#Fragmente zur Ausdruckskunde
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fabiansteinhauer · 3 years ago
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Kulturtechnik Schaukeln
1.
Kein Tag und Nacht ohne Linie, keine Linie ohne Wellen, keine Wellen ohne Scheitelpunkte, keine Scheitelpunkte ohne Kehren und keine Kehren ohne Schichten.
Thomas Melle nennt sein Buch zur Polarforschung "Die Welt im Rücken". Er beschreibt den Polarforscher als den entfremdeten Charackter schlechthin. Ihm stünden in einem Augenblick alle Kanäle "bestürzend offen". Dann kippt etwas und alles ist dicht und zu. Melle schreibt, dass ein Polarforscher drei Leben führe,
die einander ausschließen, bekriegen und beschämen: das Leben des Depressiven, des Leben des Manikers und das Leben des zwischenzeitlich Geheilten. Letzterem ist nicht zugänglich, was seine Vorgänger taten, ließen und dachten. Der zwischenzeitlich Geheilte [...] wandert zerfetzt durch die Gegend und kann sich nur über das Schlachtfeld wundern, das hinter ihm liegt. Ändern kann er es nicht, obwohl der Maniker, der da gewütet hat, und der Depressive, der da siechte, zwei Versionen seines Ichs sind, die ihm völlig fremd werden, die er mit seinem jetzigen Ich (aber wer ist das überhaupt) nur qua Erinnerung, aber kaum qua Identität verbinden kann. Und doch ist nicht von der Hand zu weisen: Er war es. Er war all die Taten und Katastrophen und Lächerlichkeiten, die Obsessionen und Nullsätze, die Hausverbote und Selbstmordversuche, die Peinlichkeiten, das Wüten der Kollaps. Er war der Rowdy, dann die Leiche.
2.
Der Polarforscher hat immer eine Welt vor sich, immer eine Welt im Rücken und diese Welt rückt auch vor. Während seine Gegenwart wie jede Gegenwart noch das Privileg des gewöhnlichen Plausibilitätsdrucks genießt, ist die Welt im Rücken nicht nur nicht zugänglich. Dem, was an einer ganz äußerlichen Erinnerung noch zur Verfügung steht (etwa, weil der Polarforscher Tagebuch führt und Zettelkasten füllt) ist auch jede eben noch vorhandene Plausibilität entzogen. Dem Urteil ist der Richter entzogen, der Aussage ihre Anwälte, ihre Zeugen, Sprecher und Schreiber, der Beobachtung der Blick. Dem Sinn sind die Sinne entzogen. Und der Polarforscher weiß, nachdem er einige Zeit am Pol verbracht und sich bei seinen Forschungen immer wieder nur dem Wissen um Pole ausgesetzt hat, dass diese Welt im Rücken vorrückt: mitten hinein in seine Evidenzen. Die Welt rückt immer, und man muss sich vorbereiten, um nicht völlig von der Welt im Rücken abgetrennt zu werden und nicht jede Voraussicht zu verlieren. Die Gegenwart entwickelt ihren gewöhnlichen Plausibilitätsdruck ohnehin sanft, sie braucht keine Hilfe. Schon das Wort von der 'normativen Kraft des Faktischen' klingt zu laut, um die Gewöhnlichkeit eines Zustandes zu beschreiben, dessen Plausibilität unabhängig davon, ob am Pol gerade ein Sturm wütet oder eine Stille eisig auskristallisiert ist, sanft und mild daherkommt. In seiner Plausibilität ist der Sturm so sanft wie die Windstille und das Eis. Das alles braucht keine Stütze. Plausibilitätsdruck ist weniger ein Schub oder eine Kraft, das ist ein meteorologischer Ausgleich, der den Polarforscher und seine Umwelt involviert. Dieser Druck ist ausgeglichen (im Sturm stürmt der Polarforscher mit, mit der Stille hält er still), soweit nicht die kurzen Augenblicke eines Kippens oder des rapid cyclings schwuppdiwupp und kaum greifbar etwas mehr von den Drehungen mitteilen. Dann ist aber sofort wieder Gegenwart und Druckausgleich und alles plausibel, entweder beschissen oder geglückt. Plausibilität braucht keine Stütze.
