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pact-zollverein-blog · 8 years ago
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Veronesergrün Streifzüge durch die Stadt Essen von Pascal Bovée In der Fensterscheibe hinter der Lidl-Kasse schwebt eine schwarze Wolke vorbei. Die Kassiererin lässt sich dadurch von ihrer guten Laune nicht abbringen. Jedem Kunden in der Schlange gibt sie passend zu seinen Produkten einen aufmunternden Scherz mit auf den Weg. Der Student hinter mir wirkt bereits etwas ängstlich. Gleich wird er vier vegane Pizzen kaufen.
»Dieses Aprilwetter ist ja wirklich nich' Fisch und nich' Fleisch!« Das sagt die Kassiererin natürlich nicht. Sie lächelt den Veganer auch nicht an, um ihm mitzuteilen, dass ihr der Regen draußen Wurst sein kann, weil sie noch sechs Stunden Pizzen scannen muss. Das ist wieder nur meine Fantasie, die das Nordviertel bunter malt als es ist. An diesem unentschlossenen Tag, zwischen Discounter-Parkplätzen, Wahlwerbeplakaten für mehr Sicherheit und Spaziergängen durch von Baggern umgestülpte Parks müssen die Farben von anderswo kommen. Zum Beispiel aus dem Metallständer mit Reiseprospekten neben der gekachelten Warenablage. Blaues Meer und strahlend weiße Sandstrände haben Lidl und Photoshop dort für mich drapiert. Gern träume ich mich für einen Moment ans Mittelmeer.  
Als ich nach dem Bezahlen, ich habe eine Flasche Wasser gekauft (»Noch nicht nass genug draußen?«), schließlich wieder auf dem Lidl-Parkplatz unter der schwarzen Wolke stehe, holt mich die graue Realität schon wieder ein: Ich bin Künstler und kann mir momentan kein Mittelmeer leisten. Mit einem anderen Lebenslauf, gerader als dieser, läge ich jetzt natürlich längst in diesem weißen Sand an diesem blauen Meer, genösse die intensiven Farben Südfrankreichs. Hilft nichts, Ärmel hochkrempeln! Ich fasse den Entschluss, gleich hier im Essener Nordviertel nach mehr Farbe zu suchen.
Weiße Strände erwarte ich nicht. Aber ich habe mitbekommen, dass gerade die Uni ihre Türme bunt einkleidet. Auf der Webseite erfährt man mehr dazu: »Leuchttürme des Wissens« nennt es sich. »Der T01-Doppelturm vereint viel Grün mit einem etwas offeneren Farbspektrum, das die übergreifend arbeitende Zentralverwaltung symbolisiert.« Viel Grün. Zentralverwaltung. Irgend etwas daran stimmt mich skeptisch ... Ich umkreise die Uni im Nordviertel erstmal zu Fuß und betrachte die neu kolorierten Türme von allen Seiten. Ein bisschen sehen sie nach Lego aus, das gefällt mir. Allerdings sind irgendwann die grünen Achter ausgegangen, die Farben wechseln ziemlich kleinteilig. Dass die bunten Türme die Orientierung hier im Nordviertel erleichtern, worüber sich der Universitätsdirektor in der Pressemitteilung ausgesprochen freut, kann ich bestätigen. Das Konzept, zusammen mit dem Künstler Horst Gläsker entwickelt, verweist auf das »charakteristische Essener Farbleitsystem«, für das die Universität steht. Mich von Farbe leiten lassen, warum nicht. Langsam nähere ich mich dem Campus.
