Sportstunden. Zu dieser Zeit war ich ein untersetzter Junge mit roten Haaren und Sommersprossen und obendrein 10 Zentimeter kleiner als meine Mitschüler, sodass ich oft für einen Schulanfänger gehalten wurde und die Lehrer mich auf den anderen Schulhof, den Innenhof der Schule schickten, der den zwei ersten Jahrgangsstufen vorbehalten war. Neben Marios musste ich ein schwächliches Bild abgeben. Dürr, blondhaarig, mit sichtbaren Zahnlücken und der Angewohnheit mit gekrümmten Schultern auf meinem Stuhl zu sitzen, wofür mich die Lehrer regelmäßig rügten. Marios war kräftig, böse Zungen hätten es womöglich gedrungen genannt; hatte dunkelgrüne und hellsichtige Augen und beim Gehen leichte O-Beine, was mir damals keinen Moment lächerlich vorkam, genauso wenig wie seine Jeans, die gewöhnlich zwei Nummern zu groß war. Nie hätte ich ein Wort darüber verloren. So sehr bewunderte ich ihn.
Nach der Schule lief ich gewöhnlich mit Marios nach Hause und aß mit ihm zu Mittag. Wenn wir das Haus betraten, stand das Essen gewöhnlich bereits auf dem Tisch, schon leicht abgekühlt, lauwarm. Kein Dampf mehr schwebte darüber. Es kam mit dem Lieferwagen, täglich eine halbe Stunde vor Schulschluss. Kein einziges Mal hatte ich die Küche in seinem Haus ernsthaft in Benutzung gesehen. Einmal in der Woche standen Pizzakartons auf dem Esstisch, ungeöffnet. An anderen Tagen Milchreis mit Zimt und Zucker, in kleinen, eingeschweißten Plastikpäckchen. Ich war zufrieden, auch wenn ich einen Rest Nervosität nie ganz abschütteln konnte. Wenn ich bei ihm war, ließ ich häufig meine Jacke an. Irgendetwas hielt mich davon ab, sie abzulegen. Das Gefühl, sofort wieder aufbrechen zu müssen. Wahrscheinlich war es zumindest diese Möglichkeit, die ich mir offen halten wollte. Etwas sagte mir, dass es ratsam war. Die Wohnblocks standen in Marios Straße so dicht an dicht, dass es auch während der Mittagszeit in der Wohnung nie richtig hell wurde. Quaderförmige Schatten lagen wie erschossen auf dem Teppichboden. Die Sonne prallte wie Schrotschüsse an den Fenstern ab. Die wenigen gerahmten Familienfotos an der Wand waren eingestaubt. Marios fünfjähriges Ich durchlöcherte mich von der Wand aus mit seinem leeren Blick, auf einem Steg sitzend, am Meer. Bestimmt in Griechenland. Auf Heimaturlaub. Auch heute starrte der Junge auf dem Foto wieder ins Weite. Damit musste ich jeden Nachmittag rechnen. Mit Sicherheit starrt er bis heute.
Wir saßen zu dritt am Esstisch. Über unsere Teller gebeugt, wechselten wir nur alle paar Minuten ein Wort. Marios, der seinen grellbunten Scout-Schulranzen und seine durchgelaufenen Nike-Turnschuhe in eine Ecke im Hausgang geworfen hatte. Ich, der ich mir beinahe feierlich und übervorsichtig die Schuhe von den Füßen gestreift und fein säuberlich, im rechten Winkel unter dem Wandspiegel aufgereiht hatte. Und Marios großer Bruder, der ein versteinertes Gesicht hatte, nach Sandelholz-Deo roch und von dem ich nicht wusste, ob er das Mietshaus jemals verlassen hatte, so blass war seine Haut und so tief, lila-bläulich schimmerten seine dicken Augenringe. Er hatte mit mir ein leichtes Spiel. Seit unserer ersten Begegnung war ich tief beeindruckt von ihm. Sein Hochwuchs, seine Schweigsamkeit und seine blattgrünen Augen, die sich hinter schwarzen Haarsträhnen versteckten, taten ihr Übriges dazu. Er deutete auf das Foto an der Wand: „Das ist der Tag an dem er weggelaufen ist und fast auf der Insel geblieben wäre.“
Ich sah Marios an, der grinste feixend.
In der Küche klirrte seine Mutter mit Tellern und Besteck. Die Spülmaschine brummte und gurgelte. Aus dem Augenwinkel sah ich die verkrusteten Pfannen, die sich auf der Anrichte stapelten und einige der scheinbar wahllos zusammengestellten Einrichtungsgegenstände der Wohnung: eine kitschige Nikolauskerze, die halb heruntergebrannt war, einen Abreiskalender mit irischen Weisheiten, einen Messerblock in der Form eines übergroßen Schweizer Taschenmessers und einen zerbrochenen Globus, aus dem eine brennende Glühlampe hervorlugte. Das Radio war gerade so laut aufgedreht, dass man zuhören, es aber ebenso gut ignorieren konnte. Marios Mutter sang schief und schrill, sie war immer eine Textzeile im Verzug, und schob ungeschickt und dabei auf der Stelle stehend ihr breites Becken hin und her, was wohl eine Art missglückten Tanz darstellen sollte. Es war ihr augenscheinlich egal, dass wir da waren, kaum dass sie uns an der Haustüre gegrüßt hatte. Sie lebte fernab, da war eine Weite, etwas wie eine Membran zwischen Marios und ihr. Morgens ging sie nicht außer Haus. Fuhr nicht zum Beispiel ins Büro, wie das meine Mutter sagte, um zu arbeiten. Die Betten waren gemacht, wenn Marios von der Schule kam, und wurden häufiger frisch bezogen, als das nötig gewesen wäre. Im Geschirrschrank glänzte das Porzellan und Marios bekam Geld zugesteckt, um sich Kleidung zu kaufen oder auf was auch immer er Lust hatte. Doch mehr als drei Sätze am Stück hatte ich sie noch nie reden gehört.
