fabiansteinhauer
Unter dem Gesetz
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Zettelkasten, Schaufenster und Schirm
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fabiansteinhauer · 26 minutes ago
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Anfängerübung
Eine Arbeit an der Bar ruft nach Aufmerksamkeit für die handel- und händelbaren Limitierungen und Bindungen (die Träger und Trachten, die zügigen Formen) mannigfaltiger Objekte, mannigfaltiger Subjekte und mannigfaltiger Operationen, deren Stabilität wir (aber nur, wenn wir sie einer bestimmten Ordnung und Verfassung nach annehmen, so daß sie noch konstituiert, wer wir eigentlich sind), garantiert annehmen (und die Garantie ist von der Versicherung und dem Kredit zu unterscheiden).
Eine Arbeit an der Bar kann eine Arbeit an Grenzobjekten sein, das sind Objekte, durch die Risse (Entwurfslinien und Verwerfunglinien) ziehen, auch solche Linien, die Grundlinien sein können. Ein Projekt der Forschung zu den juridisichen Kulturtechniken besteht darin, das Rennen oder Rinnen solcher Linien wahrnehmbar zu machen. Das muss kein Fließen sein, muss nicht flüssig sein. Die Forschung zu den juridischen Kulturtechniken versucht zum Diskurs der Vermehrung auf eine Distanz zu gehen, die auf vergleichbare weise auch das Verhältnis zum Diskurs der Fragmentnierung bestimmen soll. Beide Diskurse sollen in ihrer Effektivität nicht geleugnet werden, sie sollen als melancholische Diskurse registriert werden. Das ist ein Diskurs, dem hat, was ihm fehlt und der darauf ausgerichtet werden sollte, Recht und Regen händeln zu können. Man muss nicht die Abwesenheit und den Abgrund meistern, nicht ihm Rahmen der Melancholie. Man muss mit einer Welt im Rücken umgehen, also auch mit Dingen, die nicht weg kommen, wenn sie hinter andere Dinge rücken, und die ohnehin durchgehend ihre Entfernung sowohl in Richtung Größe als auch in Richtung Kleinheit ändern.
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fabiansteinhauer · 1 hour ago
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Mutig
Er trägt in meinder Anwesenheit ein T-Shirt des Thinktanks vom ZDF, er muss also mutig sein.
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fabiansteinhauer · 3 hours ago
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Wozu Anthropofagie?
1.
Wenn man die Anthropofagie als eine juridische Kulturtechnik betrachtet, dann setzt man wohl nicht nach dem Dogma der großen Trennung an, man setzt wohl auch nicht mit einer Geschichte und Theorie permanenter Reformation an. Das, was Recht wahrnehmen (lassen) soll,beginnt dann nicht mit der Sprache, nicht mit der Schrift, nicht mit dem Buchdruck und nicht mit der Vernetzung. Es beginnt schon mit dem Tafeln, sogar mit asozialen Erscheinungen (wie den zahlreichen Parasiten, die an tropischen Tafeln auftauchen und mitessen wollen). Noch bevor man eine Gesellschaft hat, hat man an der Tafel eine Assoziation und es wäre zuviel gesagt, diese Assoziation als Gesellschaft zu bezeichnen. Vielleicht ist die Assoziation ein (Hirn-)Gespinst, vielleicht ein Gerücht. Die Wahrnehmung des Rechts beginnt schon mit dem (Auf-)Sitzen, schon mit den Schick-, Rinn- und Kippsalen, die einen zählen und erzählen lassen.
Warburg arbeitet auf den Staatstafeln mit einer Gründungsszene, die sich bei einem Mahl zugetragen haben soll, dem Abendmahl, dessen wiederkehrende Szene die Diplomaten in Rom 1929 noch nachstellen. In dieser Szene spielen zwar Worte eine wichtige Rolle, das tun sie aber, weil sie wandeln und dabei auch sich wandeln. Sie vagabundieren und überschreiten dabei noch die Grenze, die so manche Speisevorschriften einrichten, wenn sie allgemein und strikt dem Menschen Menschenfleisch verbieten. Die Worte kreuzen die Grenze der Sprache, des Fleisches und des Weins, so kreuzt sich das Sprechen mit dem Speisen auf komplizierte (leicht gesagt) oder aber (schöner gesagt) diplomatische Weise.
Warburgs Geschichte und Theorie läuft nicht unbedingt auf protestantische und deutsche Staatsrechtslehre hinaus (wieso auch?), seine Geschichte ist nicht eine Geschichte der Exkarnation. Den Historiographien, die das Dogma der großen Trennung mit ihren Verabschiedungen des Fleisches, der Bilder und der Körper, der Trennung vom Ober- und vom Unterleib tragen, steht Warburg (das kann man zu Warburgs Zeit, also in heterochronischen Kreisen, schon sage) mit wechselnder Distanz, teilnehmend, fröhlich und mit dem Schrecken vertraut, gegenüber.
Auch noch in den Versionen protestantischer Staatsrechtslehre sind solche Historiographien (wie sie auch die Theorie in den vier bekannten Bänden zu den Medien des Rechts mitzeichnen) immerhin Positionen, die in seinem Atlas kartographiert, historisch und geographisch eingetragen werden können.
2.
Soll man die Anthropofagie als Beleg, zum Beispiel als Beleg dafür nehmen, dass es keinen Universalismus gibt? In der Literatur zur Anthropofagie tauchen drei Positionen auf, die dem widersprechen würden, nicht weil sie den Universalismus verteidigen, sondern weil sie ihn aufbrechen oder irrisieren, sie verbiegen ihn sozusagen auf diplomatische Weise.
Zum einen hat Eduardo Viveiros irgendwo (ich finde die Stelle gerade nicht) einen Satz wie ein Mitbringsel, ein Geschenk fallen lassen: Es gibt schon genug Dinge, die es nicht gibt. Man kann den Satz so lesen, dass nicht alle eine Wissenschaft von Dingen brauchen, die es nicht gibt, wenn diese Wissenschaft ein Widerlegung ist. Wie man so grund- wie schriftsätzlich nachweist, dass das, wovon andere reden, irrelevant ist, das kann man doch inzwischen im Schlaf, nur ist der Schlaf doch zu zauberhaft um ihn mit Widerlegung auszufüllen.
Es ist zum Beispiel im Schlaf die Zeit, aufzugreifen, dass die Rechtswissenschaft sich Fiktionen hält, sie züchtet, aufzieht und kultiviert. Oliver Precht hat daran erinnert, das Oswald de Anrade keinen Beleg schreibt, sondern ein Manifest, das sei eine Destabilisierung und Beunruhigung. Auch danach gibt es zumindest das Angebot, die Anthropofagie nicht als Beleg für etwas zu nutzen. Die Anthropofagie kann insofern den Universalismus beunruhigen, bewegen, verrücken oder verückt machen, besser kann sie das, als ihn zu löschen.
Schließlich ist Warburg der Dritte in dieser Bande, der doch eher etwas anderes nahelegen würde als das Argument, der Kannibale widerlege den Universalismus. Nach Warburg taucht der Anthropofage nicht unbedingt in der Gesellschaft oder mit der Gesellschaft der Anthropofagen auf. Er taucht assoziiert auf, diese Assoziation ist aber unbeständig und damit keine gegebene Voraussetzung, sondern eine Situation oder eine Situierung. Er taucht nicht an und für sich auf, er taucht an Tafeln, mehr noch: durch das Tafeln auf, das heißt auch, durch und dank ein Protokoll, an dem nicht nur der Kannibale beteiligt ist.