Ich schlängle mich durch den Segeroth, das ehemalige Arbeiterviertel im Norden des Zentrums, auf die Uni zu. Da verziehen sich die Wolken schon wieder, die Sonne fällt in einen Hinterhof, in den ich einen verstohlenen Blick werfe. Ausgeschlachtete Autos mit verblasstem Lack, ein bohnengrüner Mercedes, ein aufgebockter Trabant und dazwischen eine Buddha-Statue, die mich entspannt anlächelt. Wilder Norden? Das hat man früher mal zum Segeroth mit seiner bunten Bevölkerungsmischung gesagt, habe ich gelesen. Politische Auseinandersetzungen habe es hier gegeben, Kommunisten, die in der Mehrzahl waren, kämpften gegen Nationalsozialisten, bis das Viertel von den neuen Machthabern »saniert« (teilabgerissen) und »gesäubert« wurde, inklusive Abtransport der vielen Roma, die hier lebten und auf die eine Metallplatte in der Schlenhofstraße hinweist. Warm wird mir plötzlich. An einem Stehtisch unter einer Markise, nehme ich meinen Schal ab. »Erfrischungen« steht an der Trinkhalle. Ich könnte eine Limo bestellen und mich nochmal wegträumen, die Markisen sind offen, doch die Rollläden dicht. Im Segeroth trinke ich Wasser vom Lidl.
Den Schal schon wieder umlegend, die Wolken sind zurück, passiere ich einen riesigen, innovativen Parkplatz mit drei Ladestationen für Elektroautos. Er gehört dem Energiekonzern, dessen Werksgelände der Uni gegenüberliegt. Das Eingangstor in der Blumenfeldstraße ist konsequent beklebt mit Antifa- und Anti-Atom-Aufklebern. Vielleicht von jemandem aus dem Haus auf der anderen Straßenseite? »Hero House« steht dort mit Filzstift über die Haustür gekritzelt. Daneben vermietet jemand namens Bonie Sportwagen und Luxusfahrzeuge. Das Garagentor seines Autoverleihs »Happy Drive« sieht so aus, als könnte ich das bezahlen und an die Côte d'Azur oder die Riviera Durchbrennen. Bonie riecht das Geschäft und kommt sofort aus dem Hero House, um mich anzusprechen. Trotz guter Argumente bleibe ich diesmal vernünftig und überquere die Gladbecker Straße zu Fuß.
Hier, neben dem Hörsaalgebäude der Universität, beginnt ein Neubauviertel. Es heißt »grüne mitte«. Da ich das Grün erst auf den zweiten Blick bemerke, weist mich vorsichtshalber ein Schild darauf hin, bis die Bäume hier hoch genug sind. In lang gezogenen Betonbecken bauscht Schilf. »Baden verboten.« Ich frage mich, ob schon jemand auf diese Idee gekommen ist und lese auch die anderen Schilder. Das Füttern der Enten und Gänse ist ebenfalls nicht erlaubt, auch nicht das Klettern auf ein Gerüst, das Nutzen eines Privatwegs. Ein netteres Schild hat das kommunale Bauunternehmen Allbau aufgestellt. Es wirbt für das Projekt »Pier 78«, das quasi die Initialzündung zu diesem Viertel war, wie ich erfahre. Direkt am Wasser kann man seitdem hier wohnen. Das lockt neben Investoren auch gut situierte Mieter und Wohnungseigent��mer. Einer ist ungefähr vier Jahre alt, arbeitet schon bei Innogy und fährt seinen weißen Sportwagen umweltbewusst als Elektroauto. Die ökonomische Ausstrahlung auf den Segeroth zeigt sich, es ist der Typ Auto, den Bonie mir im Happy Drive verleihen wollte. Ich setze mich auf eine Bank und sehe zu, wie der Junge so lange immer wieder gegen einen gestreiften Begrenzungspfahl fährt, bis seine Oma das Steuer übernimmt.
