#aubeutung
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bookshelfdreams · 3 years ago
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Gerade ist mir wieder dieser taz-Artikel vom letzten November in die Hände gefallen, über den ich mich damals sehr aufgeregt habe. Also lasse ich euch alle an meinem Leid teilhaben.
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Es geht um das Thema häusliche Pflege, genauer, um 24-Stunden-Betreuung durch (meist) ausländische Pflegekräfte. Eine Branche, in der Aubeutung die absolute Regel ist, in der Mindestlöhne und Ruhezeiten unbekannt sind, und in der hauptsächlich osteuropäische Arbeiterinnen angestellt sind, weil sich das kein venünftiger Mensch antut, der einfach nach Hause gehen kann. Und setzt sich der Artikel kritisch mit diesen wirklich skandalösen Arbeitsbedingungen auseinander?
Nee. Stattdessen haben wir eine gefühsduselige Schmonzette darüber, wie unwahrscheinlich nett doch alles bei der Autorin ist.
Meine Mutter ist 75 Jahre alt und seit etwa fünf Jahren ist uns klar, dass sie Demenz hat. Sie weiß, wie wir heißen, und kann sich sogar unsere Geburtstage merken, ist aber jeden Morgen aufs Neue verwirrt, in ihrem Haus im Münchner Süden aufzuwachen, das sie seit über 40 Jahren bewohnt.
Ah ja, Demenz. Gern jahrelang ignoriert, bis es dann auf einmal wirklich nicht mehr geht, die Leute den Herd anlassen, bei Minusgraden ohne Schuhe auf die Straße rennen, regelmäßig die Wohnung unter Wasser setzen. Wenn jemand sein eigenes gewohntes Umfeld nicht mehr erkennt, ist das schon sehr weit fortgeschritten - und das ist jemand, der sehr viel und sehr aufwendige Betreuung braucht.
In allen Räumen hängen Fotos von uns und von engen Freunden, alle beschriftet: „Das sind Deine Enkelkinder, sie sind 9 und 6 Jahre alt.“
Kleine Whiteboards stehen auf der Anrichte im Esszimmer, auf dem Fensterbrett, im Badezimmerschrank. Meine Schwester hat mit bunten Stiften Erinnerungen, mit Blümchen oder Girlanden verziert, darauf geschrieben: „Liebe Mutti, bitte duschen nicht vergessen“, „Am Donnerstag kommt der Florian und macht Sport mit Dir“, „Samstagabend holt dich Christl zum Geburtstagsessen ab, Magda wird 70“.
Geil, solche Angehörigen liebe ich. Schön der Mutti ihre Erkrankung immer wieder unter die Nase reiben, das wird helfen.
Denn auf Unsicherheit und Angst gedeihen Aggressionen, gern auch gegen die Pflegekraft.
Ah jetzt bekommen wir mal ein Bild von Muttis Persönlichkeit und Krankheitsbild. "Gern auch" darf hier wohl als "vor allem" gelesen werden. Und das ist übrigens nicht grundsätzlich so, viele an Demenz Erkrankte sind durchaus höflich und freundlich. Das macht übrigens die Täfelchen nochmal kontraproduktiver.
Jetzt erfahren wir ein wenig über Marcelas (so heißt die Pflegerin, sie ist erst 27) bisherige Berufserfahrung:
Die alte Frau war ebenfalls dement. Darüber hinaus litt sie unter Schlafstörungen, Panikattacken und Wutanfällen. „Ich musste jede Nacht mehrmals aufstehen, manchmal sogar zehn Mal, weil meine Patientin aus dem Bett gestürzt war. Wenn sie wütend war beschmierte sie die Wände mit Kot, schlug mich und zog mich an den Haaren.“
Und da sehen wir eines der vielen grunsätzichen Probleme. Vergessen wir Arbeitszeit und Stundenlohn; kein Mensch, der eine Alternative hat, würde sich sowas antun. Keiner. Keiner würde sich auf Arbeit regelmäßig schlagen und beschimpfen lassen. Im Heim oder Pflegedienst kann die Pflegekraft gehen (und tut das auch). Wenn jemand nicht zu bändigen ist, wird der Notdienst gerufen. Marcela lebte bei der Patientin im Haus, hunderte Kilometer weit weg von zu Hause, mit der Drohung einer hohen Vertragsstrafe im Hintergrund sollte sie gehen. Zugegeben, das Letzte stand nicht im Artikel, ist aber branchenüblich.