Marios schob seinen Teller von sich weg, als ekle er sich davor und stand auf. Ich verstand ihn nicht, wusste nicht, was er vorhatte. Normalerweise hätte er mich jetzt zur Tür begleitet. Nach den Essen waren unserer Treffen immer beendet. An diesem Tag war das anders.
„Kommst du mit?“, fragte er und wischte sich den Mund mit einem Ärmel seines ausgefransten Pullovers ab.
„Mit? Wohin? Dein Zimmer?“
Er lachte mich aus, als sei seine Frage eindeutig gewesen und ich nur schwer von Begriff. Dann schulterte er seinen Rucksack, kramte in verschiedenen Schubladen im Wohnzimmer, zog schließlich eine lange, schwere Armeetaschenlampe hervor. Die drückte er mir in die Hand. Die Batterien waren offenbar fast leer, denn als ich sie einzuschalten versuchte, brachte sie nichts als ein blassgelbes Flackern zustande. Marios bemerkte davon nichts und auch ich blieb stumm.
„Wofür ist die?“
„Frag doch nicht so doof“, er sah mich verständnislos an und kratzte sich am Kopf, „In den Wald kann man doch nicht ohne passende Ausrüstung gehen. Ist doch klar.“
Ich nickte.
So viel war klar.
Vorbereitung war alles.
Nur Vorstellungsvermögen (für das, was sich ereignen sollte), das fehlte mir.
Draußen war es taghell, sommerwarme Lichtstrahlen ergossen sich über die ruhige Wohnstraße. Der Himmel war blau. Ein Metallzaun schlängelte sich zwischen den quaderförmigen, grauen Wohnblocks hindurch. Von den Wäscheleinen im kurz geschnittenen Gras tropfte die nasse Buntwäsche. Die Taschenlampe baumelte mir noch immer nutzlos an einer Schnur ums Handgelenk. Außerdem trug ich eine Wasserflasche, ein paar Scheiben weißes Toast (als Proviant) und, da der Medikamentenschrank zugeschlossen gewesen war, Traubenzucker mit mir; der sah richtigen Medikamenten immerhin noch am ähnlichsten. Das Messer trug Marios selbst, mir hatte er das verboten. Wir ließen die Wohngegend hinter uns und stapften einen gekiesten Weg am Fluss entlang. In meinen Ohren rauschte es. Seltsam, dachte ich, ich wohnte so nahe am Fluss, aber nie nahm ich dieses Rauschen war. Solange nicht, bis ich am Fluss stand, direkt davor. Dann gab es nichts als Wasserrauschen und weiße Strudel zwischen den Steinbrocken, in denen sich mein Blick, beim Versuch ihnen zu folgen, verlor. Als sei Leben nur beständige Ablenkung von Wesentlichem. Nicht dass ich diesen Gedanken damals hätte so präzise formulieren können. Mit acht. Ich hatte andere Sorgen. Oder keine – wer weiß das.
Als wir aus dem Wald zurückkamen, jedenfalls, da war Blut an dem Messer. Ich schämte mich, aber fühlte mich gleichzeitig kein Stück weit schuldig. Schuld war Marios. Was hätte ich denn tun können?
In den folgenden Wochen sahen wir uns kaum.
Schwer zu sagen, ob ich einsam war oder mir nur vorstellte, es sein zu müssen. Aus Gewissensbissen. Ich machte lange Touren auf dem Rad, durch das trübe Marschland, wo die Schafe hinter den letzten Häusern am Ortsrand grasten und der Feldweg nach ein paar Kilometern an einem löchrigen Stacheldrahtzaun mit gelben Warnschildern endete, wo das amerikanische Militärgelände begann. Dorthin verirrten sich nur selten Spaziergänger mit ihren hechelnden Hunden.
Ich machte ein oder zwei Versuche, andere Freunde zu finden.
Doch das fühlte sich nicht sinnvoll an. So als versuche man, etwas zu ersetzen, von dem man sich zeitgleich einredete, dass man auch ohne gut über die Runden kommen könnte. Wozu also Ersatz? Vielleicht hatte ich das auch damals schon im Hinterkopf gehabt. Vielleicht waren meine Versuche deshalb zum Scheitern verurteilt.
Marios Mutter fand bald darauf einen neuen Mann, Marios damit einen Stiefvater. Marios meldete sich wieder bei mir, doch dieser Kontakt riss schnell wieder ab, war nicht von Dauer. Ich vermute, die erneute Heirat seiner Mutter ist auch das erste Mal gewesen, dass Marios mit zum Himmel schreiender Ungerechtigkeit, wie sie wohl jeder – das könnte im irischen Abreiskalender seiner Mutter gestanden haben, so platt ist es – einmal erfahren muss, konfrontiert wurde. Denn während Zwangsehen aufs Schärfste polizeilich verfolgt und vereitelt werden, verhält das sich mit neuen Vätern, die gegen den Willen mancher in die Familie eingebracht werden, ganz anders. Solche Gedanken machte sich Marios, der inzwischen elf geworden war und an die weiterführende Gesamtschule, einen dreistöckigen Betonquader, drei Straßen weiter gewechselt hatte. Dort hatte er sämtliche Altersprivilegien auf einen Schlag verloren. Ich merkte, wie er darunter litt, denn es fiel auf. Man sah es sofort – wie lange so ein blaues Auge brauchen konnte, um zu verheilen. Als liefe in Marios nun alles verlangsamt ab. Wie eingefroren. Jedes seiner Atome in Halbschlaf und Resignation. (Nostalgie?)
