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#Veronesergrün
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Veronesergrün Streifzüge durch die Stadt Essen von Pascal Bovée In der Fensterscheibe hinter der Lidl-Kasse schwebt eine schwarze Wolke vorbei. Die Kassiererin lässt sich dadurch von ihrer guten Laune nicht abbringen. Jedem Kunden in der Schlange gibt sie passend zu seinen Produkten einen aufmunternden Scherz mit auf den Weg. Der Student hinter mir wirkt bereits etwas ängstlich. Gleich wird er vier vegane Pizzen kaufen.
»Dieses Aprilwetter ist ja wirklich nich' Fisch und nich' Fleisch!« Das sagt die Kassiererin natürlich nicht. Sie lächelt den Veganer auch nicht an, um ihm mitzuteilen, dass ihr der Regen draußen Wurst sein kann, weil sie noch sechs Stunden Pizzen scannen muss. Das ist wieder nur meine Fantasie, die das Nordviertel bunter malt als es ist. An diesem unentschlossenen Tag, zwischen Discounter-Parkplätzen, Wahlwerbeplakaten für mehr Sicherheit und Spaziergängen durch von Baggern umgestülpte Parks müssen die Farben von anderswo kommen. Zum Beispiel aus dem Metallständer mit Reiseprospekten neben der gekachelten Warenablage. Blaues Meer und strahlend weiße Sandstrände haben Lidl und Photoshop dort für mich drapiert. Gern träume ich mich für einen Moment ans Mittelmeer.  
Als ich nach dem Bezahlen, ich habe eine Flasche Wasser gekauft (»Noch nicht nass genug draußen?«), schließlich wieder auf dem Lidl-Parkplatz unter der schwarzen Wolke stehe, holt mich die graue Realität schon wieder ein: Ich bin Künstler und kann mir momentan kein Mittelmeer leisten. Mit einem anderen Lebenslauf, gerader als dieser, läge ich jetzt natürlich längst in diesem weißen Sand an diesem blauen Meer, genösse die intensiven Farben Südfrankreichs. Hilft nichts, Ärmel hochkrempeln! Ich fasse den Entschluss, gleich hier im Essener Nordviertel nach mehr Farbe zu suchen.
Weiße Strände erwarte ich nicht. Aber ich habe mitbekommen, dass gerade die Uni ihre Türme bunt einkleidet. Auf der Webseite erfährt man mehr dazu: »Leuchttürme des Wissens« nennt es sich. »Der T01-Doppelturm vereint viel Grün mit einem etwas offeneren Farbspektrum, das die übergreifend arbeitende Zentralverwaltung symbolisiert.« Viel Grün. Zentralverwaltung. Irgend etwas daran stimmt mich skeptisch ... Ich umkreise die Uni im Nordviertel erstmal zu Fuß und betrachte die neu kolorierten Türme von allen Seiten. Ein bisschen sehen sie nach Lego aus, das gefällt mir. Allerdings sind irgendwann die grünen Achter ausgegangen, die Farben wechseln ziemlich kleinteilig. Dass die bunten Türme die Orientierung hier im Nordviertel erleichtern, worüber sich der Universitätsdirektor in der Pressemitteilung ausgesprochen freut, kann ich bestätigen. Das Konzept, zusammen mit dem Künstler Horst Gläsker entwickelt, verweist auf das »charakteristische Essener Farbleitsystem«, für das die Universität steht. Mich von Farbe leiten lassen, warum nicht. Langsam nähere ich mich dem Campus.
Ich schlängle mich durch den Segeroth, das ehemalige Arbeiterviertel im Norden des Zentrums, auf die Uni zu. Da verziehen sich die Wolken schon wieder, die Sonne fällt in einen Hinterhof, in den ich einen verstohlenen Blick werfe. Ausgeschlachtete Autos mit verblasstem Lack, ein bohnengrüner Mercedes, ein aufgebockter Trabant und dazwischen eine Buddha-Statue, die mich entspannt anlächelt. Wilder Norden? Das hat man früher mal zum Segeroth mit seiner bunten Bevölkerungsmischung gesagt, habe ich gelesen. Politische Auseinandersetzungen habe es hier gegeben, Kommunisten, die in der Mehrzahl waren, kämpften gegen Nationalsozialisten, bis das Viertel von den neuen Machthabern »saniert« (teilabgerissen) und »gesäubert« wurde, inklusive Abtransport der vielen Roma, die hier lebten und auf die eine Metallplatte in der Schlenhofstraße hinweist. Warm wird mir plötzlich. An einem Stehtisch unter einer Markise, nehme ich meinen Schal ab. »Erfrischungen« steht an der Trinkhalle. Ich könnte eine Limo bestellen und mich nochmal wegträumen, die Markisen sind offen, doch die Rollläden dicht. Im Segeroth trinke ich Wasser vom Lidl.