Später geht es auch noch um Marcelas Familiengeschichte: dass sie sich um ihre suchtkranken Eltern kümmert, zu Hause praktische Alleinverdiener ist, mehrere kleine Geschwister hat, die sie großziehen musste, selbst mit schweren psychischen Probemen zu kämpfen hatte und hat. Es bracht kein Studium, um ihr ein ausgewachsenes Helfersydnrom fernzudiagnostizieren. Der ideale Persönichkeitstyp, um in so einem Arbeitsverhältnis ausgebeutet zu werden, und der Autorin ist das ganz offenbar bewusst. Von Fürsorge keine Spur.
Aber weiter im Text.
Meine Mutter ist zum Glück kein allzu schwerer Fall.
lmao, das hat sich aber oben ganz anders angehört. Wenn sie ein leichter Fall wäre, bräuchte sie ja wohl niemanden, der bei ihr im Haus wohnt. Etwas weiter unten im Artikel finden wir das:
Sie weiß mittlerweile auch, dass den Infomails der Agentur nicht ganz zu trauen ist. „Ruhige Frau, 65 Kilo schwer“ steht etwa über meine Mutter darin. Das ist schwer untertrieben: Die Wahrheit liegt knapp 30 Kilo und einige Dezibel darüber.
Der Artikel beginnt übrigens damit, dass es endloses Gebettel und Diskussionen braucht, bis die gute Frau sich waschen lässt. Ich fasse zusammen: Über 100kg, schwer dement aber noch einigermaßen mobil (schlechte Kombi, dann machen die Patienten gern Blödsinn), laut, stur, gelegentlich körperlich aggressiv. Und das soll "kein allzu schwerer Fall" sein.
Wie auch immer. Die Autorin gibt uns eine kurze Beschreibung von Marcelas Aufgaben:
Klar, sie ist vor allem hier, um meiner Mutter morgens und abends ihre Tabletten zu reichen, einzukaufen, Essen zu zubereiten, das Haus sauber zu halten, sie beim Waschen zu unterstützen. Mit ihr zu spielen, fernzusehen, sie bei Laune zu halten. Und sie abends schließlich ins Bett zu bringen, mit einer Windel, damit es keine Unfälle gibt.
Also Betreuung UND den kompletten Haushalt inkl Besorgungen, da sind Pausenzeiten nicht drin. Wenn sie nicht aktiv arbeitet, hat sie Bereitschaft, und das für wie viel Geld? Werden wir noch erfahren.
Am Ende ihrer drei Monate langen Schicht fällt sie nahezu in sich zusammen.
Wundert mich nicht. Arbeite du mal 3 Monate lang durch, 24/7, keine Wochenenden, keine Feiertage, keine Pausen. Und das erzählt die Autorin, als wäre es was völlig normales.
Rund ein Dutzend Pflegerinnen hatte meine Mutter in den letzten fünf Jahren. Einige davon mehrmals.
Die meisten sind aber nie wieder gekommen, frag dich mal, warum.
Aber was ist mit Marcela? Ist sie zufrieden mit ihrem Job?
Girl, du bist ihre Chefin! Wie kann man nur so eine Frage stellen und erwarten eine ehrliche Antwort zu bekommen, meine Güte.
Aber egal, lassen wir die endlosen Ausschweifungen, wie wahnsinnig glücklich Marcela darüber ist, gerade von dieser taz-Autorin ausgebeutet werden zu dürfen, und reden wir über's Geld:
Bezahlt bekommt Marcela K. von allen in etwa dasselbe. Rund 1.300 Euro im Monat, etwas mehr als die Hälfte dessen, was wir monatlich bezahlen.
lkfsökjfjkhsjldskhf WAS. Rechne das mal runter, das sind bei 30 Tagen im Monat 55ct pro Stunde. Alter.