Auf der Bank fällt mein Blick wieder auf die ordentlichen Wasserbassins mit dem Schilf. Die Betonbecken sind grau, dafür die Passanten bunt. Es ist geschäftig hier, nicht nur Shoppende aus dem Einkauszentrum Limbecker Platz spazieren vorbei. Jugendliche gegenüber hören türkische Pop-Musik, ein Mann mit BVB-Kappe unterhält sich angeregt auf Französisch, ich denke schon wieder ans Mittelmeer.  Eine nach Dozentin aussehende Frau in den Vierzigern rauscht im grauen Rock auf dem Steproller vorbei. Ein beliebtes Verkehrsmittel hier, ebenso wie Fahrräder. Die meisten Verkehrsteilnehmer tragen wie die Dozentin ordnungsgemäß Helm, bis auf einen Jungen mit tiefergelegtem Shopper-Rad, der aber immerhin ordnungsgemäß anhält, um auf dem Smartphone seinen Soundtrack zu ändern und ein kleines Mädchen auf einem weißen BMX, das Enten verfolgt. Es gefällt mir hier inzwischen ganz gut, aber ich muss noch meinen Auftrag erfüllen: Essens Farben warten auf mich. Ich beschließe, das charakteristische Farbleitsystem zu testen, indem ich auf dem Campus nach einer Toilette suche.
Bereits der Empfang im Innenhof ist farbig. Superhelden in roten, grünen und gelben Kostümen haben sich vor dem Lego-Turm versammelt und werben für eine »MINT«-Party. Leider muss ich schon zu dringend, um sie zu fragen, ob sie im Hero House wohnen. Ich steuere auf den erstbesten Eingang zu. V05 T00 A91 ist die Raumnummer der Toilette, die ich mir auf dem Handy herausgesucht habe und jetzt mithilfe des Farbleitsystems möglichst schnell finden möchte. Was mich als assoziativ denkenden Menschen noch nicht verwirren kann, ist die etwas eigenwillige Kombination der Farben mit den Buchstabenkürzeln der Trakte beziehungsweise Räume. S steht für Sandgelb, V für Veilchenblau. Ich bin in einem grünen Trakt gelandet, der konsequenterweise mit einem T bezeichnet wird. Tannengrün. Über die schwere grüne Brandschutztür, vor der ich stehe, ist allerdings ein großes B gemalt. Leider habe ich keine Ahnung, für welche Farbe es steht. Vermutlich liegt die Antwort hinter der Metalltür, die man nicht verkeilen, verstellen, festbinden darf oder ähnliches, wie zur weiteren Verstärkung der Sicherheit vermerkt ist. Ich ziehe kräftig an der Klinke. Hinter der tannengrünen Tür mit dem B liegt ein sandgelber Gang. Moment, ist Sand nicht weiß? Ich denke schon wieder an den Discounter-Strand, Frankreich, Griechenland, Italien, um mich vom Harndrang abzulenken, aber es klappt nicht recht. Durch die lange Flure eilend erweitert sich mein Farbspektrum nach und nach erheblich. Noch mehr Korridore, Gedankengänge, rote Brandschutztüren mit großem E darüber, Treppen mit veilchenblauen Geländern, schon wieder der gelbe Trakt? Schneller als gedacht sind meine Farbrezeptoren überreizt. Vor allem zuviel Gelb für einen, der ein veilchenblaues Klo sucht. »Gelb wie die Gemälde von sieben Kornfeldern übereinander gelegt«, kommentiert Ulrike Almut Sandig, der ich im Gang begegne. Sie ist hier gerade Poet in Residence, zumindest in meiner Fantasie, aber wo die Toilette ist, weiß sie auch nicht. Ich erkläre ihr anhand des Raumes vor uns erstmal die Farbsystematik, »Das ist ganz einfach. S07, das steht für Sandgelb, wie Sandig. Kornfeldgelb, also K07 gibt es nicht«. Oder doch? Mir fällt auf, dass ich langsam verrückt werde. Das sind die Farben, dafür war ich schon immer zu aufnahmefähig. Ich nehme die nächste Brandschutztür, von überall leuchtet jetzt Grün, aber irgendwie leitet mich das nicht in die Toilette, sondern in die Irre. Van Gogh hat bei seinem Bruder Theo sechs große Tuben Veronesergrün (V06) bestellt, bevor er Armand Roulin gemalt hat, der in Essen im Museum hängt. Leider hat der Niederländer nachher auch ein paar Farbtuben verschluckt, wurde immer verrückter von der Farbe und irrte dann durch die Korridore des Hospitals von Arles. Genie und Farbe liegen dicht beieinander, die Parallele wischen Arles und Essen ist nicht mehr zu übersehen, auch ich bin in diesen Gängen ein Holländer in der Fremde. Aber doch ganz sicher kein van Gogh!  Eher beginne ich, mich mit Armand Roulin zu identifizieren, der in Gelb gehüllt stillhalten soll und eigentlich längst aufs Klo muss, als er gemalt wird. Ich muss hier jetzt raus.