Den Schal schon wieder umlegend, die Wolken sind zurück, passiere ich einen riesigen, innovativen Parkplatz mit drei Ladestationen für Elektroautos. Er gehört dem Energiekonzern, dessen Werksgelände der Uni gegenüberliegt. Das Eingangstor in der Blumenfeldstraße ist konsequent beklebt mit Antifa- und Anti-Atom-Aufklebern. Vielleicht von jemandem aus dem Haus auf der anderen Straßenseite? »Hero House« steht dort mit Filzstift über die Haustür gekritzelt. Daneben vermietet jemand namens Bonie Sportwagen und Luxusfahrzeuge. Das Garagentor seines Autoverleihs »Happy Drive« sieht so aus, als könnte ich das bezahlen und an die Côte d'Azur oder die Riviera Durchbrennen. Bonie riecht das Geschäft und kommt sofort aus dem Hero House, um mich anzusprechen. Trotz guter Argumente bleibe ich diesmal vernünftig und überquere die Gladbecker Straße zu Fuß.
Hier, neben dem Hörsaalgebäude der Universität, beginnt ein Neubauviertel. Es heißt »grüne mitte«. Da ich das Grün erst auf den zweiten Blick bemerke, weist mich vorsichtshalber ein Schild darauf hin, bis die Bäume hier hoch genug sind. In lang gezogenen Betonbecken bauscht Schilf. »Baden verboten.« Ich frage mich, ob schon jemand auf diese Idee gekommen ist und lese auch die anderen Schilder. Das Füttern der Enten und Gänse ist ebenfalls nicht erlaubt, auch nicht das Klettern auf ein Gerüst, das Nutzen eines Privatwegs. Ein netteres Schild hat das kommunale Bauunternehmen Allbau aufgestellt. Es wirbt für das Projekt »Pier 78«, das quasi die Initialzündung zu diesem Viertel war, wie ich erfahre. Direkt am Wasser kann man seitdem hier wohnen. Das lockt neben Investoren auch gut situierte Mieter und Wohnungseigentümer. Einer ist ungefähr vier Jahre alt, arbeitet schon bei Innogy und fährt seinen weißen Sportwagen umweltbewusst als Elektroauto. Die ökonomische Ausstrahlung auf den Segeroth zeigt sich, es ist der Typ Auto, den Bonie mir im Happy Drive verleihen wollte. Ich setze mich auf eine Bank und sehe zu, wie der Junge so lange immer wieder gegen einen gestreiften Begrenzungspfahl fährt, bis seine Oma das Steuer übernimmt.
Auf der Bank fällt mein Blick wieder auf die ordentlichen Wasserbassins mit dem Schilf. Die Betonbecken sind grau, dafür die Passanten bunt. Es ist geschäftig hier, nicht nur Shoppende aus dem Einkauszentrum Limbecker Platz spazieren vorbei. Jugendliche gegenüber hören türkische Pop-Musik, ein Mann mit BVB-Kappe unterhält sich angeregt auf Französisch, ich denke schon wieder ans Mittelmeer.  Eine nach Dozentin aussehende Frau in den Vierzigern rauscht im grauen Rock auf dem Steproller vorbei. Ein beliebtes Verkehrsmittel hier, ebenso wie Fahrräder. Die meisten Verkehrsteilnehmer tragen wie die Dozentin ordnungsgemäß Helm, bis auf einen Jungen mit tiefergelegtem Shopper-Rad, der aber immerhin ordnungsgemäß anhält, um auf dem Smartphone seinen Soundtrack zu ändern und ein kleines Mädchen auf einem weißen BMX, das Enten verfolgt. Es gefällt mir hier inzwischen ganz gut, aber ich muss noch meinen Auftrag erfüllen: Essens Farben warten auf mich. Ich beschließe, das charakteristische Farbleitsystem zu testen, indem ich auf dem Campus nach einer Toilette suche.