Die Welt im Rücken muss gestützt werden. Polarforscher wie Warburg lieben Kalender, sie sind ab und zu Gerüst- und Gestellfetischisten. Vielleicht ist das Rücken einer der Gründe, warum der Polarforscher ein Motto, das Plinius dem Apelles in den Munde gelegt haben soll ("nulla dies sine linea") so wuchern lässt. Irgendwie muss auch eine rückende Welt geschaukelt werden.
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fabiansteinhauer · 3 years ago
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fabiansteinhauer · 3 years ago
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fabiansteinhauer · 2 years ago
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Schmuck und Ich
1.
In der Warburg-Literatur ist an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen worden, dass er bei seinen Vorstellungen vom bewegten Beiwerk vormoderne Vorstellungen, wie sie in der Rhetorik Niederschlag finden, aufgreift.
In drei kleineren Notizen aus dem Jahr 1890 wählt er im Kontext von Beobachtungen zu flatternden Gewändern, also im Kontext von "Gewandstudien" (Vismann) einen Titel, der als Zusammenfassung aus Rhetorik und Anthropologie lesbar ist: Schmuck und Ich. Dazu könnte ich bändeweise Anekdoten lesen, die auch mit ,Derrida, Luhmann, Steinhauer' und dem Ärger von Juristen über Rhetorik zu tun haben. Aber niemand hat die Absicht, Ressentiments zu schüren und die Frankfurter Juristen sollen lebenslänglich selbstorganisiert bleiben. Darum 🤐🤐🤐.
2.
Mit Schmuck greift Aby Warburg einen Begriff auf, der in der Übersetzungsgeschichte römischer Manuale zum Beispiel, also in der Geschichte von Anleitungstexten und Institutionen der Rhetorik auch den Begriff decorum, den Begriff ornatus oder aber in Bezug auf griechische Passagen den Begriff kosmos übersetzen soll.
Die drei methodischen Tafeln des Atlas (Tafel A,B,C) und Tafel 1 greifen diese Übersetzungsgeschichte nicht nur als Begriffs- und Ideengeschichte, nicht nur als Bildgeschichte und nicht nur als Geschichte von Metaphern auf. Warburg präsentiert dort Karten und Objekte, die ich Polobjekte nennen würde, und die zu den Unterteilungen, die den medialen Historiographien der Begriffs- oder Bildgeschichte und ihren Trennungen von 'großen' Medien gegenüber quer stehen.
Das Kartenmaterial und die Polobjekte fungieren als Teil von Operationsketten (Siegert), in denen Begriffe, Bilder, Zahlen, Dinge, Zeiche, Metaphern ohne 'prästabilisiertes' Rangverhältnis eingesetzt werden und in denen nicht ein Medium einen größeren Abstand zur Welt als ein anderes Medium hätte. Bilder kommen der Welt nicht näher als Begriffe, sie haben auch keinen größeren Abstand. Bücher weisen nicht mehr Distanz zur Welt auf als Tänze. Weder auf einer allgemeinen Ebene noch auf einer systematischen Ebene oder epochalen Ebene ist das so. Im Detail ist alles anders, abernicht ganz anders. Im Detail können mit allen Medien viele mögliche Entfernungen eingerichtet werden. Warburgs Kartenmaterial und seine Polobjekte entziehen sich Unterteilungen wie denen nach Oralität und Literalität odernach Begrifflichkeit und Rhetorizität. Diese 3 plus 1 Tafel entziehen sich wie alle anderen Tafeln im Atlas einer Mediengeschichte, wie sie teilweise als Geschichte westlicher und vorsprünglicher Medien entworfen wird. Und das Material, das Warburg im Ausgangspunkt präsentiert, entzieht sich auch einer Theorie der Medienevolution und ihrem Einatz im Dogma der großen Trennung, wie man das bei Niklas Luhmann in seinem Kapital über die Evolution des Rechts liest.