Er assoziiert sich nicht nur mit anderen Kannibalen, er ist schon selbst eine Assoziation. In der Perspektive der juridischen Kulturtechnikforschung würde ich sagen: er ist eines der Elemente, die durch Trennung, Assoziation und Austauschmanöver an der Tafel erscheinen, in dem sie dieses Erscheinen mitmachen. Man kann dann noch, auch mit der seltsam nationalen und staatlichen Komponente, von einer brasilianischen Anthropofagie sprechen, die ist aber radikal zeitlich - und radikal 'protokolliert'. Sie kann insofern schwer ein immobiles Reservat bilden, auch nur schwer ein Grundstück und eine Gegenwart derer bilden, die den Universalismus als Illusion erkennen liessen. Unmöglich wäre es wohl nicht, aber es scheint schwer möglich. Die Anthropofagen sind auch kosmopolitisch und sie spielen auch Rangfolgen gegeneinander aus, sie skalieren und stratifizieren auch, kennen auch oben und unten, groß und klein, vorne und hinten, lang und kurz, innen und außen, schwer und leicht. Sie kennen die Starre und das Beugen. Eine Negation des Universalen ist vielleicht nicht nur Verdrängung, braucht aber Verdrängung als Resonanskasten. Die Aussage, dass es den Universalismus nicht gibt, fällt zu leicht, als das sie ein raffiniertes Instrument für zeitgenössischen Auseiandersetzungen sein könnte.
3.
Die Anthropofagie ist eine Weise vaguer Assoziation (ich schnappe mir hier einen freigelassenen Begriff aus Luhmanns Zettelkasten), also eine juridische Technik der Unbeständigkeit . Sie geht nicht nur mit der Technik einher, zu verzehren. Ihr namensgebender Vorgang ist nicht nur das Verzehren. Das ist auch das Begehren, sie geht mit einer Technik des Begehrens einher, mehr noch: sie ist eine Technik des Begehrens. Sie geht mit dem Verkehren einher und ist eine Technik des Verkehrens. Warburgs assoziiert die Anthropofagie auf den Staatstafeln mit der Pathosformel der Querela. Die Querela ist diejenige, durch die das Begehren geht, das ein Klagebegehren sein kann, das ein epistemisches Interesse sein kann und das nicht ausschließlich psychoanalytisch gelesen werden muss (trivial zu sagen). Mit Vismann und ihren Arbeiten zu den gründlichen Linien (die nicht nur Arbeiten zum Pflug und zum pomerium sind, sondern auch zu Techniken des Rasters oder des velums) kann man das Begehren als juridische Kulturtechnik lesen (das unterschlägt Vesting leider in seiner Überzeugung, dass die Kulturtechnikforschung befangen sowie rückständig sei und darum mit seiner staatsrechtlichen Schematisierung auf die Höhe der Zeit gebracht werden müsste).
In der Pathosformel kann die Aktion in Passion kippen und die Passion in Aktion. Mit der Pathosformel lässt sich eine Pathologie (die keine Krankheit sein muss, aber eine sein kann) händeln. Die Pathosformel der Querela (die Warburg zuerst Raffaels Bild der Messe von Bolsena entnimmt, auf dem sie den Leib Christi verspeisen will, dann auch einem Bild der Spes (Hoffnung/ Hüpfen) von Giotto und antisemitischen Drucken aus der Bewegung der permanenten Reformation entnimmt, die ist die zügige Form einer Begehrten und Begehrenden, einer Verzehrten und Verzehrenden, einer Verkehrten und Verkehrenden. Sie ist in nicht nur bei Raffael Teilnehmerin einer Messe, sie ist eine Messung, eine Musterung, sie misst und mustert (Raffael stellt sie sogar vor eine Skala, vor eine Treppe, und macht sie so noch zu einer Skalierung).
Warburg arbeit nicht nur bildwissenschaftlich, er arbeitet auch begriffsgeschichtlich, sieht hier offensichtlich nicht nur den Begriff phagein am Werk, sondern auch begriffe wie vagire - und versteht ihr Verhältnis als Spannung oder als eine gespannte Strecke, als "Pendelstrecke". Der Anthropofage ist insofern (!) das Wesen, das vague/ vogue (modisch oder nach einer Laune von Geistern in der Zeit und im Raum) assoziiert ist, dass herumschweifend oder abschweifend erscheint. Der Anthropofage ist aber nicht leer und nicht unbestimmt. Das Vage, das ihn auszeichnet, ist hier nicht das Zeichen, das leer bleibt und dessen Inhalt homogen und damit unbegrenzt und undefiniert wäre, er ist auch nicht das was vom Menschen übrig ist, wenn er von allem Menschlichen/ Humanen geleert wird. Der Anthropofage sitzt an konkreten Stellen, er hat und macht detaillierte Züge und ist darin zuerst ein Zeuge für Kosmopolitik, eine Partei der Kosmopolitik, Verfahrensbeteiligter oder Diplomat/ Sekretär einer Kosmopolitik (die in ihrer juridischen Dimension sich nicht vom Teflon juristischer Methode abweisen lässt). Der Kannibale isst und ist bestimmt.
3.
Dass der Anthropofage den Universalismus widerlege und Beweis dafür sei, dass es das Universale nicht gibt, ist an der Überlegung zu testen, die de Castro in Bezug auf das Vage gemacht hat. Diese Überlegungen tauchen in der kannibalischen Metaphysik früh auf, in einer Passage, in der de Castro die Frage, was der Mensch sei, verwirft. In dieser Passage erklört er vor allem, dass er diese Frage verwirft, weil die Idee der Unbestimmtheit als Idee, dass der Mensch von allem frei sei, historisch mit List einherging. Was de Castro beschreibt, ist unschwer schon als odyseeische List erkennbar. Wenn alle Wesen bestimmt sind, der Mensch aber unbestimmt und das dem menschen eigen darin besteht, kein Eigenes zu haben, dann ist das nicht einfach eine alte Idee, es ist eine auch schon mythologische Idee, auf jeden Fall lebt in ihr Antike nach. Wenn der Mensch als ein nicht festgestelltes Wesen betrachtet wird, sein Vagueheit eine Leere und das die Lehre ist, dann hat die eine Tradition, die die Tradition eines Wechsels ist, eines Blankocheques, der auch den Namen Würde trägt. Darin kann der Mensch sich alles aneignen. Diese Passage ist nicht dagegen gewendet, den Anthropofagen als Widerlegung des Universalismus zu verstehen, sie ist selbst gegen einen Universalismus gerichtet, der durch die Negation operiert, in dem er leer und unbestimmt operiert. Man sollte auch hier zwischen Universalismus und Kosmopolitik unterscheiden, vielleicht so, dass das eine nicht erst da anfängt, wo das andere aufhört. Man sollte den Universalismus bestreiten, mit ihm also ökologisch oder ökonomisch, situativ und über seine Millieus umgehen.
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fabiansteinhauer · 4 hours ago
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Gründliche Linien
Who's afraid of Gottfried, Wilhelm and Leibniz? Der common sense eines Deutschen denkt, daran hat jüngst Thomas Vesting in einem Buch zu Recht und Kulturtechnik erinnert, beim Pflug nicht an das römische Recht, sondern an Kartoffeln. Hört der Gemeinsinn des Deutschen was vom pomerium, is he just waiting for pommes. Der common sense denkt bei Leibniz nicht an juridische Kulturtechniken, sondern an Butterkekse.
Macht nichts, dafür sind ja Übungen da, dass wir lernen, die Angaben und die Angeberei der Gegebenheiten nicht einfach hinzunehmen. Institutionen sind schließlich nicht das, was gegeben und hinzunehmen ist. Institutionen sind das, was einen Zeit mehr oder weniger anspruchsvoll (durch-)halten lässt, was also warten oder erwarten lässt. Die Anfängerübung ist eine Übung in Kooperation, im Umgang mit dem, was Institution sein soll. Sie übt das Mitmachen, u.a. durch gründliche Linien, Grundlinien, Grundrisse, Grundbegriffe und Grundrechte. Im Recht stapeln sich die Gründe, räumt man einen Grund beseite, steht man auf dem nächsten. Wir gehen die Übung darum archäologisch an un unterstellen, dass das Recht einer sedimentären Geschichte aufsitzt, die seismisch aktiv ist.
