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theaterformen-blog · 7 years ago
Text
April 1994.
Samedi Détente. Eine Choreographie des Überlebens.
1994 war ich drei Jahre alt. Ich frage meine Mama, was habe ich gemacht, im April 1994? 
Also ich möchte das nicht. Ich möchte diesen Text nicht schreiben, ich möchte mich nicht erinnern. An das Singen, an die Stimme, an die Geschichte. Möchte nicht wiederholen, was ich gesehen habe, möchte es nicht nochmal erleben, ich möchte das nicht. Ich kann nur hier sitzen mit meinem Ekel, meiner Schuld, meiner Scham, meiner Demut, meiner Übelkeit.
Und Sie? Wo waren Sie im April 1994?
Dabei habe ich mir das doch so gut überlegt: Samstagabend ins Theater, gucken, staunen, zuhören, Sonntagfrüh schreiben, veröffentlichen. Einfach, professionell halt. Und jetzt sitze ich hier und möchte nicht und habe keine Wahl. Es gibt keine Wahl. Ich muss diesen Text schreiben. Ich muss mich erinnern. An das Singen, an die Stimme, an die Geschichte. Ich muss zuhören, weil erzählt werden muss, was geschehen ist. Weil jemand diese Ode singen muss für und an all die Menschen, die da waren, mit uns, im April 1994. All die, die es jetzt nicht mehr sind, all die Geschichten derer, die selbst nicht mehr erzählen können. Munyaneza erinnert an diejenigen, die nicht mehr da sind, indem sie ihre Namen nennt.
“Hallo Mama! Sag mal, weißt du noch, was ich im April 1994 gemacht habe?”
“Vierundneunzig? Oh, das kann ich dir gar nicht so genau sagen. Im April? Vielleicht Ostereier gesucht...?”
Ich weiß eigentlich schon zu viel, als ich den Saal des Kleinen Haus betrete. Ich hab mich innerlich vorbereitet, ich weiß, was jetzt kommt. Nach der kurzen Einführung von Martine Dennewald zu „Samedi Détente“ weiß ich grob um die Umstände des Genozids in Ruanda 1994 und die künstlerische Herangehensweise von Dorothée Munyaneza, Regeisseurin und Performerin von „Samedi Détente“. Ich weiß, dass sie mit Musik arbeitet, mit Sound, mit der eigenen Stimme, ich weiß, dass sie Tänzerin ist, Schriftstellerin, Choreographin. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was jetzt kommt.
Doch dass ich es nicht in Worte fassen können werde, ist mir noch nicht klar. 
Ich könnte sagen, dass es ein stimmiges Bild ist, was Nestor Kouamé, Alain Mahé und Dorothée Munyaneza da auf die Bühne bringen. Ich könnte sagen es ist bild- und stimmgewaltig. Aber alle diese Phrasen gehen völlig am Ziel vorbei. Weil es nicht zu beschreiben ist, wie Dorothée Munyaneza da auf einem Tisch steht, in der Mitte der Bühne und, so habe ich den Eindruck, ihren ganzen Schmerz in die eigene Stimme legt, ihr Leid, das auch das Leid einer ganzen Generation ist, mit ihrem Körper auszuwringen versucht. Ich kann dem nur zuhören und zusehen. Jetzt. Und damals? Wer hat damals zugesehen? Und nichts getan. 
So wie Nestor Kouamé, der seinen Körper zu Klängen von wetzenden Messern und dem Schlagen von Klingen auf Holz bewegt. Der Klang, der seinen Körper bewegt. Und auch das einfach Tanz zu nennen, ist nicht genug. Meine Sprache hört hier auf.
Ich finde es zu wenig, dieses wirklich tolle, allumfassende, berauschende Theatererlebnis auf seine Thematik zu reduzieren. Denn das war es vor allem: Wirklich gut erzählt. “Samedi Détente” ist ein ästhetisches, stimmungsvolles und energiegelades, gutes oder auch gelungenes Stück ist. Und: Es ist ein wichtiges Stück.
Im April 1994 war ich drei Jahre alt. Ich habe vielleicht Ostereier gesucht, während in Ruanda in kürzester Zeit mehrere hunderttausend Menschen umgebracht worden sind. Ich kenne diese Geschichte jetzt. Jetzt ist sie auch in mir. Damals konnte ich nichts tun. Und was jetzt? Jetzt kann ich nur zuhören, mich erinnern, kann die Geschichten weitertragen, denn das ist die einzige Lösung: Von den Ungerechtigkeiten und vom Schmerz erzählen, in der Hoffnung, dass es sich nicht wiederholt.
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Text: Kyra Mevert Foto: Andreas Greiner-Napp
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