Auch hier knüpft Warburg eher an Sichtweisen der Rhetorik an. Ich würde behaupten, Rom hat insofern nicht nur eine Referenz hinterlassen (nämlich Rom), sondern auch Hyperreferenzen. Dazu gehört so ein Begriff wie der Begriff Kosmos, Ornat(us), Beiwerk, Schmuck. Auch diese Begriffe sind keine Referenzen. Das Wissen des Beiwerks ist nämlich nicht zentral in Institutionen wie Quintilians Institution des Sprechers oder Stellvertreteres (übliche übersetzung: Institution des Redners) gesammelt. Stellen sind dort nur Passagen, sie funktinieren nicht wie zitierbare Gesetze oder zitierbare Autoren, sie liefern keine sicheren Grundlagen. Was dort mit Beiwerk gemeint kann, kann man nur in römischen Räumen und Zeiten erfahren, von denen die Lektüre dieses Textes nur einen Auschnitt einnimmt. Dementsprechend kursieren in der Literatur auch Thesen, die Rhetorik die Schemata der Texte nicht aus Texten, sondern vor dem Hintergrund von Architekturen, Gewändern un in der Praxis eines Mediengebrauchs entwickelt hätte, der immer mehr als ein Medium umfasst undkein Leitmedium gehabt hätte. Die Vorstellung der Rhetorik verhält sich quer zu modernen Versuchen, die großen Trennungen, aus denen heraus sich das Recht ausdifferenziert haben soll, in die großen Trennung medialer Komplexe zu übersetzen.
Deswegen spreche ich von der "Rückkehr des Bilderstreites"m nicht von "Bilderflut un visuellen zeitenwende". Was im Handbuch der Rhetorik Röhl zur Bildrhetorik behauptet, halte ich nicht nur flasch, ich würde auch schon die Wissenschaftlichkeit kritisieren, weil dort die einschlägige Literatur zur Bildrhetorik nicht auftaucht. Ich spreche von rhetorischen Ensemblen, von Kreuzungen aus Rechten und Bildern sprechen und ich umgehe das bei Luhmann popularisierte Schema Sprache/ Schrift/ Buchdruck/ Computer. Das ist aber alles umstritten.
2.
Man kann Aby Warburgs Atlas auch als Institution lesen, Quintilians Manual heisst auch so. Warburg benutzt regelmäßig das Wort Restitution, weil er auch zwischen Vergangenheit/ Gegenwart/ Zukunft zwar trennt, aber diese Trennung nicht groß einstellt und ihre Maße einrasten lässt. Statt von Fragmentierung und Pluralisierung und insofern einer Vermehrung oder Verminderung von Bilder zu sprechen spricht er von Restitution und Nachleben einer Antike, die polar überliefert ist und deren Überlieferung insofern eine Schlange ist. Wer sich in Traditionen stellt oder in Transmissionen, und sei das die Tradition von Revolutionen, stellt sich an und in Schlange.
Man sollte den Atlas und die Tafeln so lesen, wie das in den Forschungen zur Kulturtechnik vorgeschlagen wird. Warburg nennt das einen Atlas des Distanzschaffens. Ich würde das insofern mit den Anregungen der Kulturtechnikforschung einen einen Atlas der Operationalisierungen von Differenz nennen, und wie etwa Siegert schreibt, die Operationsketten beschreiben, die in, mit und durch diesen Atlas und seine Tafeln auftauchen. Wie, womit undwodurch unterscheidet Warburg etwas, wie 'scheidet' er etwas? Wie, womit und wodurch schichtet und skaliert er etwas? Wie, womit und wodurch misst und mustert er etwas? Welches Material verwendet er und wie sehen die Vorgänge seiner Sortierung aus? Das würde ich auch nochunter dem Begriff eines Protokolls fassen. Warburgs Vorgehen ist Protokollieren.
3.
Schmuck und Ich: 'Schmuck' wäre insofern eine Operationskette, das wäre ein Vorgang und Prozess der Schmückung oder Musterung, durch den Orientierungen effektiv werden. 'Ich' wäre ein Vorgang der Inndividualisierung, der Personalisierung, der Subjektivierung, durch den ganz unterschiedliche Ichs effektiv werden.
Der Polarforscher Warburg hat noch eine besondere Vorstellung vom Distanzschaffen, die spezifisch aus Warburgs Polarforschung resultiert. Für das Distanzschaffen gibt es kein dialektisches Statut, Warburg fokussiert Polaritäten, die etwas anderes sind als Gegensätze und Paradoxien. Es kann sein, dass das ein Atlas von einem Polarforscher für Polarforscher ist. es kann sein, dass dieser Atlas besonders dann zum Einsatz kommt, wenn man sich in polarisierten Lagen befindet. Warburg schlägt schließlich, ob Zufall oder nicht, also entweder deswegen oder auch nur by the way, vor, ihn als Lehrbuch der Diplomatie und Diplomatik einzusetzen.