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fabiansteinhauer · 4 hours ago
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Rechtsphilosophie
Wieso nicht mal die Rechtsphilosophie beim Wort nehmen und davon ausgehen, dass es Grundlinien gibt? Anfängerübungen sind eine Möglichkeit, das zu tun.
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fabiansteinhauer · 19 hours ago
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Wozu Texte?
Die Anwälte sind die Weber des 21. Jahrhunderts. Ein Lautsprecher fährt vorbei, wir sind in Brasilien, über Bienenwabenmuster, wir sind in Arraias, also an der Stelle, die uns Anlaß gibt, Sils Maria zum Arraias Graubündens machen zu wollen. Arraias ist höchster Ort in Tocantins, d.i. nach Ricardo Spindola Taka-Tuka-Land.
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fabiansteinhauer · 21 hours ago
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Yamyam Metafizikler
Das Forschungsprojekt zu Aby Warburg soll ab jetzt, soweit es die Anthropofagie und die Metaphysik betrifft, auf türkisch weitergeführt werden, denn dann klingt das am besten. Mehr noch. Yamyam Metafizikler: das bin doch ich, ein yummie Metaphysik'ler. Das Problem: kann kein Türkisch. Hilfe!
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fabiansteinhauer · 1 day ago
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Was ist sciene at the bar?
Science at the bar ist das, was Sheila Jasanoff sagt, was das sei. Ihr Buch mit dem gleichnamigen Titel ist ein Grundlagenwerk zum Verhältnis zwischen Wissenschaft, Technik und Recht.
Science at the bar ist Wissenschaft an etwas (eher noch, als Wissenschaft von etwas zu sein). Das ist Wissenschaft an einer Stelle, an der häufig Tische, Stühle, sowie Schick-, Rinn- und Kippsale vorkommen.
Das ist Wissenschaft an einer Stelle, an der die Sorge über eine 'Stelle in der Stelle' geht, von der wiederum der ganze Ort seinen Namen hat: der Bar, einem Balken, einer Theke oder einer Sperre im Raum, einer hohen Schwelle, die den Übergang einerseits erschwert, anderseits ermöglicht, dass etwas unter der Theke über den Tisch geht. Die Bar ist eine Schwelle und Grenze mit Schmugglerpfaden, richtet hohen und niedrigen,formellen und informellen, offiziellen und heimlichen Austausch ein.
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fabiansteinhauer · 1 day ago
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Wozu Anthropofagie?
Wenn die Anthropologie die Wissenschaft vom logos des Menschen ist, dann ist die Anthropofagie eine hoministische Epistemologie (eine Kosmologie oder eine Ordnung wahrer Aussagen), die von dem Speisen oder dem Verzehren des Menschen kommt.
Im alltäglichen Sinne wird der Begriff darauf bezogen, dass Menschen Menschen verspeisen. Das würde ich nicht so erklären, dass Anthropofagie eine akademische Bezeichnung für Kannibalismus wäre. Auch der Kannibalismus ist nicht einfach etwas, bei dem Menschen Menschen verspeisen. Sowohl die Anthropofagie als auch der Kannibalismus kommen als Kulturtechniken vor, in denen die Speise und der Speisende mehr oder weniger, mehr und weniger als ein Mensch sein können. Das Subjekt der Anthropofagie und das Objekt der Anthropofagie können am Menschen teilnehmen, ihr ontologischer Status kann dabei vielfältig sein. Aus Sicht der Forschung zu den juridischen Kulturtechniken, zum Beispiel aus Sicht Warburgschen Bild- und Rechtswissenschaft, bezeichnet die Anthropofagie das Speisen des Menschen oder das Verzehren des Menschen, wobei also sowohl die Speise als auch der Mensch Subjekt oder Objekt sein können.
Darüber hinaus ist Anthropofagie aber eine juridische Kulturtechnik, die den Menschen fabriziert. Mit einer anthropofag erweiterten Formel Pierre Legendres gesagt ist die Anthropofagie eines der Verfahren, das den Menschen mit dem Menschen ähnlich und mit ihm unähnlich macht, also eine Ökonomie oder Ökologie des eigenen des Fremden Wesens organisiert. Anders gesagt: Es ist eines der Verfahren, Wesen zu hominisieren, indem es sie in einer Menschenfassung einstellt (das kann heissen positioniert oder empfängt und frequentiert).
Wir halten jede Kulturwissenschaft, auch die Kulturtechnikforschung, für eine vergleichende Wissenschaft (wie das einmal Luhmann in einem Text zu Kultur als historischem Begriff entfaltet hat). Eine Beschäftigung mit der Anthropofagie soll insofern von Anfang an im Vergleich stattfinden, etwa zwischen verschiedenen Verfahren der Menschenopfer, der Eucharistie und brasilianischer Anthropofagie.
2.
Man kann die Anthropofagie auch als das Wissen von dem Vagen oder dem Wagen (dem Verkehrsmittel oder dem Riskieren), dem Modischen des Menschen (dem, was ohne feste Grundlage erscheint und geht und auch so des Menschen sein soll) verstehen. Die Anthropofagie kann man schließlich auch als Wissen von dem auf den Wellen und in der Brandung tanzenden Menschen verstehen: von demjenigen Wachen, das den Menschen trägt, indem es seine kleine und leichte Arche ist.
Die 'Fagie' kann das Fressen bezeichnen, wie das in Sprachen im östlichen Bereich des Mittelmeers, genauer gesagt im Griechischen nahegelegt wird. Sie kann aber auch ein meteorologisches (Herum-)Schweifen bezeichnen, denn das tut sie in Sprachen, die am Mittelmeer weiter westlich gesprochen werden, genauer gesagt in Sprachen, die durch Rom gingen. Sie kann damit (!) ein Schreien, ein Kreisen oder Kreischen bezeichnen (weil das meteorologisches Herumschweifen im Sprechen und Schreiben ist). Sie kann ein Wüsten und Rasen sein. Anthropofagie kann ein Machen menschlich kreischenden oder kreisenden Wesens sein. Sie kann ein Machen des human kriselnden oder im umwegigen Nutzen antiker Trachten, Textilien oder Texte kräuselnden, kreuzenden oder grätschenden Wesens sein.
In der Sprache der Gebrüder Grimm meint kreten, ein Protokoll zusammenzufügen, die Anthropofagie kann insofern das Wissen der Kreter sein, wenn diese Zusammenfügung herumschweift. Es ist für eine Beschäftigung mit der Anthropofagie entscheidend, ihre Geschichte und Theorie auszuschöpfen und nicht eine bereits brav zugerichtete und frisierte Kammerversion zu präsentieren. Denn wenn man schon die Wahrheit sagt, dann gehört dazu, nichts als die Wahrheit zu sagen, alles von ihr zu sagen, vollständig auszusagen und nichts zu verschweigen, nichts zu unterschlagen.
Die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Wissen soll nicht ausradiert werden; ich gehe aber davonaus, dass die Anthropofagie an beiden Möglichkeiten, Wissen zu fabrizieren, Teil haben kann. Die Anthropofagie kann Wissenschaft sein, sie kann ihr Wissen auch anders als wissenschaftlich und trotzdem noch rational oder technisch oder artifiziell oder künstlich oder kunstvoll fabrizieren. Man soll etwas von der Anthropofagie wissen und in Erfahrung bringen wollen, wenn sie einem fremd ist und man noch nicht weiß, was sie ist.
3.