Ich machte in dieser Zeit eine andere Erfahrung, weniger schmerzhaft: Nie hat sich ein Handschlag jemals wieder so schrecklich unbeholfen angefühlt, wie jener mit der Direktoren der besagten Schule. Ich hatte zu einem Gespräch erscheinen müssen, in dem festgesellt werden sollte, ob ich, klein, schmächtig und verschüchtert, wie ich war, bereit sei für den Schulübertritt. Ihr aschgraues Haar war unförmig kurz geschnitten, hing bis auf Höhe der Schultern. Mir fielen ihre knochigen Finger auf, damals, als Kind schon; die vielen goldenen Armreifen, die klapperten, wenn sie sie in lehrbuchhafter Druckschrift einen mir unbekannten Bogen mit Füllfederhalter ausfüllte, nachdem sie sie zuvor innegehalten und sich mit der Zunge über ihre schmalen, farblosen Lippen gestrichen hatte, ihr eckiges, farbloses Kinn. Mich ekelten die Knochen ihres Schlüsselbeins, die spitz hervorstachen, nur von einer dünnen und fast durchsichtigen Schicht altersgegerbter Haut überzogen. Außer ihr, ich sah ihr während des gesamten Gesprächs keinen einzigen Augenblick in die Augen, hatte noch jemand im Raum gesessen. Im Nachhinein bin ich mir sicher, es muss ein Schularzt oder der Schulpsychologe gewesen sein. Er stellte mir Fragen zu meiner Familie. Ich tat als höre ich nicht, ich stellte mich dumm. Tierbilder? Wozu das denn? Wissen sie nicht wie eine Schlange aussieht? Oder ein Elefant? Der sieht aus…und zwar so… ich zeig es ihnen…
Falls es Taktik gewesen sein sollte, darüber bin ich mir nicht mehr sicher, dann ging sie auf. Mein Schulwechsel wurde auf das folgende Jahr verschoben und meine Eltern, Großeltern und Tanten schenkten mir vom einen Tag auf den anderen eine nie gekannte Aufmerksamkeit. Man saß bei den Hausaufgaben neben mir und erkundigte sich nach den Namen meiner Freunde, meinen Lieblingsbüchern, meiner Befindlichkeit, den Fußballergebnissen. Ich genoss dieses Im-Mittelpunkt-Stehen, vielleicht weil Marios mich ohnehin nicht mehr zu sich einlud.
Auf etwas muss ich nun noch zurückkommen: Das Blut. Das Blut, das einige Monate zuvor auf dem Messer geklebt hatte. Keiner von uns hatte es vergessen. Noch schlimmer: Es gab Mitwisser. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses feste Gerüst des status quo kollabierte.
Da ist außerdem dieser alte, blass gewordene Traum, in dem ich an einem Strand entlangwandere. Allein. Jeder Schritt ist wie durch Schlamm, meine Gliedmaßen sind bleischwer wie vollgesogene Kleider. Ich lege mein dünnes Hemd, meine Leinenhose in den Sand und gleite ins seichte Wasser. Ein paar kräftige Schwimmzüge: Schon fünfzig Meter vor der Küste wird die Strömung ungeheuer stark, etwas fasst mich. Etwas will mich hinausziehen. Was ist es? Panik überkommt mich. Salziges Wasser schlägt über meinem Kopf zusammen. Ich schaffe es ans Ufer zurück, schlucke Salzwasser. Ich würge, muss mich erbrechen. Der Tag ist grau und diesig. Ich bleibe im Sand liegen, der kalt und rau über meine fiebrige Haut schabt. Ich bin in Sicherheit. Auf meiner Zunge der metallische Geschmack von Blut. Und plötzlich wirft der weiße Sand turmhoch wogende Wellen. Ich bekomme keine Luft mehr. Und es ist der Sand, der mich schlussendlich begräbt, kein Wasser.
Vielleicht hätte der Traum mich eines Tages losgelassen. Ich hätte ihm nur nachgeben müsse. Was bedeutete er?
Mit unserer improvisierten Ausrüstung waren wir an diesem Frühsommertag vor Jahren also in den Wald am Fluss gelaufen. Das Messer war in Zeitungspapier gewickelt. Das zerknitterte Unternehmergrinsen eines weißen, US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten prangte verschmitzt an der Stelle, an der das Papier um den schwarzen Messergriff gewickelt und sorgfältig doppelt eingeschlagen war. Wir verließen den Kiesweg mit den Spaziergängern mit ihren Hunden und schlugen uns durchs verwachsene Unterholz. Der Fluss war kaum mehr in Hörweite. Gedämpftes Sonnenlicht brach durch das satte Grün der Zweige. Das weiche Moos unter unseren Füßen gab mit jedem Schritt etwas nach. Die Luft roch frisch und angenehm kühl und feucht. Vereinzelt blitze noch Himmelblau zwischen den Baumkronen hindurch. Auf dem Waldboden flimmerten gelbe Lichtflecke vor unseren Augen. Irgendwo bearbeitete ein Specht knorrige Baumrinde, Vögel sangen, es raschelte und vor meinen Augen schwirrte eine graue Wolke aus Mücken. Mir fiel es schwer, mit Marios Schritt zu halten, das war jedoch nicht der Grund, weshalb mein Herz so schnell und heftig jagend schlug und ich unwillkürlich zittern musste. Das war etwas anderes. Was war es?
Da stolperte ich über eine Wurzel und fiel hin, schlug mir das Knie an einem moosbewachsenen, scharfen Stein auf und unterdrückte die Tränen. Marios stand über mir und lachte schallend. Gerade als ich aufspringen und auf ihn losgehen wollte, da, als habe er es geahnt, reichte er mir versöhnlich die Hand. Ich ignorierte es und half mir selbst auf die Füße. Einen Moment lang stand er noch so da, mit hervorgestreckter Hand und einem Ausdruck, der mir fremd vorkam. War es Angst? Das konnte nicht sein. Reue? Oder eine böse Vorahnung? Hilflosigkeit, sich selbst gegenüber? Ohne ein Wort zu wechseln gingen wir weiter. Ich atmete schwer. Noch immer baumelte die Taschenlampe um meine Hand und schlug immer wieder auf das Holz der Baumstämme, die je weiter wir gingen enger und enger beieinander standen. Irgendwann nahm Marios sie mir wortlos ab, versuchte sie anzuschalten. Natürlich passierte nichts und auch er ließ sich davon nichts anmerken. Die ersten Hundertmeter hatte ich Vorsprung, doch dann holte er mich ein und am Ende lief Marios erneut voran, gut dreißig Meter vor ihn, seine Umrisse, das Blutrot seines Fußball-T-Shirts verloren sich mehr und mehr im Labyrinth der wogenden Baumstämme. Da ich Angst bekam, ihn zu verlieren, beschleunigte ich meine Schritte, schluckte meine Wut herunter. Ich hatte Rückenwind und eine Zeitlang vergaß ich den tönenden Wald und das blattgrüne Unterholz um mich herum völlig.