(Ich gehe von 24 Stunden Dienst aus, da Bereitschaftszeiten auch bezahlt werden müssen, und wir sehen, dass Marcela tatsächlich NIE frei hat)
Dafür soll sie eigentlich rund um die Uhr auf Abruf bleiben – auch wenn die Agenturen sich mit der Bitte an ihre Kundinnen wenden, für ausreichend Freizeit zu sorgen. Es bleibt aber ein Appell. Wer soll das schon kontrollieren?
Du! Du sollst das kontrollieren, du bist der Arbeitgeber, du hast eine Fürsorgepflicht, Himmelarsch! Du hast dafür zu sorgen, dass Marcela Freizeit hat. Und wenn das so wäre, wenn du das tun würdest, dann hättest du das ja wohl gesagt, so wie du dich hier über den grünen Klee lobst.
In Deutschland wiederum bekäme meine Mutter für 2.500 Euro kaum ein gutes Zimmer in einem Pflegeheim. Und für halbwegs wache Menschen wie sie wäre das wohl auch nicht das Richtige.
Weil Pflege Geld kostet! Weil Leute bezahlt werden wollen! Wie schlimm! Und solange sich jemand noch mehr oder weniger äußern kann, darf er natürlich auf keinen Fall ins ach so böse Pflegeheim.
Jetzt geht es noch ein bisschen um negative Erfahrungen, die die Autorin gesammelt hat:
Eine andere Frau, wegen ihrer Resolutheit wärmstens von der Agentur empfohlen, stellte klare Bedingungen: Um täglich eine gewisse Zeit frei haben zu können, schlug sie vor, unsere Mutter so lange einzusperren, damit die nicht weglaufen könne. (...) Panisch riefen wir bei der Agentur an, baten um kurzfristigen Ersatz.
Da hat die Kollegin tatsächlich auf Freizeit bestanden, hat man sowas schon gehört >:(
Die meisten Pflegerinnen, die wir kennen gelernt haben, haben diesen Job mit zusammen gebissenen Zähnen gemacht. Mit Leidensfähigkeit und dem Blick fest auf den Termin der Ablösung.
Verständlich.
Marcela K. ist eine Ausnahme, die wir mit Geld nicht aufwiegen können.
Also versuchst du es gar nicht erst, nicht wahr <3 Ich will dich mal sehen, wie du so einen Job machst und dann am Ende des Monats immer noch ein Lächeln im Gesicht hast. Nur weil es Leute mit so geringem Selbstwertgefühl gibt, dass sie solche Arbeitsbedingungen akzeptieren, heßt das nicht, dass das keine Ausbeutung ist.
55ct. Aber sie wird ja "wertgeschätzt". Ich könnte kotzen.
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anon-buerger · 11 years ago
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Im Alter fehlt das Geld, das man heute nicht hat. FAZ gibt Tipps
Die Gesellschaft wird im Alter ärmer. Sie wird nicht hungern, aber weithin verarmen. Die FAZ gibt nüchterne Hinweise auf das eigentlich nötige Geld, welches Privatpersonen monatlich zusätzlich zum Ansparen haben sollten, aber wohl oft nicht wirklich haben. Oder sie richten sich eben in ärmeren Verhältnissen ein.
Die Demografie erfordert Anpassung. Gibt es dafür auch einen Rettungsschirm?
Wo sind unsere Milliarden?
Die Milliarden die uns geholfen hätten, die sind wohl in Richtung Finanzindustrie geflossen. Sicherlich, auch dort haben unsere Steuergelder einigen Flurschaden abgewendet. Hilflose Mit-Investoren (z.B. Fondssparer, Zusatzrentenversichetrte, etc.) wurden mit gerettet. Aber vor allem wurden mit den nordwesteuropäischen Steuergeldern über den Umweg der südeuropäischen Krisenländern doch vorwiegend die internationalen privatwirtschaftlichen Finanzakteure gerettet.
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