In der gestrigen Diskussion um den Text von Melanie Merlin de Andrade und Ricardo Spindola ging es unter anderem darum, wie der Übersetzer von Robert Alexy den Autor durch Korrekturen am Text veschlingt und sich damit an die Stelle des Autors setzt. Die These der beiden lautet, dass Alexys Erfolg in Brasilien (was immer das auch ist) von diesem Tausch abhing. Alexys Erfolg sei der Erfolg eines Autors, der verspiesen wurde. Die beiden machen feine anthropologische Arbeit und beste Kulturtechnikforschung an der Übersetzung Alexys, sie erarbeiten eine Tabelle (!) und Synopse der deutschen und der brasilianischen Begriffe, ihrer Trennungen, ihrer Assoziationen und ihrer Austauschmanöver.
Bei der Diskussion ist mir aufgefallen: sobald es auch um Begriffe mit lateinischer Herkunft ging, dass Deutschland das Ostend oder Eastend eines korrumpiert römischen Sprechens ist und das Portugal das Westend eines korrumpiert römischen Sprechens ist. Korrumpiert ist das römische Sprechen, weil es heute in den nationalen, modernen Sprachen stattfindet, die sich auch am Latein bedient haben. In Deutschland haben sich die Begriffe dann zu Eastendversionen des Römischen entwickelt, es sind schwere Begriffe mit strikten Arbeitszeiten, alles weiter im Osten ist dann schon byzantinisch. Im Portugiesischen sind daraus wie in frischerer Luft und im Licht des plein-air leichtere und hellere, reigende und tänzerische Begriffe geworden.
3.
Wie Aby Warburg, so geht auch Eduardo Viveiros de Castro dem Wissen vom Menschen teilweise mit graphischer Forschung nach, wie etwa in dem kurzen Text über den Dualismus und Claude Levi-Strauss. Dieser Text von de Castro ist in Deutschland u.a. durch die Edition der documenta bekannt. Wenn man die Geschichte und Theorie der Anthropofagie ausschpfen möchte, lohnt es sich, ihr bin in die gründlichen Linien, bis in ihre zügigen Formen, bis ins elementar Graphische (gemeint sind alle Graphien) nachzugehen. Das heißt unter anderem, ihr anhand von Zügen (gezogenen und zügigen Formen) nachzugehen. Das ist das, was Aby Warburg macht.
4.
Gestern stellte jemand die Frage, welchen Unterschied es denn machen würde, wenn man die Anthropofagie als Metapher und wenn man sie als Kulturtechnik bezeichnet. Einer der Unterschiede liegt darin, dass man sie, wenn man sie als Metapher bezeichnet, im Rahmen eines Diskurses bezeichnet, der Metaphern von Begriffen unterscheidet. Bezeichnet man sie als Kulturtechnik (und bezieht man sich dabei, wie de Andrade und Spindola es tun) auf die Arbeiten zu den juridischen Kulturtechniken, dann kann man sie über Operationen beschreiben, die etwas trennen, etwas assoziieren und ein Austauschmanöver bilden, egal in welchem Medium das stattfindet. Anthropofagie als Metapher zu bezeichnen, das schreibt sich u.a. in den Bilderstreit ein, der um die Eucharistie und um das Verhältnis zwischen Wort und Fleisch in der katholischen und in der protestantischen Digmatik geführt wird, schlägt sich dann auf eine der europäischen, vor allem protestantischen Onto-Anthropologie vertraute Seite der Unterscheidung. Ein Folge kann sein, dass man dann dem Anthropofagen nicht glaubt, was er sagt. Die Anthropofagie als Kulturtechnik zu bezeichnen wird diesen Bilderstreit nicht los, man setzt aber auf andere als rhetorisch geprägte und schon vertraute Unterscheidungen und bemüht sich in Bezug auf den älteren Streit um eine auch !() rückwärts gesendete symmetrische Ausgangslage, symmetrisch im Sinne der symmetrischen Anthropologie, sprich: symmetrisch im Sinne von Bruno Latour. Vor allem zähmt man die Anthropofagie nicht mit der Behauptung, das Verzehren des Menschen sei nur ein Bild und man wähle diese Bezeichnung, weil kein besserer Begriff zur Verfügung stünde. Man rechnet im allem, rechnet umfänglich mit dem Realen, dem Imaginären und dem Symbolischen des Kannibalismus.
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fabiansteinhauer · 1 day ago
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Wozu Anthropofagie?
2021, in den Ausläufern der sieben mageren Jahre, habe ich auf Einladung von Anna Katharina Mangold in Kiel einen Vortrag zur Anthropologie und Anthropofagie gehalten (seitdem ist klar: Kennst Du einen Kannibalen, kennst Du einen Kannibalen). Der Vortrag berichtete aus dem Forschugsprojekt zu Aby Warburg, widmete sich Warburgs Auseinandersetzung mit der Anthropofagie und verglich sie mit Eduardo Viveiros de Castros Kannibalischer Metaphysik. Wie bei de Castro so ist auch bei Warburg die Geschichte und Theorie der Anthropofagie Teil einer Beschäftigung mit dem Dogma der großen Trennung, also zum Beispiel der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Nomos und Physis, Mensch und Tier, Subjekt und Objekt. Die Unterscheidungen, die im Dogma der großen Trennung mitlaufen, werden von Warburg nicht destabilisiert, er versteht sie von Anfang an als unbeständig und das Verhältnis zwischen dem Unterscheidenen als ein polarisiertes und polarisierendes Verhältnis. Warburgs Bild- und Rechtswissenschaft widmet sich damit auch dem Menschenbild. Warburgs Wissenschaft sollte auch als Wissenschaft eines Menschen gelesen werden, der nicht von selbst Mensch ist und sich nicht auf der Diagnose, Mensch zu sein, ausruhen kann, aus ihr kein Grund für sein Tun ziehen kann. Das Subjekt, zu dessen Geschichte und Theorie Warburg arbeitet, ist nicht nur Mensch, spezieller ist dieses Subjekt ein betrachtetes und betrachtendes Wesen, insofern auch ein Wesen das 'trägt und trachtet'. Es ist ein trainiertes und trainierendes Wesen, es hat und macht Züge.
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fabiansteinhauer · 2 days ago
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fabiansteinhauer · 2 days ago
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Allgemeine Rechtslehre
Die allgemeine Rechtslehre besteht in einer und nur aus einer Aussage, einer einzigen, nämlich der: Das Recht soll zu allem etwas sagen und sich von allem etwas sagen lassen, soll zu allen etwas sagen und sich von allen etwas sagen lassen. Diese mal triviale, mal nicht-triviale Wahrheit ist nicht ihr Kern, sie ist ihr gesamter Bestand, mehr hat sie nicht, weniger aber auch nicht.
Wir kommen heute im Forschungskolloquium u.a. (vermittelt über einen Text von Melanie Merlin de Andrade und Ricardo Spindola) auf einen Text von Oswald de Andrade zu sprechen, der Jura studiert hat und damit Kollege von Frederick Wiseman (dem Macher von Monrovia, Indiana) ist. Grundlagenforschung soll man nicht nur als Forschung für die Berufsbilder betreiben, für die man zum Beispiel in Deutschland das Staatsexamen mit dem Modell eines Amtes eingerichtet hat. Im Staatsexamen kann es schon Argument für ein Scheitern sein, wenn sich Kandidaten nicht wie ein Rechtsanwalt, Staatsanwalt, Richter oder Minister verhalten. Das ist aber nur ein Teil einer überdrehten Beklopptheit des Staatsexamens, sie soll die Grundlagenforschung nicht groß ablenken. Wer mit den Grundlagen der Rechtswissenschaft (etwas) anfängt, der soll auch ein anthropofages Manifest schreiben oder lesen, soll auch Monrovia, Indiana drehen oder betrachten. Wer weiß, wofür es gut ist? Niemand oder Odysseus. Grundlagenforschung ist es nicht, wenn man schon weiß, welche Berufsausübung mit ihren Verhaltensanforderungen, Fähigkeiten und ihrem eingerichteten Habitus man damit ausbildet.