Das nächste, an das ich mich erinnern kann, sind quiekende, tierische Schreie. Das splitternde Geräusch einer auf Knochenmaterial niedergehenden Faust.
Marios, der mit aller Kraft nach seinem Bruder ausholt. Wieder und wieder. Er wischt seine blutende Nase am Ärmel seine T-Shirts ab. Versucht erneut zuzuschlagen, sich zu wehren. Doch sein Bruder ist stärker, weicht seiner Kinderfaust aus, dreht seine Arme hinter seinen Rücken und zerrt ihn weg, durchs dichte Holz. Und da ist plötzlich der mich durchzuckende Gedanke, dass Marios es verdient haben könnte. Ohne Zweifel, es war gut so gewesen. Denn er hätte schon damals Hilfe gebraucht. Nackt sein – unter einem atemlosen, bleiblauen Himmel. In Reichweite bleiben zu den Menschen.
Am Abend sah, am Fenster liegend, ich eine braun getigerte Katze vom Waldrand kommend durch das Rosenbeet unseres Gartens hinken. Sie schleifte ein Bein hinter sich her. Ich wurde eingeholt: Die Bilder des Nachmittags kamen erneut zu mir zurück.
II
Marios hatte seit dem Schulwechsel auch an den Nachmittagen Unterricht, während ich schon gegen 12 oder 13 Uhr nach Hause gerannt kam. Ich rannte, um fernzusehen zu können, bevor meine Mutter, halbtagsbeschäftigt, nach Hause kam und mich nach draußen zu schicken versuchte. Das neue Schuljahr, das für mich reine Wiederholung war, langweilte mich. Es fiel mir schwer meine Augen offen zu halten und wenn ich gegen 15 Uhr meine Hausaufgaben erledigt hatte, fühlte ich mich ebenso nutzlos wie in der Schule. Die ständige Betreuung an den Nachmittagen hörte so plötzlich auf, wie sie begonnen hatte, und ich war allein und konnte sehen, tun und lesen was ich wollte. Meistens sah ich fern, aß Lasagne aus der Mikrowelle und in diese Zeit muss auch meine Aufklärung gefallen sein – unbeaufsichtige Nachmittage, voller betäubtem Spieltrieb und Orientierungsverlust. Ich kundschaftete die Gegend um das Militärgelände aus und baute mir ein Lager im Wald. Einen Unterstand aus Blattwerk, in dem ich ein ausgemustertes Fernglas deponierte. Nach ein paar Wochen fand ich mein Lager zerstört vor und das Fernglas war in seinem Versteck durch zwei moosige Steine ersetzt worden.
Marios hatte mir verboten, ihn von seiner neuen Schule abzuholen. Natürlich tat ich es trotzdem. Was ich dort sah, veränderte uns.
Da stand er und wirkte mit einem Mal klein. Um ihn herum standen einige Jungen, ich schätze sie waren 14 oder 15 Jahre alt, hochgewachsen. Ein paar von ihnen rauchten, ich sah in ein Gesicht voller schiefer Zähne; als ein Mädchen zu husten begann, lachten sie.
„Wie kann das dein Vater sein, wenn dein Haar so schwarz ist? Seines ist blond, das sieht ja wohl jeder. Erklär das.“
Ein ausgeschlagener Schneidezahn auf der Jungen-Toilette.
Bluttropfen auf dem Schulgang.
Ein unterdrückter Würgereflex.
Dieser Uringeruch auf Marios blauer Jeans, den ich nicht ausblenden konnte. Nicht einmal ihm zuliebe.
Blaulicht. Martinshorn. Weit in der Ferne, verhallend.
Die Zeit verging von selbst, aber eine Erklärung fand sich nicht. Erklär das! Diese zwei Worte hatten etwas in Marios Wirklichkeit, die auch zu dieser Zeit noch Anteil an meiner Wirklichkeit hatte, verändert. Um nicht zu sagen: Zwei Worte hatten Marios Leben auf den Kopf gestellt. Auf was für einem wackligen Fundament es gestanden haben musste. Auf Stelzen, dünn wie Zahnstocher. Zerbrechlich im Gegenwind der Sommerstürme.
Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an mein Fieber im November. Ist das noch in meiner Geburtsstadt gewesen? Oder schon nach unserem Wegzug, weg von Marios? Ich erinnere mich, dass ich in meinem Stockbett gelegen hatte, im Halbschlaf, und auf der Straße vier Stockwerke unter mir die Signaltöne der Ampeln hören konnte, die alle gleichzeitig auf grün sprangen. Ein technischer Defekt, der zwei Leben kostete. Aber das erfuhr ich erst später. Sehr spät, zu meinem Glück.
Wie gesagt: Wir zogen um. In eine Bauhaus-Wohnung in der Nachbarstadt aus der die Pendler jeden Morgen in blauen Regionalzügen in meine Geburtsstadt zurückfahren und dabei in ihre zusammengefalteten Zeitungen und Playlists starren, so angestrengt, verbittert zähneknirschend als habe ihre eigentliche Arbeit bereits im auf der Hinfahrt begonnen. Mein Vater hatte in dieser Stadt eine Professur an der technischen Universität erhalten, die größte im Bundesland. Er sagte, es gehe um technische Chemie, ich nickte und begann dann sofort meine Bücher in braune Kartons zu stapeln, wobei ich Harry Potter in die unterste Ecke platzierte und Der Herr der Fliegen, Jugend ohne Gott und Das Bildnis des Dorian Gray ganz oben, gut sichtbar für meine Eltern.