So kommt Warburg schließlich auch dazu, aus den Tafeln römische Staatstafeln zu entwickeln. Das macht das Material von Tafel 78 und 79 exemplarisch (und nur exemplarisch) für eine Bild- und Rechtswissenschaft, die das Bild nicht aus dem Gedanken der Abbildung und das Recht nicht als aus dem Gedanken von Gesetz; Vertrag oder Interdikt ableitet.
Das Material der Staatstafeln leitet das Bild aus Vorgängen eines Distanzschaffens ab, das auch Polarität operationalisiert. Bilder müssen darin nicht unbedint abbilden, sie müssen aber unbedingt drehbar, verkehrbar, wendig, biegsam oder kippbar sein. Die Präzision dieser Bilder schließt nicht aus, vage zu sein, die Bilder müssen sogar fähig sein, verschlungen zu sein und zu verschlingen. Soweit sie zum Beispiel subjektivieren, machen sie ein Ich effektiv, das ein Anderer, aber kein total Anderer, sondern ein verschlungener Anderer ist. Das Recht leitet sich auf diesen Staatstafeln nicht vom Gesetz, nicht vom Vertrag, und nicht vom Interdikt ab, es leitet sich ebenfalls von einem Distanzschaffen ab, in dem ebenfalls Polarität operationalisiert werden soll. Es soll nicht "Verhaltenserwartungen stabilisiere" , keine 'Freiheitsräume schützen und keine Ausdifferenzierungen' (Vesting/ Ladeur) garantieren. Es hat kein dialektisches Statut. Was daran agonal wäre, wäre nicht über Gegensätze entscheidbar, die Gegensätze wären nicht (lange) aufhebbar. Polarität hat kein dialektisches Gerüst. Wenn so etwas wie Stabilisierung, Schutz, Entscheidung oder Aufhebung passieren sollte, mag das in Ordnung gehen, für die einen vielleicht mehr als die anderen.
Aber mit Warburg lässt sich so etwas nicht zum Programm einer Bild- und Rechtswissenschaft machen. Das Recht soll auch bei Austauschmanövern Polarität operationalisieren, also auch drehbar, biegam, wendig, kippbar sein. Das Vage, Wägende, Wogende - das wäre hier alles nicht so außergewöhnlich oder so mangelhaft, dass man es als Inkommensurabilität des Rechts vom Recht fern halten müsste. Konkret geht es bei Warburs Polarität nicht immer gleichum Psyche und Gesellschaft, manchmal nur um Zeitmessung, darum, ein Datum für einen Vertragsschluss zu finden, Vertragschlüsse kalendarisch zu organisieren, geeignete Räume und begleitende Gesten zu finden und schließlich die Rhetorik und das diplomatische Protokoll auf ihren Anlaß einzustellen.
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fabiansteinhauer · 3 years ago
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fabiansteinhauer · 3 years ago
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fabiansteinhauer · 3 years ago
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fabiansteinhauer · 3 years ago
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Warburgs Staatstafeln
1.
Statt die Lektüre der beiden 'letzten Tafeln' aus dem Mnemosyne-Atlas 'ikonographisch', also mit den Bildern beginnen zu lassen, kann man die Lektüre auch büro- und studiokratisch, also mit den Routinen der Kanzleikultur beginnen lassen. Diese Routinen haben etwas Technisches, aber gehen sie in Technik auf? Sie treiben etwas, aber gehen sie in Trieben oder im Treiben auf? Graphisch sind diese Routinen vielleicht immer, zumindest ist 'nichts als Graphik' von ihnen überliefert.
Man kann bei denjenigen Graphismen beginnen, die unterhalb einer Schwelle des Ikonischen oder Imaginalen schon dabei kooperieren, Rom zu assoziieren und assoziieren zu lassen und dabei dasjenige zu tun, was Warburg Distanzschaffen, ein Trennen und Verknüpfen nennt. Man kann bei der "Mimik" und dem "Gerät", den (choreo-)Graphien des diplomatischen Protokolls und dem Schreibzeug beginnen., Man kann bei den Tafeln und Tabellen, bei den chronographischen und vagen Linien der römischen Verwaltung beginnen.
2.