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Frederick Wiseman - Monrovia, Indiana (2018)
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fabiansteinhauer · 2 days ago
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Ilha de Itamaraca
Itamaraca ist eine Bezeichnung, die die Tupi dem Ort gegeben haben. In ihrer Sprache ist das die Insel der Steinschüttler, das ist eine der ungefähr 30000 Bezeichnungen, die sie für das brasilianische Portugiesisch geliefert haben. Der Ort ist ergriffen, es ist ein kolonialer Ort, ab den Neunziger Jahren (des 15. Jahrhunderts) sollen hier Schiffbrüchige aus Europa gesiedelt haben. Bis vor kurzer Zeit gab es auf dem Platz des alten Dorfes oberhalb von Fort Orange (das man auf dem Hügel eines Bildes von Franz Post gemalt sehen kann) eine Stele mit einem Kasten, hinter dessen Gitterstäben ein öffentlicher Fernseher stand, der ab der einbrechenden Dämmerung vom 'Bürgermeister' des Dorfes eingeschaltet und dann bedient wurde.
Jetzt ist der Fernseher privatisiert, zwar unvollständig (denn die Türen stehen prinzipiell offen), aber dafür ist jeder Fernseher privatisiert - und auf dem Platz wird jetzt nur noch die Bar besucht, auf den gekackelten Bänken vor der Stele ruhen jetzt die kleinen Hunde des Dorfes (unter ihnen: ein Dackel). Spricht man mit Leuten, deren Sprache man nicht (sicher) beherrscht (spricht man also von der Aussenseite der Sprache) dann nimmt man ihre Zeit unbefangener wahr. Sie können dann besser wahrnehmbar von Ereignissen sprechen, die ihnen eben passiert und vorbei sind, während sie einem selbst vor vielen Jahren oder Jahrzehnten passierten - und man hört es sowohl klarer als auch krachender oder rauschender. Als ich in den Neunzigern nach St. Petersburg kam, war die Blockade im Sprechen nicht weit entfernt. Weil ich erst nicht verstand, wovon die Rede ist, habe ich die Erzählungen als Erzählungen naher und nur durch wenige Schritte vermittelter Zeit (letzter Tage oder letzter Woche) verstanden, was nicht falsch war.
Zwischen Paaren, deren Beziehung zerbrach, ist etwas zu beobachten: sie leben in heterochronen Verhältnissen, also in unterschiedlichen Zeiten, und das ist ab da, ab dem Bruch, deutlich in ihr Sprechen verlegt, auch wenn man nicht sagen kann, dass die Heterochronie nun explizit wurde. Sie sprechen dann in unterschiedlichen Zeiten, manchmal auch in unterschiedlichen Zeitformen voneinander. Wie Zeiger in unterschiedlichen Geschwindigkeiten sprechen sie, im nun linkischen Versuch des Miteinander, eine(r) von ihnen träger, eine(r) von ihnen eiliger. Die Ilha de Itamaraca ist eine der Gegenden, deren Orte heterochronisch aufgestellt sind, seitdem sie ergriffen sind.
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fabiansteinhauer · 2 days ago
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Anthropofagie
Und wer hat's erfunden?
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fabiansteinhauer · 2 days ago
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Oliver Precht
Oliver Precht hat, in der Reihe Neue Subjektive, Oswald de Andrades Manifeste (das anthropofage Manifest und das Manifest der Pau-Brasil-Dichting) übersetzt und zweisprachig herausgegeben. Der Band enthält außerdem Texte von Haroldo de Campos, Beneditio Nunes und Oliver Precht. Very verdienstvoll!
An Francisco Goyas Bild kann Walter Benjamin, dessen Satz zur Polemik Haroldo de Campos in seinem Beitrag zur anthropophagen Vernunft zitiert, gedacht haben: Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet. Der Leser Benjamins kann daran gedacht haben.
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fabiansteinhauer · 3 days ago
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Wozu Anthropofagie?
1.
Auch wenn die Bild- und Rechtswissenschaft, an der Aby Warburg gearbeitet hat, keine allgemeine Rechtswissenschaft ist, ist das doch eine weitgehende Wissenschaft. Sie geht so weit, alle Unterscheidungen von Rechtswissenschaft zu betreffen, noch die, ob das eine Wissenschaft ist oder ob es zwei Wissenschaften sind. Sein Umgang mit der Anthropofagie würde ich im Hinblick auf Vorschläge von Oliver Precht (der in den letzten Jahren einige grundlegende Texte zur Anthropofagie vorgelegt hat); als dritte Möglichkeit verstehen, mit der Anthropofagie umzugehen. Eine erste Möglichkeit wäre nach Precht, mit den Nachrichten von den Anthropofagen beruhigt umzugehen, darin zum Beispiel einen Beleg fundamentaler rechtshistorischer und rechtstheoretischer Unterscheidungen zu sehen. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass diese Nachrichten revolutionär, damit auch destabilisierend und beunruhigend erscheinen. Die dritte Möglichkeit, die ich aus Warburgs Beschäftigung herauslese, wäre die, den Kannibalismus weder als Beleg und Beruhigung, noch als Revolution und Destabilisierung zu betrachten, sondern als eine der Erscheinungen, aus denen heraus sich lernen lässt, wie mit Unbeständigkeit und Polarität umzugehen ist.
2.
Oliver Precht spricht in einem Kommentar zu Oswald de Andrades Manifesten von einer Destabilisierung, Verkomplizierung und Beunruhigung. Die Tradition (erst die Tradition!), in der Oswald de Andrade stehen würde, destabilisiere, verkompliziere und beunruhige den Gegensatz (und damit auch die Unterscheidung) zwischen nomos und physis. Die Nachrichten, die Hans Staden und Jean de Léry in ihren Reiseberichten von den Kannibalen geliefert hätten, hätten die Philosophen und überhaupt die Leserschaft noch nicht beunruhigt, sie hätten die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur belegt.
Die Kannibalen müssen auf jener anderen Seite von Unterscheidung sicher registrierbar gewesen sein, die für Autoren aus Europa noch beruhigend war. Precht verweist auf Montaignes Essais und auf Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit. Bei Montaigne und Rousseau kommt der Anthropofage damit auch nicht schlecht weg, besser als diejenigen, die sich an der Beobachtung der Todesqualen andere Geschöpfe weiden, besser als diejenigen, die an der Folterung teilnehmen oder diejenigen, die einen fühlenden Körper von Hunden und Schweinen zerreißen und fressen lassen (er gönnt den Hunden und Schweinen nichts). Die Anthropofagen stehen insoweit nach Montaigne über den Nachbarn Montaignes, den Europäern, sie sind gute bis edle Wilde. In den Reiseberichten und in der Rezeption der Reiseberichte durch die (höfischen) Philosophen bleibt der Anthropofage eine Figur aus großer, weiter und starker Entfernung.
In der Version eines Manifestes, also erst in der Version, die Oswald de Andrade dem Schreiben der Anthropofagie gibt (zu dem Zeitpunkt, an dem auch Aby Warburg an den Staatstafeln arbeitet), wird dieses Schreiben nach Oliver Precht beunruhigend, destabilisierend und revolutionär. Der Anthropofage ist hier nahe und darin immer noch eine große und starke Figur, aber er soll weder gut noch edel sein. Precht betont, dass das Manifest ihn aus einem Zustand des gespenstischen, geisternden Wesens holt. Er vergleicht insoweit de Andrades Manifest mit dem kommunistischen Manifest. Das Gespenst transformieren, ins hier und jetzt holen: Ich verstehe die Manifestierung als eine Stärkung des Anthropofagen.