Meinen Eltern sagte ich, dass mir der Umzug egal sei und ich deshalb mit ihnen komme. Das mache dann auch keinen Unterschied mehr.
Ein paar Wochen vor dem eigentlichen Umzug unternahmen meine Eltern mit mir einen Ausflug. Um sich zu akklimatisieren, wie mein Vater es halb scherzhaft nannte, um etwas Atmosphäre zu schnuppern. Als ich aus dem Zug stieg, stolperte ich über meine eigenen Füße und wäre beinah in den Gleisgraben gefallen. Damit begann es, dass ich die ganze Stadt zu hassen lernte. Obwohl sie eigentlich nicht besonders hässlich war, das Gegenteil war der Fall. Wir liefen an der von alten Bäumen beschatteten Flusspromenade entlang, schauten aufs grüne Wasser, das langsam dahinfloss, und meine Mutter erzählte von den teuren Hochschulen, die dort ihre Ruderbootrennen abhielten. Kafka war ein begeisterter Ruderer, wusstest du das? Mein Vater wiederholte wieder und wieder, wie hübsch die ganze Altstadt sei. Er sagte, stimmungsvoll. Aber wirklich etwas zu tun, gab es nicht. Ein klassizistisches Universitätsgebäude aus Marmor, Parkanlagen, eine gotische Kathedrale. Ein Museum für Naturgeschichte. Mich ödete es an, ich nahm mir vor, keinen Gefallen daran zu finden, ja, über die Schönheit der Altstadt hinwegzusehen. Unser Ausflug war also binnen einer Stunde beendet. Zuhause saßen wir auf dem Sofa, redeten nicht viel und sahen den ganzen restlichen Nachmittag fern: Die Tagesschau in der dritten Wiederholung. Welcher Vanillejogurt wohl mehr Vanille enthält? Ein Anschlag in Kabul. Der Bundespräsident tritt zurück.
Die Wohnung im achten Stock mit der Dachterrasse hingegen liebte ich. Auch wenn ich das niemals zugegeben hätte: Diese Wohnung, die ich fast für mich allein hatte, da ich sie untertags mit niemandem teilen musste. Eine Zeitlang verließ ich sie nur, um in die Schule zu gehen, aus Zwang. Die Stadt blieb mir lange noch fremd und verhasst und beinahe täglich verirrte ich mich im Gewirr der schmalen Innenstadtgassen, in denen es nach Abwasser und Essensresten roch, oder lief kilometerlang in die falsche Richtung am Kanal entlang. Trotzdem war ich zufrieden. Immerhin solange ich zu Hause war. Die meisten Kampfzonen waren befriedet. Ich hatte mich im Gefallen-Finden, in einer Art Ruhe verlaufen und niemals hätte ich damals geglaubt, dass es Marios schlecht gehen könnte. Wieso auch? Dieses Gefühl, dass man hatte, wenn man nach sechs Wochen Sommerferien Mitte September, ausgerüstet mit einem Arsenal an gespitzten Buntstiften und sauberen, strahlend weißen und unbeschriebenen Heften und in teurer, daunengefütterter Herbstbekleidung wieder zurück in die Schule kam, alles neu, in Statik und trotzdem aufregend war und hinter jeder Ecke Zuversicht und Spätsommer prangte – ich trug es wochenlang in mir. Von meinem Fenster aus blickte man auf die Promenaden und die spiegelnden Schaufenster der Boutiquen. In mein geräumiges, helles Kinderzimmer – Jugendzimmer – hängte ich an die frischgestrichene Wand eine übergroße Weltkarte, mit dem Plan, all die Orte, die ich in naher Zukunft, so der Entschluss, bereisen würde mit roten Stecknadeln zu markieren. Die Zukunft hatte ihren Grenzen nah an meine Zehnspitzen gesetzt, sie berührte mich fast, war nur um ein Haar entfernt, ich konnte ihre flüsternde Wärme spüren. Durch das Fenster roch ich den Wind zwischen den Birnbäumen vor dem Haus und sah geradewegs in eine roten Abendsonne, die mich befürchten ließ, zu erblinden, so stark und tief schien sie in mein Zimmer hinein, auf mein Bettlaken.
Ein oder zwei Mal wachte ich an den Samstagen noch auf und wusste im ersten, schlaftrunkenen Moment nicht, wo ich war. Tastete erschrocken, noch mit halbgeschlossenen Lidern die Wände nach einem Fenster ab, das ich nicht fand, da es in meinem alten Zimmer direkt neben dem Bett gewesen war. Aber auch das legte sich, Gewohnheit hatte die Gabe vieles erst erträglich und zum Schluss sogar angenehm zu machen.
Über all dem vergaß ich Marios und ich glaube bis heute nicht, dass es einen Grund gibt, sich dafür schuldig zu fühlen. Man muss eben leben. Oder nicht? Man hat keine Wahl. Nur diesen Traum, den träumte ich noch immer. Und im Treppenhaus roch es eines Morgens eine Woche lang nach angetrocknetem Blut, nach Metall und nach feuchtem, fermentiertem Moos.
Rebecca lernte ich nach knapp einem halben Jahr kennen, ohne nach ihr gesucht zu haben. Rebecca, die ein merkwürdiges Deutsch sprach, weil sie so wie ich gerade erst in die Stadt gezogen war. Ihre Familie stammte ursprünglich aus den Den Haag. Rebecca, die zu mir in die letzte Reihe gesetzt wurde und deren Anwesenheit ich eine geschlagene halbe Stunde nicht bemerkt hatte, da ich mit dem Kopf auf der Bank geschlafen hatte, um der modellhaften Erklärung des Passatkreislaufs irgendwie zu entgehen. Die während der ersten Stunde in ihrer neuen Klasse, in einem neuen Land, eines der Poster von der Wand riss. Aus dem Grund, dass es eurozentristisch sei. Sie war ein Jahr älter als der Rest der Klasse, ich glaube, 15 Jahre alt. Nachdem wir bis zur ersten Pause wortlos nebeneinander gesessen und beide, immer wieder zum anderen hinüberschielend, so getan hatten, als würden wir gebannt dem Unterricht folgen, brach sie unser Schweigen wie hartes Brot, in Erkenntnis und Neuanfang mündend.