Von 'Warburgs Staatstafeln' zu sprechen, macht dann Sinn, wenn man den Namen Warburgs hier als Teil der K.B.W., also als Name einer Firma, eines Geschäftes oder selbst einer Assoziation begreift. Daran ist Aby Moritz Warburg beteiligt, durchaus auch in führender Stellung, mit seinem ganzen pedantischem und diktatorischem Trieb, vor allem auch seiner Stellung als "Bürger schlechthin" (Schüttpelz). Aber er ist auch nur beteiligt, neben ihm gehört zu Warburg eben auch der Apparat, und das ist ein Apparat, der Personen, Dinge und 'Aktionen', darunter auch eingerichtete Routinen umfasst. Die K.B.W. selber ist 1929, als die Tafeln entstehen keine juristische Person, sie ist nur der Teil einer juristischen Person und natürliche Personen sind nur ein Teil von ihr. Mit dem Warburg in KBW kann nicht allein Aby Moritz gemeint sein, denn das Bankhaus Warburg ist ebenfalls beteiligt und so trägt die Institution nicht das Kürzel KBAMW, die Kürzel für Aby Moritz findet man da nicht. Die Rolle von Gertrude Bing kann auch nicht unterschätzt werden; insbesondere Tafel 78 ist ohne ihr Protokoll nicht denkbar. Sie war die einzige, die es in den zwei Tagen, an denen die Lateranverträge unterzeichnet und gefeiert wurden, in den Petersdom schaffte und dort ausführliche Beobachtungen zum Protokoll notierte, während Aby Moritz Warburg (im Regen?) draußen vor dem Tor bleiben musste. In manchen Nächten habe ich schon die Vorstellung entwickelt, dass eigentlich sie die Tafel 78 so sortiert hat, wie man sie von den Fotos und der neuen Rekonstruktion her kennt. Das ist vielleicht eine gewagte These, aber so gewagt ist sie in Bezug auf die herausragende Rolle, die Bing bei der Erstellung der Protokolle spielt, nun auch wieder nicht.
Von "Warburgs Staatstafeln" zu sprechen, macht auch dann nur Sinn, wenn man vorher noch einmal sagt, was man eigentlich mit einer Staatstafel meint. Der Begriff ist ja besetzt. Er stammt aus den Schriften von Leibniz und bezieht sich auf seine Entwürfe und Vorschläge zur Einrichtung und Modernisierung offizieller, amtlicher Wissensapparate, d.h. vor allem Archive, Bibliotheken und deren Hilfsmittel. Es ist in gewisser Hinsicht unhistorisch, Tafel 78 und Tafel 79 als Staatstafeln zu bezeichnen, trifft aber auch Aby Warburgs Interesse an historischen Asynchronien, ihren (Wieder-)Kehren und Abschichtungen. Schon Leibniz ist da wichtig, weil er an einer Kehre in der Geschichte der Zensur schreibt. Vor allem aber habe ich den Begriff gewählt, um an eine Literatur anzuschließen, die in den letzten Jahren zu juridischen Kulturtechniken wichtige Impulse gegeben hat. Das betrifft die Arbeiten von Bernhard Siegert, der vor allem in zwei Texten auf Leibniz' Staatstafeln einging, und es betrifft die Arbeiten von Cornelia Vismann, die mit ihren Texten zur Verwaltung entscheidende Impulse gegeben hat. Es gibt hier eine Reihe von Gründen, dieser Forschung Referenz zu erweisen. Sie alle würden ein eigenes Buch füllen. Kurz gesagt: Da ist zum einen das Interesse an einem Material, das man als 'Mindermaterial einer modernen Rechtswissenschaft' begreifen kann und das insoweit eher zum Bodensatz der Gründe als zu jenen Gründe gehört, auf denen die modernen Rechtswissenschaft aufsitzt. Zum anderen ist das ein Interesse daran, die Inkommensurabilitäten des Rechts nicht allein auf der Außenseite des Rechts zu beschreiben und gleichzeitig auch nicht davon auszugehen, dass es jenseits des Rechts nichts mehr vom Recht gäbe. Eine Forschung jenseits der Thesen zur Ausdifferenzierung des Rechts, eine Forschung jenseits des Dogmas großer Trennung und eine Forschung, die nicht daran interessiert ist, ein epistemisches Monopol der Rechtswissenschaft mit immer neuen Thesen zur