In der grünen Mitte habe ich ein Seniorenheim gesehen, dort werde ich mich aufs WC mogeln. Online checke ich nochmal schnell, wo es war und falle aus allen Wolken. Farbleitsystem! Auch für die Senioren! Nein Essen, Sandgelb und Tannengrün bis ins hohe Alter, das kann ich unmöglich! Vom einen Farbraum in den anderen, RGB-Raum, CMYK-Raum, Snoezelraum, aber ich muss doch! Kurz nehme ich die Betonbecken mit dem Schilf als große Kloschüsseln wahr. Darin darf man ja sowieso nicht baden – doch ich bin zu verantwortungsbewusst. Was, wenn der Junge mit dem weißen Sportwagen vom Happy Drive das Verbotsschild noch nicht lesen kann? Ich laufe ziellos umher, eine rostrote Metalltreppe hinauf, ein Künstler hat sie aufgestellt, sie endet im Himmel, auf einem Balkon. Von hier oben zeigt sich die Mitte grün, wie sie ist. Nicht Tannengrün, T, Reißbrettgrün, R. Planergrün. »Die 78 grünen Wohneinheiten fügen sich wie Aktenordner ins Regal der erweiterten Universitätsbibliothek«, stelle ich mir das Schild einer Baugesellschaft vor, das es so nie geben wird. »Essen, wie grün bist du wirklich?«, riefe ein Mutigerer als ich in dieser Vorstellung von diesem Balkon mitten in die neu gebaute Mitte der Stadt. In der Malerei ist Farbe häufig nach dem Ort ihrer Herkunft benannt, Veronesergrün aus Verona. Essenergrün von hier. Essen ist grüne Haupstadt Europas. Wer pinkelt denn da vom Balkon?  
--- TO BE CONTINUED ---
................................................................................................................................ Pascal Bovée begibt sich als “Writer in Residence” bei PACT auf die Suche nach dem Unbekannten im Vertrauten. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt Essen untersucht er seine unmittelbare architektonische und geografische Umgebung und beleuchtet ihren Einfluss auf seine Wahrnehmung und sein Erleben. Dabei entstehen psychogeographische Reiseberichte voller abseitiger Details und überraschenden Neuentdeckungen in Essen und seinen Grenzbereichen. Dort wo Dinge aufeinander treffen, sich abstoßen oder ineinander verschmelzen ergeben sich neue Fragen, neue Denkanstöße, neue Enden und neue Anfänge. Bovée erklärt die Peripherie zum Zentrum, und rückt dadurch das was unserer Aufmerksamkeit im Alltag entgeht, in unser Sichtfeld. As Writer in Residence at PACT, Pascal Bovée, sets out to explore the city of Essen considering in the process his immediate environment in terms of architecture and geography and examining how these influence his perception and experiences. The results are psycho-geographical travel reports full of arcane details and surprising discoveries. 
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pact-zollverein-blog · 8 years ago
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NOFRETETE Streifzüge durch die Stadt Essen
von Pascal Bovée
Die Grafikerin vom Stadtmarketing korrigiert den Schatten. Er ist zu klein. Oder der Förderturm doch noch zu groß. So eine Kacke. Die ganzen Verhältnisse der schönen Skyline stimmen nicht mehr, seit dieses Dreieck dazugekommen ist. Aber es darf auf keinem offiziellen Plakat und keinem Flyer, auf keiner städtischen Webseite mehr fehlen. Das höchste Gebäude in Essen wird bald eine Pyramide sein.      