Sie verschränkte ihre Arme, lächelte kurz, die kleine Lücke zwischen ihren vordersten Schneidezähnen blitzte auf, die ich vom ersten Moment an anziehend fand. Sie war blass und hatte lockig schwarzes Haar, ein braunrotes tintenklecksförmiges Muttermal am Hals. Ihr gestricktes Oberteil ließ zwei nackte Stellen über ihren Schulterblättern frei und zwei rundliche Brüste zeichneten sich als kompakte Wölbung unter dem dunkelgrünen Stoff ab. Sie war fast einen Kopf größer als ich. Ich sah ihr in die Augen und erwartete, dass sie meinem Blick ausweichen müsste. Nichts dergleichen passierte. Sie hielt meinen Blick stand, bis ich mich verschämt abwendete.
Sie sagte: „Willst du hören, was ich denke?“
Und so ging ein Jahr – oder waren es nur Monate? – über helles Land, die in meiner Erinnerung auf wenige Bilder und Sequenzen heruntergebrochen sind. Ein impressionistisches Gemälde aus Augenblicken und Versuchung. Das Geld, das mir meine Mutter zusteckte, gab ich zum einen für Zugtickets aus, um Rebecca zu besuchen, die weit außerhalb wohnte; zum anderen sparte ich es, ohne dass sie das gewusst hätte, für Unternehmungen an, die ich insgeheim mit ihr plante. So verbrachte ich die Abende wenn möglich bei ihr und wenn wir nichts mehr hatten, über das wir reden konnte, tastete ich überspannt nach meinem Rucksack und zog den Busfahrplan hervor.
Was Rebecca dachte, das schrieb sie auf. Sie las mir vor und ich versuchte zu folgen: Spätnachmittags, auf ihrem Bett sitzend, die Arme verschränkt, und nichts verstehend. Es war Winter geworden. Der Heizkörper rauschte. Durch das halb offene Fenster zog kalte, schneefeuchte Luft. Immer wenn ich bei ihr war – und nur dann – erschien ihre Mutter in der Tür, um uns heißen Schwarzen Tee zu bringen. Ich verfluchte sie für diese hintersinnige Freundlichkeit und dafür, dass sie sich nicht wenigstens Mühe gab, ihre stündlichen Kontrollbesuche irgendwie zu verschleiern.
„Bei euch alles in Ordnung?“
„Ja. Alles in Ordnung.“
„Ich dachte, ich frag nur.“
„Schön.“
„Na dann.“
Ihre Mutter durchquerte das Zimmer und schloss das Fenster und plötzlich fühlte ich mich kurz eingeengt und fehl am Platz, als sollte ich genau in diesem Moment, zuhause bei meiner Familie sein. Oder wem auch immer. Ich bekam keine Luft.
Trotzdem konnte ich ihre Eltern gut leiden. Sie restaurierten barocke Kirchen im ganzen Westen Deutschlands, Belgien und den Niederlanden. Vielleicht kamen daher die übermäßigen Sorgen ihrer Mutter gegenüber mir. Aus einer Art Kompensationsreaktion, aus ihrem schlechten Gewissen heraus, denn oft waren sie beide in ihrem silbernen Mercedes-Lieferwagen tagelang verreist, um Restaurationsaufträge zu erledigen. Dann telefonierte Rebecca jeden Abend mit ihnen und log über ihre Schulnoten, das Wetter und über diesen Jungen, der sie auf dem Nachhauseweg von der Haltestelle aus in der Dämmerung verfolgt hatte. Der Junge entsprang in Wirklichkeit einer ihrer Geschichten, die in weichen Bleistiftstrichen abgefasst unter ihrem Bett lag. In einem Schuhkarton mit der Aufschrift Einzelne Socken.
Was noch zu erwähnen ist: Rebecca glaubte an Geister. Das war nichts, was ich damals irgendjemandem hätte erzählen können. Nicht meinen Eltern, die die Kampagne der FDP zur EU-Parlamentswahl unterstützten, Deregulierung predigten, und die Wochenenden auf Kongressen über Gaschromatografie verbrachten, wo mein Vater Fragen stellte, die den Vortragenden auf brutalste Weise aus dem Konzept brachten. Nicht den übrigen, losen Freundschaften, die ich zum Schein in der Schule pflegte oder dem Therapeuten, der mich, eine vierzigminütige Busfahrt entfernt, in der ich benommen auf die eingezäunten Vorgärten der symmetrischen Randwohngebiete starrte und mich weit weg wünschte, einmal in der Woche sehen wollte, weil meine Eltern das für nötig erachteten. Niemandem. Ich wollte nicht als verrückt dastehen. Geister: Ich hielt diese ihre Vorstellung ja selbst für verrückt. Warum mich damit belasten? Wenn der Wind irgendwo im engen Hausgang ihres Reihenhauses eines der Fenster zudrückte, die alten, hölzernen Dachbalken morsch und baufällig ächzten oder das Gemüsebett im Garten verwühlt war und nach Regen roch, dann führte sie das auf die Anwesenheit verborgener Kräfte zurück, eine entflogene Seele beispielsweise. Ich sagte, dass ich das für Unsinn hielt. Dass das doch völlig hirnrissig sei. Sie wollte das nicht zählen lassen. Da es mehr als eine Wirklichkeit gebe und ein Gedicht über das Meer, dir keine Stoffwechselprozesse erkläre und, auf der anderen Seite, keine chemische Formel, den Salzgeruch des Wassers und die Abendkühle des Sands oder dem einen Traum, der dich ewig verfolgt. Ich sagte: „Es ist das Haus. Und deine Einbildungskraft. Schau, es ist alt. Sei mir nicht böse. Wo ich doch Recht habe. Hier, die Fensterrahmen sind wespenzerfressen, ihre Farbe war mal ochsenblutrot und heute blättert sie ab. Das Parkett ist erschöpft. Die Buntglasfenster in den Türen drückt bald sogar die Zugluft ein. Der Keller ist gestampfte Erde. Die blauen Keramikfliesen fallen von der Wand. Das Haus, es spricht eben mit uns. Was sollte es sonst tun?“
In einer ihrer Geschichten gab es einen Protagonisten, der meinen Namen trug: Wie fremd er sich anhörte. Die Geschichte handelt von jener Person, die ihre Interrail-Reise bucht, sich vorbereitet, die Zeitung abbestellt, sich grundlos Sorgen macht und letztendlich die Reise nie antritt.