Vorsprünglichkeit der westlichen Rechtsordnung zu sichern ist der Ansatz, der den Warburgschen Fragestellungen am besten entspricht. Vestings Medientheorie ist in ihrer kurzatmigen Kritik an dem, was in Weimar versucht wurde vielleicht irritierend,überrascht aber nicht im Hinblick auf die Apologie des Westens, die ihn und den übrigen Ladeurismus umtreibt. Für Warburgs Welt ist das nicht hilfreich. Ob jetzt Weimar oder Warburg: beides kommt auch dem Interesse entgegen, Dinge vergleichen zu können, die in anderen Ansätzen sonst strikt auseinandergehalten werden, ohne gleich in einer Kritik des Juridismus von der Verschmelzung der Welt oder einem Ende der Limitierungen zu träumen. In dem, was mich interessiert sind das zum Beispiel Vergleiche zwischen dem rhetorischen decorum einserseits und den Tabellen der römischen Verwaltung anderseits. Beides misst, skaliert, schichtet und mustert, beides polarisiert und adressiert. Die Frage ist wie und welche Bedeutung das dann für Assoziationen wie Rom, den Staat oder die Kirche hat. Gegenüber den doch arg dichten oder abgekürzten Verweisen von Pierre Legendre auf die ungelöste Verknüpfung von Dogmatik und decorum verspreche ich mir schlicht mehr Details und weniger Großgeschichte. Auch Daniel Damlers bisherige Forschungen zu Recht und Bild setzen in dieser Hinsicht zu spät an. Aby Moritz bildet bei seinen Texten zum Laokoon und zur Bildgeschichte der Körperschaften und Personen einen stillen Teilhaber. Damler setzt sich mit Warburgs Schülern explizit auseinander, nicht mit Warburg. Und dass Damler bei Bild, Person und Körper beginnt, ist auch ein 'später Einsatz', wenn man unterstellt dass allen dreien vagere Linien und Verleibungen auch über Körper, Personen und hinaus vorausgehen.
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fabiansteinhauer · 2 years ago
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Vogue
Schmuck und Ich: Im September 1890 notiert Aby Warburg in seinen Fragmenten zur Ausdruckskunde eine Passage zu dem, was er später einmal 'Tragik und Tracht' nennt: Kleidungsstücke seien eine unorganische Erweiterung des Individuums. Andere sehen sie, aber Warburg notiert zuerst, man selbst sehe sie nicht. Mit etwas, was man selbst nicht in den Blick nehmen kann, wird man in den Blick genommen. Man müsse bei jeder Bewegung mit ihnen rechnen. Kleidungsstücke zählen, man bewegt sie und sich, man fühlt sie und sie bewegen einen insoweit auch.
Über die Formulierung 'Erweiterung des Individuums' notiert er 'Schmuck und Ich'. Ich würde den Begriff des Schmuckes unter anderem mit Kosmos oder Ornat übersetzen, mit einem Material dessen, was in den römischen Protokollen zur Kulturtechniken des Sprechens, Schreibens, Lesens, der Bildgebung und Bewegung nach Quintilian auch decorum genannt wird: Muster/ Musterung oder Messe/ Messung und was Schichtungen und Skalierungen nach Stilebenen und Affekten zwischen Frivolität und Souveränität sowoe nach gesellschaftlichen Stellungen und psychischen Zuständen, involviert. Aby Warburg legt schon die Fragmente zur Ausdruckskunde als Wissenschaft zur Bewegung und Animation, Beseelung und 'Bewilligung' zur Distanzschaffen und Verleibung an. Er legt die Fragmente auch schon als Polarforscher an.
2.
Wenn Geschichte nicht aus dem Gesetz ableitbar ist oder wenn man sie nicht aus einer Untersuchung, zum Beispiel in einem Labor, extrahieren kann, und wenn man statt dessen, wie zum Ersatz von Gesetz und Untersuchung, die Kette der Boten aufzählt, über die eine Geschichte zu einem gelangt ist, dann handelt es sich bei so einer Geschichte entweder um ein Gerücht oder aber (wie vor allem bei dem 'Vater des Kinorechtes' und Vernehmungstechniker Albert Hellwig) um einen Fall.