Bereits der Empfang im Innenhof ist farbig. Superhelden in roten, grünen und gelben Kostümen haben sich vor dem Lego-Turm versammelt und werben für eine »MINT«-Party. Leider muss ich schon zu dringend, um sie zu fragen, ob sie im Hero House wohnen. Ich steuere auf den erstbesten Eingang zu. V05 T00 A91 ist die Raumnummer der Toilette, die ich mir auf dem Handy herausgesucht habe und jetzt mithilfe des Farbleitsystems möglichst schnell finden möchte. Was mich als assoziativ denkenden Menschen noch nicht verwirren kann, ist die etwas eigenwillige Kombination der Farben mit den Buchstabenkürzeln der Trakte beziehungsweise Räume. S steht für Sandgelb, V für Veilchenblau. Ich bin in einem grünen Trakt gelandet, der konsequenterweise mit einem T bezeichnet wird. Tannengrün. Über die schwere grüne Brandschutztür, vor der ich stehe, ist allerdings ein großes B gemalt. Leider habe ich keine Ahnung, für welche Farbe es steht. Vermutlich liegt die Antwort hinter der Metalltür, die man nicht verkeilen, verstellen, festbinden darf oder ähnliches, wie zur weiteren Verstärkung der Sicherheit vermerkt ist. Ich ziehe kräftig an der Klinke. Hinter der tannengrünen Tür mit dem B liegt ein sandgelber Gang. Moment, ist Sand nicht weiß? Ich denke schon wieder an den Discounter-Strand, Frankreich, Griechenland, Italien, um mich vom Harndrang abzulenken, aber es klappt nicht recht. Durch die lange Flure eilend erweitert sich mein Farbspektrum nach und nach erheblich. Noch mehr Korridore, Gedankengänge, rote Brandschutztüren mit großem E darüber, Treppen mit veilchenblauen Geländern, schon wieder der gelbe Trakt? Schneller als gedacht sind meine Farbrezeptoren überreizt. Vor allem zuviel Gelb für einen, der ein veilchenblaues Klo sucht. »Gelb wie die Gemälde von sieben Kornfeldern übereinander gelegt«, kommentiert Ulrike Almut Sandig, der ich im Gang begegne. Sie ist hier gerade Poet in Residence, zumindest in meiner Fantasie, aber wo die Toilette ist, weiß sie auch nicht. Ich erkläre ihr anhand des Raumes vor uns erstmal die Farbsystematik, »Das ist ganz einfach. S07, das steht für Sandgelb, wie Sandig. Kornfeldgelb, also K07 gibt es nicht«. Oder doch? Mir fällt auf, dass ich langsam verrückt werde. Das sind die Farben, dafür war ich schon immer zu aufnahmefähig. Ich nehme die nächste Brandschutztür, von überall leuchtet jetzt Grün, aber irgendwie leitet mich das nicht in die Toilette, sondern in die Irre. Van Gogh hat bei seinem Bruder Theo sechs große Tuben Veronesergrün (V06) bestellt, bevor er Armand Roulin gemalt hat, der in Essen im Museum hängt. Leider hat der Niederländer nachher auch ein paar Farbtuben verschluckt, wurde immer verrückter von der Farbe und irrte dann durch die Korridore des Hospitals von Arles. Genie und Farbe liegen dicht beieinander, die Parallele wischen Arles und Essen ist nicht mehr zu übersehen, auch ich bin in diesen Gängen ein Holländer in der Fremde. Aber doch ganz sicher kein van Gogh!  Eher beginne ich, mich mit Armand Roulin zu identifizieren, der in Gelb gehüllt stillhalten soll und eigentlich längst aufs Klo muss, als er gemalt wird. Ich muss hier jetzt raus.