„Weißt du, warum ich ihn nach dir benannt habe?“
Natürlich wusste ich es. In knapp einem Jahr war ich um Jahre gealtert. Ich ließ mir einen Bart wachsen, der mich kratzte, weil ihr das gefiel und es jetzt möglich war.
Eines dieser Bilder, das nirgendwo hineinpasst. In keiner Schublade und keiner Nische gibt es dafür einen Raum: Meine Mutter, die sich die Hände eincremte mit konzentriertem Blick, jeden Fingernagel einzeln mit spitzem Zeigefinger und dabei sehr ernstem Gesichtsausdruck. Wie mich diese Geste provozierte. Ich wollte ihr die Cremedose aus der Hand reißen und sie gegen die Wand werfen. Sie beschuldigen. Sie anschreien, für lauter Dinge, die sie nie getan hatte. Und niemals tun würde.
Das Eis war geschmolzen. Es musste noch der ganze Winter und der halbe Frühling vergehen, bis wir uns das erste Mal küssten. Und genau an diesem Punkt der Geschichte setzt ein (bereits bekannter) Störfaktor ein. Störfaktor?
An einem Nachmittag besuchte Rebecca mich. Sie war die Woche über nicht in der Schule gewesen, unser letztes Treffen lag zurück. Wenn ich sie nicht sehen konnte, schien die Zeit sich nur unmerklich von der Stelle zu bewegen und mir wurde klar, wie brutal sich Langeweile in Reinform manchmal geben konnte, viel brutaler als Schmerz. Sie und ich, das war ein Zusammenhang. Ihr Besuch lief auf den Tag kurz nach einem Streit mit meiner Mutter, der das Schweigen zwischen uns um Wochen dehnen sollte. Als meine Eltern uns nach Draußen in den Park der Wohnanlage schickten, ließ Rebecca ihr Handy in der Küche liegen, zuvor hatte ich ihre Nummer gewählt und sie hatte den eingehenden Anruf abgenommen. Das Ganze war ihre Idee gewesen. Wir saßen auf den niedrigen Schaukeln des Kinderspielplatzes und ließen unsere Füße ins Kiesbett baumeln. Etwas entfernt lag eine Gruppe junger Mütter mit Kinderwägen und spielenden Kleinkindern auf karierten Decken im taufeuchten, frischen Frühjahrsgras. Und auf diese Weise, mein Handy ans Ohr gepresst, hörte ich, wie meine Mutter in einer hitzigen Diskussion mit meinem Vater mehrere Namen und Beschreibungen fallen ließ. Selbstverständlich meinen, Rebeccas und, ohne Zweifel, diesen, der seit Jahren in meinem Windschatten durch vergessende Zonen lief.
„Marios ist…“, sagte meine Mutter, schluckte und räusperte sich kurz, die Leitung knackte, „…das ist jetzt nicht das erste Mal, dass ich ihn aufgreife. Ein Glück, dass ich das Papier noch rechtzeitig gefunden habe. Kurzer Moment, ich sehe gerade…“
Dann riss die Verbindung ab und zwei Monate später bekam Rebecca, finanziert durch die Versicherung meiner Mutter, ein neues Mobiltelefon. Das alte war meiner Mutter, bis heute versteht niemand wie, von der Dachterrasse gefallen und auf dem einsamen Asphaltplatz der Wohnanlage, der den Titel Begegnungsort trägt – die Planer der Anlage hatten seinerzeit hochgesteckt postmoderne Ziele gehabt – neben den freischwingenden Edelstahl-Parkbänken und den hohen, grünen Bambusrohren in tausende Kunststoffsplitter zerschellt.
Später, als wir auf meinem Bett lagen und ich sie küsste, während sie steif dalag, so als ließe sie es nur geschehen, da hörte ich durch die weißen Wände das Geräusch des herauffahrenden Aufzugs. Ein kurzer, digitaler Piepton erklang, als er das oberste Stockwerk erreicht hatte. Schlurfende Schritte waren zu hören. Ich ignorierte das und auch von ihrer Bewegungslosigkeit ließ ich mich in diesem Moment nicht stören, denn ich war damit beschäftigt, den Geruch ihrer Haare einzuatmen und meine Hände an gedachten Linien entlang ihren weichen Körper nach oben wandern zu lassen. Ihre kühlen, glatten Hände tasteten schließlich vorsichtig über meinen Rücken. Ihre Jeans schmiegte sich eng an die Rundungen ihres Körpers. Ihre Haut war warm und ich wie weggetreten und alles rot und greifbar nah.
Später bereute ich die Fehlentscheidung, den Aufzug ignoriert zu haben. Muss ich mehr sagen? Auf jeden Fall, irgendwann klopfte es und sofort, Sekunden später stand er mit weit geöffneten Augen, atemlos, abgemagert in meinem Zimmer und legte sein Gewicht abwechselnd vom einen Bein aufs andere. Was noch gefehlt hätte, wäre ein abwartender Blick auf seine Armbanduhr oder ein Augenrollen gewesen. Mein letzter Gedanke war: „Nein. Sie ist, was ich verstecken muss. Er darf sie nicht zu Gesicht bekommen. Nackt. Gläsern. Zerbrechlich. Menschlich.“
Durch das Dachflächenfenster fiel ein blauer Streifen Himmel ins Zimmer. Ein Wolkenschatten wehte über den Zimmerboden und sein kantiges Gesicht.