Anders als die Wahrheit nach dem Gesetz oder die Wahrheitsform der Untersuchung sind Gerüchte und Fälle über mindestens zwei Zeugen oder Boten verkettete Wahrheiten. Da ist die Wahrheit eine Kettenpassage. Wer Gerüchte oder Fälle erzählt oder aufschreibt, gibt eine Passage zum besten und beginnt sie mit der Kette, in der er die Boten auflistet und in deren Schlange sich der Autor einreiht. Ob so eine Passage geschrieben oder erzählt wird, ihr Autor reiht sich in eine Schlange ein, die Schlange Transmission oder Tradition.
3.
So notiert Aby Warburg Ende August 1929 eine Passage ins Tagebuch. Kollege Edgar Wind hätte Kollegin Gertrude Bing erzählt, dass David Hume etwas erzählt hätte. Ein bekehrender [sic! Anm. FS] Missionar habe sie ihm erzählt. Der Missionar hätte einen Wilden geprüft und gefragt, ob es einen Gott gäbe. Der habe nein gesagt. Auf Nachfrage sei eine Antwort gekommen, die "bestürzend" gewesen sei: "Er habe ihn ja gestern gegessen".
Diese kleine Kettenpassage, ein Gerücht oder ein Fall über Bekehrung, Verzehrung und Bestürzung handelt von dem Thema, das Warburg auf Tafel 79 ausbreitet und dass Getrude Bing "Das Verzehren Gottes nennt". Wenn es auf diesem Teil der Staatstafeln auch um römische Wahrheit, ihre Messe/Mission geht, dann ist das eine verschlungene und vage Wahrheit, d.h. eine bekehrte und verzehrte Wahrheit. Warburg notiert dazu einen Kommentar, mit dem er einen Bogen zu seiner Theorie des Distanzschaffens schlägt, sogar zurück über seine Vorstellungen von Tragik und Tracht hin zu einem Verhältnis von Schmuch und Ich, das sich in einem Protokoll des decorum niederschlägt. Er schreibt:
Möge ihm das überschluckte "Wie" gut bekommen sein.
Warburg kann diesen Wunsch und das Personalpronomen auf den Wilden, auf den Missionar, auf David Hume, auf Edgar Wind bezogen haben, vielleicht sogar auch auf Kollege Bing. Möge die Bestürzung nicht zu lange gewährt, nicht zu hohe Wellen geschlagen haben. Dass Gott verzehrt wurde, bereitet Warburg weder Problem noch den Wunsch nach Wünschen. Das Wie muss gut bekommen, und das ist immer eine Frage nach Schichtung, Skalierung, Messe und Musterung, nach Höhe, Länge, Intensität und Weite einer Bestürzung zum Beispiel.
Wie in der Passage von 1890 mag die Erweiterung des Ichs durch Gewänder unorganisch sein, sie kann auch, wie er später schreibt, tragisch sein. Sie ist aber auch tragend und Schmuck. Was hier trägt ist nicht nur, was getragen wird, Schmuck, es ist auch Vogue: Das Verschlungene mit seinem auf und ab, seinen Wellen und Wogen, den vagen Linien eines Distanzschaffens, das nach Warburg ein- und ausschwingt und sowohl für hohe Erregung als auch tiefe Besonnenheit sorgen kann.
4.
Und dazu entwickelt Warburg Protokolle des Distanzschaffens, die nicht danach Fragen, was oder ob überhaupt etwas geschafft wurde, sondern wie es geschafft wurde. Diese Protokolle schichten und skalieren mit Hilfe von Tafeln und Tabellen, sie messen und mustern auf ihrem Operationsfeld die Vorgänge des Distanzschaffens en Detail. In diesem Sinne ist decorum Protoll und Protokoll decorum. Bei den Staatstafeln steht nicht im Vordergrund, die Frage zu entscheiden, ob sie etwas Neues geschafft haben oder nicht, ob sie nun den Abstand zwischen Kirche und Staat. zwischen Gesetz und Gewalt oder zwischen Vergangenheit und Zukunft vergrößert oder verkleinert haben oder nicht. Das diplomatische Material und der Kommentar von Warburg bleibt auf einer Operationsebenen, die man von der doppelten Buchführung kennt, auf der Ebene von Kreditierung und Debitierung. Aber warburg versiegelt das Material nicht und versichert nicht, dass es irgendwo eine Institution gäbe, die für die Zukunft stehe während anderswo eine für die Vergangenheit stehe. Das Versprechen, sagen zu können, wer etwas blockiere und wer das nicht tue, das bleibt aus. Warburgs Tafeln arbeiten zwar mit prognostischen Mitteln. Sie arbeiten sogar mit den magische nund mantischen Praktiken, die Walter Benjamin erwähnt. Aber warburg geht nicht so weit, den Staatsrechtslehrer zu geben und zu behaupten, er könne die frohe Botschaft verkünden und sagen, dort läge die Zukunft und die Erneuerung, da aber nicht, dafür läge da aber die Vergangenheit. Daraus zu schließen, Warburg würde sich einer normativen wertung enthalten oder er würde im Hinblick auf die Frage nach der Zukunft der Institutionen weder sagen, was er wolle noch was man solle, würde den Begriff der Normativität anders auslegen, als ich das tun würde. Wenn Normativität nur, aber immerhin, die Operationalisierng von Differenz ist, dann sind die Staatstafeln duch und durch normativ, auch ohne einem zu sagen, wo es lang gehen solle.