Bei Aby Warburg geht es nicht unbedingt darum, die Gespenster/ das Gespenstische loszuwerden und durch etwas zu ersetzen, das manifest wäre. Es geht darum, Gespenster wie Manifeste ziehen und pendeln lassen zu können. Warburgs Geschichte und Theorie eines unbeständigen und polaren Rechtes unterscheidet sich insoweit so von de Andrades Manifest und von dem revolutionären Einsatz der Anthropofagie, wie sie sich von Luhmanns 'paulinischen Ereignissen', vor allem von dem bekannten Berufungsmoment unterscheidet, den Luhmann in einem Gespräch mit Dirk Baecker und Georg Stanitzek in dem Buch Archimedes und wir geschildert hat. Luhmann assoziiert seine Berufung zum Beruf des Systemtheoretikers dort mit dem Moment, in dem ein Kamerad sich neben ihm auflöste. Neben Luhmann stehend wurde der Kamerad vernichtet. Luhmann spricht von dem Trauma in einer Kürze, die mit den Schrecken in der Literatur Heinrich von Kleists mithalten kann. Eben war der Kamerad noch hier, jetzt ist er weg und kommt nimmermehr, das ist sicher. Luhmann bleibt mit fundamentalen Fragen zurück, auch das ist sicher. In diesem Ereignis kommt ein Opfer vor.
Für Warburg ist der Ausgangspunkt weder eine Manifestion (wie bei de Andrade) noch eine Auflösung und (Ver-)Nichtung wie bei Luhmann. Bei Warburg ist der Ausgangspunkt die Unbeständigkeit und die Polarität, mit denen nichts wegkommt und nichts manifestiert wird, dafür aber alles kreist und seine Entfernung ändert. Warburgs Frage ist nicht die nach der Existenz des Anthropofagen; nicht die Frage nach der Existenz des Kameraden, nicht die Frage, warum man selbst noch existiert, der andere aber nicht oder aber warum man selbst mit Leben erfüllt ist, dem Anderen aber etwas von dieser Fülle fehlt; auch nicht, wie man selbst vom Leben erfülllt sein könnte und wie der Andere nicht vom Leben erfüllt sein soll (wie man mit den seltsamen Verkehrungen der Frage nach dem Rivalen und Nebenbuhler, die man in der gegenwärtigen deutschen Rechtstheorie auf der Höhe der Zeit findet, fragen könnte). Warburgs Frage ist die nach der Entfernung des Anthropofagen, nach der Entfernung von Kameraden und nach der eigenen Entfernung, d.h. danach, wie man den eigenen Standpunkt in seiner radikalen Zeitlichkeit und seinem unaufhaltsamen Kreisen fassen kann. Insofern ist sein Schlüsselbegriff Distanzschaffen. Ich verstehe das als Begriff einer juridischen Kulturtechnik.
Ich glaube, dass Warburgs Distanzschaffen ein Distanzschaffen ist, das die Distanz, die es schafft, nicht zurücklegt, also auch nicht insgesamt immer weiter vergrößert wie man das macht, wenn man öfters und Stück für Stück kleine Strecken läuft. Distanzschaffen heißt insofern nicht, Distanzierung fortzusetzen, in dem man eine Kette von Trennungen und Unterscheidung fortsetzt oder in dem man einer Trennung eine andere Trennung aufsetzt oder anfügt. Distanzschaffen kann einen Abstand vergrößern, kann ihn aber auch verkleinern. Jede Operation des Distanzschaffens sollte als Operation verstanden werden, die etwas trennt, etwas assoziiert und ein Austauschmanöver ist. Das Distanzschaffen kann verkleinern und annähern, heranholen, greifen, begreifen und ergreifen, berühren und einen bis in Mark und Bein treffen. Das Distanzschaffen kann einem passieren; kann einem durchgehen, weil sie einen selbst durchgeht. Es ist Technik, die keine reine Aktion sein muss und in der sich das Subjekt nur auf sich selbst verlassen kann. Diese technik kann einen tragen, sie kann insofern auch passiv oder passioniert mitgemacht werden, vor allem aber kann das Subjekt den Umstand nutzen, dass ihm Objekte zu Verfügung stehen, die seiner Einlassung helfen, wenn sich das Subjekt auf dieses Objekt einlässt.
3.
Der Anthropofage hat bei Warburg eine besondere Bedeutung. Warburgs Zeit in Kreuzlingen kann nicht ignoriert werden. Da ist ihn der Anthropofage so nah, dass man ihn auch auf der Inneseite Warburgs verorten kann. In dieser Zeit ist Warburg vom Anthropofagen besessen. Sein Reden, Schreien, Schreiben, Kritzen, alles das, in dem kannibalische Vorstellungen auf eine Weise mitliefen, die Warburg vorübergehend die Diagnose schizoide Schübe brachten, spielen eine Rolle. Sie können für Warburg aber nur eine Rolle spielen, seiner Theorie und seiner Geschichte können sie keine Gründe liefern, denn das hieße, eine Diagnose als Rechtfertigung zu missbrauchen, hieße weiter, sich seine Passionen und die Pathologie auf eine Weise privatisieren zu lassen, die ihn selbst von mehr als der Gesellschaft, nämlich noch vom Haushalt und Familie, von allem anderem als ihm selbst abschneiden würde. Disee Privatisierung würde nichts reservieren, ihre Ökonomie würde ausfallen, es wäre eine totale Privatisierung. Sich auf Diagnosen auszuruhen hieße, sich im Wahn befangen zu halten. Das Fressen findet weiterhin statt, nur in anderer Entfernung: das ist die so dahingesagt kleine Lösung Warburgs im Umgang mit der Anthropofagie. Man soll dem Tod keine Gründe liefern, aus Diagnosen keine Gründe extrahieren, man kann an beidem Übersetzungen entwickeln.
4.
In einer Perspektive, die durch Warburgs Arbeiten geprägt ist, erscheint die brasilianische Anthropofagie dann als besonderes Verfahren der Übersetzung (die in dem Sinne ein Weise ist Texte zu lesen und lesen zu geben, Bilder zu betrachten und zur Betrachtung zu geben), wenn dieses Verfahren die Verhältnisse zwischen einer Reihe mitlaufender, elementarer Unterscheidungen in besonderer Distanz einstellen. Wenn die brasilianische Anthropofagie zum Beispiel in den Buchstaben das Verhältnis zwischen Fleisch und logos, Text und Bild oder Mensch und Tier, Natur und Kultur, nomos und physis, das Verhältnis zwischen zwei Zeiten oder zwei Orten auf besondere Weise einstellt und so über besondere Wege, Pässe und Bögen laufen lässt, dann wäre sie in dieser Perspektive ein besonderes Verfahren. Die Anthropofagie ist dann nicht nur ein Verfahren der Übersetzung, sie ist darin auch eine Technik, etwas zu erfahren und erfahren zu lassen, etwas wahrnehmen zu können.
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fabiansteinhauer · 4 days ago
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Wozu Anthropofagie?
1.
Aby Warburg legt 1929 die Summe und das Manual derjenigen Bild- und Rechtswissenschaft an, an der er seit Gesprächen mit dem Juristen und späteren Rechtsvergleicher Sally George Melchior im Sommer 1896 arbeitete. Warburgs Wissenschaft ist nicht die eines allgemeinen Rechts, sondern die Wissenschaft desjenigen Rechts, das erstens unbeständig ist und mit Unbeständigkeit umgehen lässt und das zweitens polar ist, also auch polarisiert und mit Polarisierung umgehen lassen soll. Unbeständigkeit und Polarität bilden den Anlass für Kritik, Theorie und Geschichtsschreibung, weil das beachtenswerte Besonderheiten sind, nicht weil beides falsch oder richtig wäre. Beides, sowohl die Unbeständigkeit als auch die Polarität, sind nach Warburg mit radikaler Zeitlichkeit und unstillbarer Regung, d.h. unstillbarem Regen verbunden. Diese Regung oder das Regen hat auch mit Bewegung, aber nicht nur mit Bewegung zu tun. Die Regung oder das Regen haben auch mit starren, stehenden oder ständigen, etwa ständig wechselnden Momenten zu tun. Der Laokoon, ich meine die Figur des Vatikans, wäre ein Beispiel für ein starres und starren machendes Regen.