In der grünen Mitte habe ich ein Seniorenheim gesehen, dort werde ich mich aufs WC mogeln. Online checke ich nochmal schnell, wo es war und falle aus allen Wolken. Farbleitsystem! Auch für die Senioren! Nein Essen, Sandgelb und Tannengrün bis ins hohe Alter, das kann ich unmöglich! Vom einen Farbraum in den anderen, RGB-Raum, CMYK-Raum, Snoezelraum, aber ich muss doch! Kurz nehme ich die Betonbecken mit dem Schilf als große Kloschüsseln wahr. Darin darf man ja sowieso nicht baden – doch ich bin zu verantwortungsbewusst. Was, wenn der Junge mit dem weißen Sportwagen vom Happy Drive das Verbotsschild noch nicht lesen kann? Ich laufe ziellos umher, eine rostrote Metalltreppe hinauf, ein Künstler hat sie aufgestellt, sie endet im Himmel, auf einem Balkon. Von hier oben zeigt sich die Mitte grün, wie sie ist. Nicht Tannengrün, T, Reißbrettgrün, R. Planergrün. »Die 78 grünen Wohneinheiten fügen sich wie Aktenordner ins Regal der erweiterten Universitätsbibliothek«, stelle ich mir das Schild einer Baugesellschaft vor, das es so nie geben wird. »Essen, wie grün bist du wirklich?«, riefe ein Mutigerer als ich in dieser Vorstellung von diesem Balkon mitten in die neu gebaute Mitte der Stadt. In der Malerei ist Farbe häufig nach dem Ort ihrer Herkunft benannt, Veronesergrün aus Verona. Essenergrün von hier. Essen ist grüne Haupstadt Europas. Wer pinkelt denn da vom Balkon?  
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................................................................................................................................ Pascal Bovée begibt sich als “Writer in Residence” bei PACT auf die Suche nach dem Unbekannten im Vertrauten. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt Essen untersucht er seine unmittelbare architektonische und geografische Umgebung und beleuchtet ihren Einfluss auf seine Wahrnehmung und sein Erleben. Dabei entstehen psychogeographische Reiseberichte voller abseitiger Details und überraschenden Neuentdeckungen in Essen und seinen Grenzbereichen. Dort wo Dinge aufeinander treffen, sich abstoßen oder ineinander verschmelzen ergeben sich neue Fragen, neue Denkanstöße, neue Enden und neue Anfänge. Bovée erklärt die Peripherie zum Zentrum, und rückt dadurch das was unserer Aufmerksamkeit im Alltag entgeht, in unser Sichtfeld. As Writer in Residence at PACT, Pascal Bovée, sets out to explore the city of Essen considering in the process his immediate environment in terms of architecture and geography and examining how these influence his perception and experiences. The results are psycho-geographical travel reports full of arcane details and surprising discoveries. 
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Veronesergrün – Fortsetzung
Streifzüge durch die Stadt Essen von Pascal Bovée
Die Details meines Toilettengangs erspare ich Ihnen, aber meine Rettung ist das »Grossstadt Deli«, ein Premium-Café mit drei S in der Mitte und zwei Toiletten neben der Theke (P01 S03 T02). Ich gönne mir dort einen Cappuccino und greife nach den beiden Magazinen, die auf dem Tisch liegen. Playboy und Gentlemen Quarterly. Beide beschäftigen sich in der aktuellen Ausgabe mit »Chronometern.« Der Reporter von GQ hat den »27. Salon International de la Haute Horlogerie« besucht und mir die wichtigsten Trends aus Genf mitgebracht. Besonders innovativ/zeitlos/klassisch: die geniale Da Vinci. Neun Zeiger auf dem Zifferblatt. Das ist nicht verwirrend, das ist chronisch. Für den Maler, Erfinder, Allrounder. Für den, dem Zeit unbezahlbar ist und der mit dieser Armbanduhr aus ihr emporsteigt wie nach seiner Renaissance. Zeit zum Erobern, Motto: »Veni, Vidi, Da Vinci«. Ein Grund zum Feiern auch der Luminator. »Eine Sensation«, bemerkt der GQ-Reporter zurecht: Das Display erstrahlt in Veilchenblau. Selbst die Haute Horlogerie lässt sich vom Essener Farbleitsytem inspirieren? Da winkt der Red Dot Design Award. Die 50000 Euro ließe auch ich mir den Luminator gerne kosten, könnte man in Genf damit bezahlen. Kann man?
Der Student am Tisch gegenüber weiß das vielleicht, er versteht etwas mehr von Wirtschaft. Gleich werde ich ihn danach fragen, aber im Moment ist er zu sehr ins Schwärmen geraten. Er möchte gerne hier wohnen. Zwischen Uni und premium Deli, in der grünen Mitte der Grossstadt.