Mir scheint das ein Vorzug protokollierten Wissens gegenüber einem unprotokllierten Wissen, dass es kein Wissen darüber verspricht, was undob überhaupt etwas geschafft wurde, aber umso mehr Wissen über das Wie liefert. Ob überhaupt der Abstand zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Kirche und Staat oder zwischen Gesetz und Gewalt jemals 'geschafft' wurde, dazu sagen die Staatstafeln von Warburg, wenn man streng ist, nichts. Das mag Aby Warburgs Rolle von der eines Staatsrechtslehrers unterscheiden, von dem scheinbar verlangt wird, in seinen normativen Stelung zu beziehen und zu sagen, ob er eher im Norden oder Süden, im Westen oder im Osten die Zukunft sehe und ob er denn etwas an der Vergangenheit oder der Zukunft falsch oder richtig finden würde. Manchmal scheint es, als könnten Staatsrechtslehrer nicht darauf verzichten, etwas auszuweisen und zu sagen, das liege jetzt auf der Höhe der Zeit und könne und solle gelten während etwas anderes nicht auf der Höhe der Zeit liege und nicht mehr gelte. Man hört immer wieder Rom liege nicht auf der Höhe der Zeit, die römischen Linien und ihr diagrammtisches Nachleben lägen nicht mehr auf der Höhe der Zeit, nun seien es kalifornische Tabellen und Linien, die auf der Höhe der Höhe der Zeit liegen würden. Kann ja sein, aber erstaunlich bleibt ob, woher das alles gewußt wird. Beantwortbar ist aber natürlich immer die Frage, wie Staatsrechtslehrer nicht nur zu ihren Behauptungen kommen, sondern wie, mit welchen Schichtungen, Skalierungen, Messen und Musterungen sie ihre Aussagen gelten lassen und plausibel machen.
Natürlich hat Warburg zu fast allem eine dezidierte Meinung, sogar mehr als eine, erst Recht über Roma, die Mutter 'unheimlicher Doppelheiten'. Aber als Polarforscher will er Treiben technisieren und Technik treiben lassen, um zuerst einen Umgang mit Polarität zu gewinnen, und sei es die Möglichkeit, Pole umgehen zu können. Im Sommer 1929 liest Warburg jeden Bericht über Wetterberechnungen, Zeppelinflüge und Polarquerungen, mit genau diesen Fragen. Schmuck und Ich, Rom und Ich, Kosmos und Ich, Zeppelin und Ich, Nordpol und Ich, Bing und Ich, Hamburg und Ich, Florenz und Ich, Rom und Ich, Mussolini und Ich, Der Papst und Ich: Es ist seinem Talent zur Idiosynkrasie geschuldet, alles auf sich beziehen zu können und dadurch seine Idiosynkrasie in eine weitere, nicht egozentrierte und nicht vom Selbst und Selbstorganisation besessene Archäologie zu verwandeln. Mario Wimmer beschreibt insofern in einem Aufsatz in der Neuen Rundschau (2017) den "Kredit von Aby Warburg" als eine "Ökonomie des Dilettantismus". Diese Figur ist meines Erachtens einerseits nicht so weit von dem entfernt, was Thomas Vesting sich an dem Gentlemen, Manager und dem Homo Digitalis verspricht, nämlich die Fähigkeit, Ich als Anderen, aber nicht total Anderen zu entwickeln. Anderseits sind die Abstände gigantisch. Beste Bedingungen für ein diplomatisches Protokoll.
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