Warburgs Geschichte und Theorie des Rechts entwirft ein Recht, das dem Regen nicht nur affin, sondern sogar verwandt ist - und dessen Geneaologie darum nicht nur an Objekte wie die regula und das rectangulären Feld einer Tafel anschließt, nicht nur an den Begriff des Richtigen, des Direkten und des Rechten anschließt, nicht nur an Verben wie rego oder condeo anschließt. Das unbeständige und polare Recht schließt auch an das Verb rigo und das Verb condio an (ist aldo ein rinnendes und reizendes Recht), schließt an Bögen und biegsame Körper an. Dieses Recht schließt an Formen an, die gezogen sind und zügig bleiben.
Die Polarität bezieht Warburg auf historische, geographische, gesellschaftliche und psychische Verhältnisse und Spannungen, sie kann in diesen Verhältnissen und Spannungen als Bewegung verstanden werden, in der Kehren, Kippen oder Wenden vorkommen, die dabei weder über geraden Linien noch über rectanguläre Felder verlaufen.
Die Summe seiner Bild- und Rechtswissenschaft legt Warburg aus Anlaß der Lateranverträge und der Gründung eines neuen römischen (Stadt)-Staates vor, des stato della citta del vaticano. Das ist ein historisches Ereignis, mit dem Antike nachleben kann, also mit dem entfernte Geschichte ihre Distanz ändern kann; entfernte Orte können ihre Distanz ändern, entferne Gesellschaften und entfernte psychische Wesen können ihre Distanz ändern. Beispiel: Die Anthropofagen können ihre Distanz ändern.
2.
In dem Sinne ist ein Datum ein Moment, dessen kalendarisch eingetragener Teil feststeht, alles andere regt nicht nur sich. Dass die Lateranverträge am 11. Februar 1929 geschlossen wurden, das steht fest; was passierte als das passierte, das steht nicht fest.
Der Rest ist aber auch nicht leer, nicht homogen, nicht unbestimmt. Warburg entwirft zur Deutung ein Protokoll auf Tafel 78 und einen Kommentar auf Tafel 79, die beide sich noch mehr oder weniger an juristischen Methoden ausrichten, die man u.a. noch bei der Technik der Relation lernt. Insofern schreibt Warburg mit dem Protokoll des diplomatischen Protokolls auf Tafel 78 einen Sachverhalt, den er auf Tafel 79 deutet. Weiter bilden diese Tafeln aber auch Protokoll und Plan für eine Kreditierung oder ein Ansehen des Momentes, die sich an den magischen und mantischen Praktiken von Berufständen halten, die bereits 2000 Jahre nicht mehr als Juristen geschätzt werden, aber dennoch dabei kooperieren, Recht wahrzunehmen. Das sind die antiken Berufstände der römischen Censoren, der Auguren und der Haruspizen (der Wahrsager), es sind die historischen Berufsstände der Statistiker, soweit die mit Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu tun haben und es sind die moderne Berufstände aller derer, die Prognosen für die Zukunft erstellen. Bankier ist das Beispiel, das Warburg am besten kennt, er hält sich selbst für einen.
3.
Warburg betrachtet die Lateranverträge unter anderem anhand dessen, was ich im Anschluss an Cornelia Vismann die juridischen Kulturtechniken nenne und von juristischen Methoden abgrenze. Das sind Techniken, die dabei kooperieren, Recht wahrzunehmen (auch im Sinne einer Ausübung), die aber nicht juristisch qualifiziert sind, etwa weil sie nicht die Autonomie des Rechts stützen, dem Recht nicht eigen sind. Juridische Kulturtechniken sind heteronom, heterochronisch, heterotopisch: sie tragen dem Recht etwas ein, von dem, was hier und jetzt kein Recht sein muss. Sie tragen das Recht aus, tragen seine Konflikte aus, unter anderem so, wie man auch Zeitungen und Werbung fur eine Pizzeria austrägt. Juridische Kulturtechniken involvieren das Recht in Verhältnisse, die mit Recht nichts zu tun haben sollen. Sie involvieren Verhältnisse, die mit Recht nichts zu tun haben, ins Recht. Sie können dem Recht verwandt sein, dann kann strittig sein, ob es nicht doch juristische Methoden sind. Sie können dem Recht nicht verwandt, aber affin sein, dann dürfte untrittig sein, dass es keine juristischen Methoden sind. Eine Trockenmauer über eine Wiese zu ziehen, das ist keine juristische Methode (man lehrt das u.a. im Bivio am Julierpass ohne juristische Fakultät und ohne juristischen Fachbereich), es ist dem Recht aber affin, damit kann man Eigentum an Grundstücken übersetzen.
Juridische Kulturtechniken sind hilfreich, sie sind, wie Vismann gerne sagte: Helferlein. Der Mauerbau wird auch phänomenologisch, unter anderem von Manfred Sommer in dem Buch Von der Bildfläche als Technik zur Einrichtung von Recht, Richtigem und Rechtem verstanden, weil der Mauerbau ein Beispiel für die phänomenologische Verhäkelung des Subjektes in die Objekte ist. Das Subjekt ist in die Welt eingelassen und tut gut daran, sich auf die Welt einzulassen. Die Forschung zu juridischen Kulturtechniken geht dem nach, Vismann hat das an dem Pflug, an den Akten, an Tischen und Stühlen, an Gerichtsgebäuden und Mikrofonen getan; ich mache das anhand aller der Objekte, die auch in die Geschichte des Bilderstreites involviert sind, sie also auch als Bild und auch im Bild vorkommen können.
Das Recht ist nicht nicht nur für die und wegen der Juristen da, nicht nur für die und wegen der Rechtssubjekte da. Da ist es gut, dass es Kulturtechniken gibt, die übersetzen können und die in Bezug auf die Grenzen des Rechts diagonal oder transversal funktionieren können. Eine der Kulturtechniken, die Warburg bei den Lateranverträgen betrachtet, nennt er in der Einleitung des Atlas Distanzschaffen. Man kann diesen Begriff mit Jherings Begriff der Scheidekunst vergleichen, mit Luhmanns Begriff der Dogmatik oder aber mit Möllers Begriff der Normativität. Allen Begriffen ist gemeinsam, dass sie auf eine Technik zielen, Differenz zu operationalisieren. Sie zaubern keine Differenz herbei und bringen Differenz nicht zum verschwinden. Wenn diese Techniken etwas differenzieren, dann, in dem sie in Anbetracht von Differenz Form geben. Sie zeichnen zum Beispiel eine Unterscheidung ein oder definieren einen Begriff. So etwas soll man nach Warburg als Distanzschaffen verstehen. Eine weitere Kulturtechnik, die auf den Tafeln auftaucht ist das Schreiben, mehr noch: es sind eine Reihe graphischer, auch choreographischer Kulturtechniken, gemeint ist das Schreiben und Unterscheiben eines Vertrages, das Gebärden des diplomatischen Protokolls oder sind Menschenzüge, die später an der Verkörperung einer neuen juristischen Person (in dem Fall eines Staates) teilhaben. Die Kulturtechnik, die mich Anfang nächster Woche beschäftigen wird, weil wir im Forschungskolloqium einen Text von Melanie Merlin de Andrade und Ricardo Spindola zur Anthropofagie und zu Robert Alex lesen ist das Verzehren oder Verschlingen. Warburg zeigt sie am katholischen Beispiel der Eucharistie, also am Beispiel dessen, was Gertrude Bing nach dem Tod Warburgs Das Verzehren Gottes nennt und das man auch Theofagie nennen kann. Manche sprechen, weil der katholische Gott Mensch geworden ist, von Anthropofagie.