Warum hatte ich sie vor ihm verstecken wollen? Es war nicht nur ihre Nacktheit gewesen. Zu ihrem Schutz? War ich für ihren Schutz verantwortlich?
So verlief unser erstes Wiedersehen.
Er und sie – sie beide verstanden sich viel zu gut, sie ähnelten in zu vielen Punkten, da waren zu viele Schnittlinien in ihren irgendwie künstlichen Gebärden. Die Art, wie sie sich mit der flachen Hand durchs Haar fuhr zum Beispiel oder in der sie ihre Teetasse mit beiden Händen in die Höhe hob und wie in Zeitlupe zum Mund führte, ihre geschwungenen Lippen das Keramik achtsam berührten.
Er sagte laut: „Ich wohne jetzt hier. Im Internat“, hustete und fuhr nach einer langen Pause fort, „und das ist nicht so schlimm, wie du denkst. Nein, überhaupt nicht. Es ist wirklich fantastisch. Ich möchte nie wieder weg von dort.“
Er zwirbelte sein schwarzes Haar zwischen Daumen und Zeigefinger, während er auf eine Antwort von uns wartete, die vorerst nicht kam. Unter dem gläsernen Esstisch streifte ich sein Bein und er zog seines zurück. Vor ein paar Minuten war es draußen noch ruhig gewesen, starker Wind hatte Blätter am Fenster vorbeigefegt, jetzt prasselten Regentropfen gegen das gekippte Fenster und ein leichtes Gefühl von kühler Nässe legte sich über meine Gesichtszüge. Meine Zunge war belegt. Ich hatte Durst. Aber – irgendwie, ich war so schüchtern, dass ich mich nicht traute, mich in der Wohnung meiner Eltern (meiner Wohnung?) zu erheben, sie beide am Esstisch sitzen zu lassen und in die Küche zu laufen, mir ein Glas aus dem Schrank zu nehmen und den Wasserhahn aufzudrehen. Wie unwahrscheinlich mir das vorkam.
Ich sagte: „Entschuldigt“, löste mich von meinem Stuhl eilte aus dem Raum und stand einige Sekunden im Halbdunkel meines Zimmers, wo ich wahllos durch mein Bücherregal.
Als der Regen aufgehört hatte, schlug Rebecca vor, in die Stadt zu gehen. Da sich zwischen uns eine unangenehme Stille ausgebreitet hatte, willigten wir ein. Streiften durch drei Buchhandlungen, bis sie und ich an Marios abschweifenden Blicken und seiner Einsilbigkeit merkten, dass wir ihn langweilten, dass er unzufrieden war. Doch wer war ich, zu wem hatte er mich wieder einmal gemacht, dass ich das Gefühl hatte, ihn zufriedenstellen zu können. Ich sagte Rebecca, dass sie darüber hätte schreiben sollen: Wie schnell Sympathie, ohne Umwege und schlagartig, in Feindseligkeit umschlagen konnte. Von der einen Minute auf die andere. Am Ende unseres Ausflugs wusste ich nicht, ob Stunden oder Tage vergangen waren. Ich stand im Türrahmen, küsste Rebecca auf die Stirn, sie schloss für einen Moment die Augen, drehte sich um und hüpfte die Treppenstufen nach unten, immer drei auf einmal. Wir beide lachten, sie mit dem Rücken zu mir. Wir waren erleichtert, dass er fort war. Mir war klar, dass ich eine Freundschaft gefunden und eine verloren hatte und was mir nicht klar war, war ob bilanzieren hier angebracht gewesen wäre. Als sie gegangen war starrte ich noch eine Weile ins dunkle Treppenhaus. Kein Mensch war zu sehen. Plötzlich war ich schrecklich einsam. Meine Augen tasteten nach einem festen Punkt durch die mit blinkenden Lichtern zersetzte Dunkelheit.
Rebecca und ich zogen zusammen in eine WG im Erdgeschoss, die wir uns mit zwei Männern, die vier Jahre älter als ich waren teilten. Rebecca schrieb noch immer und wir beide fingen zum Leidwesen meiner Eltern ein Studium der Sozialen Arbeit an. Ich tat es ihr gleich, aber eher um bei ihr zu sein. Und da sah ich ihn eines Tages – in einem Gerichtsaal, auf der Anklagebank sitzend. Mit erhobenem Haupt, war er dagesessen, so als habe er nicht das Geringste zu fürchten. Als sei er sich keiner Schuld bewusst. Später schrieb Rebecca alles auf. Marios ganzen Fall. Die Kindheit, die Rolle, die ich darin gespielt hatte, die Geschichte des Messers. Und trotzdem verstand ich weiterhin nichts. Es wollte mir nicht in den Kopf gehen. Das Messer, das Tierblut – der Straftatbestand. Es passte nichts zusammen. Es war alles inkompatibel, aus der Form geraten.
Oft erinnere ich mich heute, wie er damals dagesessen hatte. Jahre später, würde mir, kurz bevor die Narkose zu wirken beginnt und woanders ein Flugzeug in Richtung Mailand die Rollbahn verlässt, diese Szene zum ersten Mal erneut in den Sinn kommen. Er – ruhig und vollkommen bei sich, geradeausstarrend, hellwach. Als gäbe es für ihn nur die einfachsten Wahrheiten, keine Zwischenstufen, Unscharfes. Nur: Ja und Nein. Leicht und schwer. Schwarz und Weiß. Krieg und Frieden. Nichts weiter. Aber wenn es diese Wahrheiten gibt, wo sind sie? Und wann kann ich sie finden?
7 notes
·
View notes