»Gross«, sagt eine amerikanische Studentin mit türkisen Fingernägeln. Sie sitzt an einem anderen Tisch und lacht. Ich lese mittlerweile Playboy und bringe deshalb die beiden Gespräche durcheinander.
»Ist mir heute morgen irgendwie zum ersten Mal aufgefallen, wie geil das wäre«, sagt der BWL-Student.
»Echt?« Seine Kommilitonin wundert sich, glaube ich, aber lächelt genauso trainiert weiter wie vorher. Leonie heißt sie. Mir fallen die Namen der Schülerinnen aus der dritten Klasse ein, die ich vorhin von einem Schild an der Nordviertelgrundschule abgeschrieben habe. Ich krame im PACT-Rucksack. Schaimah, Hülya, Sarmina, Rachida, Marijan, Yasmin, Stefania, Meroua, Princess. Und Leonie. Statistisch betrachtet wird nur eine von ihnen Abitur machen. Und zwischen den Uni-Seminaren hier Kaffee trinken?
Gross: Im Editorial des Playboy verteidigt der Sohn des Magazingründers Hugh Hefner seine Freiheit gegen Donald Trump. »That makes a lot of sense«, sagt die amerikanische Studentin. »Hab mal die Eigentumspreise gecheckt«, sagt der junge Ökonom. Er meint es ernst mit der Investition in der grünen Mitte. Ich stelle mir vor, wie Leonie und er hier eine Wohnung kaufen, eine Familie gründen und ihre Tochter auf die Nordviertelgrundschule schicken. Zwölf Jahre später schreibt sie sich an der Uni Essen ein. Sie geht zur Vorlesung in einen veilchenblauen Raum. Betriebswirtschaftslehre.
Der Manager, dessen Profilbild der Student seiner zukünftigen Frau jetzt auf dem Handy zeigt, hat »den krassesten Lebenslauf, den du je gesehen hast.« Er hat bei mehr Marktführern gearbeitet als Moritz Bleibtreu Nacktmodels kennt, auch wenn das seinem Playboy-Interview zufolge einige sein müssen. Der Schauspieler spricht über den Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Frauen. Locker room talk contra Trump. Meine Fantasie betritt schon wieder einen anderen Farbraum. 2022. Die 45. Präsidentschaft ist vorbei. Donald Trump ist jetzt wieder ganz normaler Bauunternehmer. Durch die Glastür betritt er das Essener Grossstadt-Deli, um sich mit einem smarten, jungen Immobilienfonds-Manager zu treffen, der mit seiner jungen Familie gleich hier um die Ecke wohnt. »Welche Rendite bringt es, wenn ich hier in nachhaltige Stadtentwicklung investiere?«, fragt der Ex-Präsident und blättert im Playboy.
Wollte der nicht aufhören mit nackt? Das Magazin, meine ich. Ich blättere zurück zum Editorial, vorbei an Models, deren Nationalität mir weniger eindeutig erscheint als den Experten aus der Schauspielbranche und lese vorne das Motto der Ausgabe: »Back to the Boobs.«
»Das ist mega, oder?«, sagt der Student. Und meint noch immer die Vita seines Vorbilds, das nur zwei Jahre älter ist als er, aber schon ein Dutzend internationale Stationen weiter. Leonie nickt, aber ist mit den Gedanken woanders.
Da bekomme ich einen Ohrwurm. Ab in den Süden. In welchem Jahrzehnt leben meine Ohrwürmer? Oder war das der Titel des Urlaubsangebots von Lidl? Ich liege am südfranzösischen Strand, Hauptberuf Playboy. Ich trage Da Vinci. Ich kite-surfe, verbessere nachmittags mein Handycap und trinke abends Cocktails auf der Privatjacht von Sarkozy. Inspiriert dieses Viertel zu krassen Karrieren? Ich klappe den Laptop zu.