4.
Melanie und Ricardo schreiben über brasilianische Anthropofagie. Neben dem Verfahren der katholischen Kirche bildet die brasilianische Anthropofagie den zweiten wichtigen Bezugspunkt der gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Diskussionen über das Verzehren oder Verschlingen des Menschen. Gertrude Bing hat für Warburgs besondere Perspektive einen guten Titel gefunden. Sie hat den berüchtigten, nämlich immer zweideutigen Genitiv gewählt. Das Verzehren Gottes ist ein Vorgang, in dem Gott verzehren oder verzehrt werden kann, er kann verschlingen und verschlungen sein. Warburgs Blick auf die Anthropofagie (die ihn mehr noch als die Theofagie ein Leben lang beschäftigt) ist von der erwähnten Unbeständigkeit und Polarität geprägt, darin kann der Mensch das Wesen sein, das verschlingt. Es kann das Wesen sei, das verschlungen ist oder verschlungen wird. Das Verzehren kann darin Aktion sein, es kann Passion sein. Es kann aktiv sein, es kann pathologisch ein. Es kann nach Warburg eine Pathosformel sein, damit auch eine Form, um Passion in Aktion oder Aktion in Passion wenden zu können.
Die Beziehung zwischen Subjekt und dem Objekt ist nach Warburg nicht unklar, unscharf oder unbestimmt. Sie kann kippen, kann sich wenden, kann sich umkehren. Das Subjekt ist darin so unbeständig Subjekt, wie das Objekt darin unbeständig Objekt ist. Keiner der Zustände ist ursprünglich, keiner der Zustände final. Warburg liefert keine Geschichte und Theorie der Subjektivierung, keine der Verdinglichung. Thomas Melle hat in seinem äußerst lehr- und hilfreichem Buch Die Welt im Rücken (Melle greift wie Warburg auf den Atlas zurück, um die Polarität zu fassen) geschrieben, dass der polare Charakter der entfremdete Charakter schlechthin sei. So verlockend die Beschreibung ist: ich vermute, dass Warburg sie so nicht übernommen hätte, sondern noch einmal verkompliziert hätte. Warburg, damit ist er ein Vorbild für die Kulturtechnikforschung, präsentiert eine Welt, in der das Subjekt vom Objekt getrennt, aber nicht groß getrennt ist und in der jede Trennung ohnhin mit Assoziation und Austauschmanöver einhergeht. Es ist den Objekten verhäkelt, anders gesagt: Es ist den Objekten 'verschlungen' - und diese Verhältnis ist unbeständig, das Objekt kann vom Subjekt also aktiv genutzt werden (es kann die Objekte nutzen), das Subjekt kann aber auch vom Objekt ergriffen werden. Wie das Subjekt Bilder macht, um sich orientieren und die Welt händeln zu können, wie dieses Subjekt von Bildern ergriffen wird, das ist eine, wenn man so will zentrale Fragestellung Warburg, auf die er auch mit seiner Geschichte und Theorie unbeständigen und polaren Rechts reagiert.
5.
Ich freue mich sehr, mit der Präsentation des Textes von Melanie und Ricardo eine Diskussion auf breiterer Basis fortzführen, zu der wir (mit Ricardo und Panu Minkkinen) vor zwei Jahren einen Workshop am MPI organisiert haben. Das war ein erster Workshop zur Anthropofagie (bevor Anthroprofhage, also Prof. Ghassan Hage über den Krieg in Gaza in einen Streit mit der Max-Planck-Geselllschaft geriet), auf dem Ricardo seine Lektüre von Eduardo Viveiros de Castro präsentiert hat. Panu Minkkinen hat seine Arbeit zur Anthropofagie präsentiert, ich habe Warburgs Vorstellungen präsentiert. Man braucht viel Zeit, um in die Details einzusteigen. Um Anna Katharina Mangold zu zitieren: Kennst du einen, kennst du einen! Kein Kannibale gleicht dem anderen, kein Menschenfresser gleicht dem anderen, kein Anthropofage gleicht dem anderen. Melanie arbeitet (jetzt in diesem Text mit Ricardo) an einem größeren Projekt, das Akteure in den Blick nimmt, die Robert Alexy übersetzen. Ich arbeite zu Warburg: da treffen kannibalische Welten aufeinander.
Die These des größeren Projektes von Melanie (und nun auch des vorliegenden Textes) ist, dass das Verfahren der Übersetzung ein anthropofagisches Verfahren ist - und dieses Verfahren eine besonderes Übersetzungsverfahren ist. Sie sagt, dass die Anthropofagie in dem Fall eine Metapher ist. Niemand hat sie Absicht, Robert Alexy zu fressen. Das würde ich mit aktuellem Kenntnisstand nicht bestreiten.
Mein Punkt spielt für ihr Projekt insofern nicht unbedingt eine Rolle. Warburgs Beschäftigung mit der Anthropofagie geht in eine andere Richtung, kurz gesagt: Warburg durchgeht die Möglichkeit des Wahns, damit auch ein Wissen, das zwar sagen kann, ob die Anthropofagie eine Metapher ist oder nicht, das aber beide Antworten geben kann und unbeständig darin ist, welche Antwort im Moment gegeben wird. Dieses Wissen tritt aus dem aus, was für vernünftig gehalten werden soll, um ein aufklärerisches Projekt, nämlich die Frage nach der Vernunft, radikal weiterzutreiben, radikal meint hier: im Abstand zu dem Vertrauen, das sich auf der inneren Seite einer Assoziation ergibt, der Seite, in dem einem die Vernunft ohnehin nicht bedrohlich kommt. Dieses Wissen kann wähnen, das soll es auch. Warburgs Wissenschaft ist damit eine der Wissenschaften, die an die Fiktion gerichtet ist, nicht gegen sie, auch nicht als Basis zum Umgang mit Paradoxien (so könnte man Kelsen verstehen). Diese Wissenschaft ist als Wissenschaft des Artfiziellen, künstlichen und technischen an Fiktionen gerichtet, von denen vorauszusetzen ist, dass sie in gewisser Hinsicht kultiviert, gezüchtet oder gezähmt werden sollten.
Wie Oliver Precht in einem Kommentar zu Oswald de Andrades Manifesten geschrieben hat, steht Oswald de Andrade in einer 'marxilaren Tradition' (vielleicht übersetzt man das am besten so: in der Tradition einer (wie) mit dem Kiefer mahlenden oder zermahlenden Dialektik), in der grundlegende Unterscheidungen und Gegensätze zu destabilisieren und zu beunruhigen. Zu de Andrade kann ich nicht so viel sagen, zu Warburg kann ich sagen, dass seine Wissenschaft nicht destabilisiert oder beunruhigt. Sie geht elementar von der Unbeständigkeit aus und soll mit der Unbeständigkeit umgehen. Das Verhältnis zwischen Stabilität und Bewegung kennt darin prinzipiell keinen Vorrang, auch wenn davon ausgegangen wird, dass Stabilität und Bewegung miteinander reigen, sich aufreihen, immer wieder neue Rangfolgen bilden können und so das eine zum anderen werden kann). Nomos und Physis müssen darin gar nicht destabilisiert oder beunruhigt werden werden, sie sind darin unbeständig und man muss ein Verfahren entwickeln, mit dieser Unbeständigkeit umzugehen.
Das Manifest ist eine Literaturgattung für Revolutionäre, nicht für Bankiers, die ihren Namen ja doch auch von jenem Sitz der Bank haben, der eine Institution ist, weil er aufsitzen, situiert sein und damit mehr oder weniger anspruchsvoll Zeit durchhalten, also warten oder erwarten lässt.
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