Für Karriere ist es nie zu spät, aber mit Verstand. Also gehe ich direkt zur Agentur für Arbeit am Freistein. Der Weg führt wieder durch die Blumenfeldstraße. Blumenfeld war der Gründer des Männergesangsvereins, steht auf dem Straßenschild, von Tannengrün könnte ich ihn singen hören, doch der Ohrwurm vom Süden ist stärker. Schnell vorbei an zwei innogy-grünen Plakaten (I02), die sind omnipräsent, so dass die Wahrnehmung sie beinahe ausblendet, doch ich nehme sie gewissenhaft mit auf in mein mittlerweile stattliches Verzeichnis von Essener Grüntönen. Ebenso das Schimmelgrün am Militärdenkmal. Die Ziffern der gerühmten Kriegsjahre sind ausgefallen wie faule Zähne (S187). Die Generäle, deren Chronometer kaputt sind, wurden rund um den Freistein mit Straßennamen dekoriert. Lützow, Bülow und Scharnhorst treffen sich in Essen jetzt montags an der Agentur für Arbeit. Mit Schaumwein stoßen sie an. Auf alte Zeiten oder eine neue Stelle? Mit der Flasche in der Hand dürfen sie jedenfalls nicht in das öffentliche Gebäude hinein. Der Security-Mitarbeiter guckt schon ganz böse. Ich grüße gehorsamst und gehe vorbei. Aber wohin will ich hier eigentlich?
Arbeit findet man im Essener Norden nicht mit einem Farbleitsystem. Dafür mit einem Prisma. Die Spiegel im Treppenhaus spalten und vervielfältigen mich, wie die Falten einer Ziehharmonika bin ich aufgefächert in hundert Gesichter – die vielen Ichs meiner Lebensläufe aus 100 Bewerbungsschreiben, eins ist Pascal und sucht Grün, ein anderes Jean und bloggt Blau, das neueste Armand und sieht schon nichts mehr vor lauter Farbe. Armand kommt aus Arles, die Krise hat ihn hierher gespült, am liebsten ginge er heute noch zurück in den Süden, aber Hauptsache Arbeit. Er versucht jetzt sein Glück im Essener Norden. Zur Jobsuche hat Armand seine besten (das heißt: seine buntesten) Sachen angezogen, trägt den zitronengelben Mantel vom Bewerbungsbild. Tatsächlich gibt es eine passende Stelle für ihn: Gleich um die Ecke, im Frischezentrum. Belastbarkeit wird im Jobprofil verlangt. Dafür müsste ich nichtmal den Lebenslauf ändern. Aber dann steht da noch: »Natürlichkeit«. Das wird schwierig. Dabei brauche ich Hilfe, wenn das nicht konstruiert wirken soll. Mein Freund Tobias kennt sich mit sowas aus. Er ist Bauingenieur, Spezialist für Kanäle und vergleicht Lebensläufe gerne mit Flussläufen. »Die meisten sind begradigt.« Das Wasser fließt viel zu schnell für das Flussbett. Unnatürlich ist das. Also ausgerechnet bei dieser einen Bewerbung fehl am Platze. Tobis Plan ist es, eines Tages Lebensläufe zu renaturieren. Ich rufe ihn an, mit meinem soll er anfangen.
Mit dem Job hat es geklappt. Das bin ich, Armand, im Mai 2017: Melonengrün. Falls du das liest, Tobi, ich bin jetzt tatsächlich Melonenverkäufer. Nicht am Strand in Italien, wie du mir geraten hast. Erstmal nur im Essener Frischezentrum. Aber man braucht noch Ziele für den nächsten Karriereschritt. Verona vielleicht.
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Pascal Bovée begibt sich als “Writer in Residence” bei PACT auf die Suche nach dem Unbekannten im Vertrauten. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt Essen untersucht er seine unmittelbare architektonische und geografische Umgebung und beleuchtet ihren Einfluss auf seine Wahrnehmung und sein Erleben. Dabei entstehen psychogeographische Reiseberichte voller abseitiger Details und überraschenden Neuentdeckungen in Essen und seinen Grenzbereichen. Dort wo Dinge aufeinander treffen, sich abstoßen oder ineinander verschmelzen ergeben sich neue Fragen, neue Denkanstöße, neue Enden und neue Anfänge. Bovée erklärt die Peripherie zum Zentrum, und rückt dadurch das was unserer Aufmerksamkeit im Alltag entgeht, in unser Sichtfeld.
As Writer in Residence at PACT, Pascal Bovée, sets out to explore the city of Essen considering in the process his immediate environment in terms of architecture and geography and examining how these influence his perception and experiences. The results are psycho-geographical travel reports full of arcane details and surprising discoveries. 
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