Der Bauherr kommt nicht aus Ägypten, der Bauherr heißt Tech-Nick und macht was mit Medien. Man hätte es nicht zu träumen gewagt, aber es ist wahr: Saturn baut in Essen seine neue Zentrale. Eine Pyramide, die funkelt, aus blauem Glas. Um jedes der 21 Stockwerke, eins für jedes Jahrhundert einer Zeitrechnung, die bald enden könnte, ziehen sich vier dunkelblaue, konzentrische Quadrate aus Stahl, das sind die Stufen. Beim Hinaufsteigen färben LED Stufe für Stufe orange. So hat es sich zumindest David Chipperfield gedacht. Da die Stufen für menschliche Beine aber zu hoch geraten sind, entfällt der Effekt und es gibt eine Rolltreppe. Sie ist ebenfalls orange. Zwar gerade so nicht breit genug, um nebeneinander stehen oder einander überholen zu können, aber weil oben keine Züge abfahren, stört das niemanden wirklich.
Von den Essenern wird das Gebäude überhaupt sehr gut angenommen. In der Freizeit sitzen sie auf den Pyramidenstufen und trinken Bier und Fassbrause. Am vierten Stock dürfen Jugendliche Tags auf die Fassade sprayen, die größten sind EIER und KLUPP. Der Ring um die sechste Etage ist für Urban Gardener freigegeben, der elfte für Jogger, die mit In-Ears ihre Bahnen um den Saturn ziehen, in dieser Höhe bereits mit Ausblick über die Dächer der Stadt. Die meisten schauen aber lieber durch die Glasfassade ins Innere der Pyramide. Hier werden High End Bluetooth Speaker verkauft. Eine ganze Reihe von Etagen weiter oben ist dem Tourismus gewidmet. Um die fünfzehnte kann man in einer Wasserrinne eine Kreuzfahrt mit Selfiestick machen. Gezielt wirbt Essen jetzt um Ägyptenurlauber. »Keine Lust auf Krokodile? Pyramiden gibt's nicht nur am Nil«. Am Nile hieß es ursprünglich, jedenfalls in der Büttenrede, aus der der Slogan entnommen wurde. Aber Reimen in der Werbung ist nicht mehr zeitgemäß, hat die PR-Agentur rechtzeitig gewarnt, bevor der Slogan in die Urlaubsprospekte gedruckt wurde.
Ganz oben auf dem Pyramidendach darf natürlich ein Swimming Pool nicht fehlen. Er ist aus ehemaligen Spundwänden im Suez-Kanal geschweißt. Im Wasser werfen sich pubertierende Jungs eine Gummipille ins Gesicht, die Mädchen verdrehen auf dem Handtuch die Augen und tippen Nachrichten, der Lehrer lacht. Ich setze mich auf den Beckenrand, hole mein Notizbuch heraus und schreibe eine Kolumne. »Essen hat 'nen neuen Pharao«, zitiere ich gleich mal die Punks, die in der Fußgängerzone Seifenblasen und kluge Sprüche machen. Ab und zu muss ich den Kopf einziehen wegen des Balls.
Sie ahnen es: Das Gebäude ist so albern, weil ich es geträumt habe. Auf dem Weg nach Steele sind mir in der S-Bahn die Augen zugefallen. Beim Aufwachen habe ich alles ganz schnell in mein Büchlein gekritzelt, hatte aber schon die Hälfte wieder vergessen. Woher die orange Rolltreppe oder das geschweißte Schwimmbecken kommen, weiß ich deshalb nicht mehr. Aber zu Saturn fahre ich wirklich. Nach Steele.
Heute morgen am Essener Hauptbahnhof neben Yorma's habe ich beim Einlösen meiner Kaffeesparkarte zwei Jungs zugehört.
»Habter schon gezockt?«
»Mit Auba viermal eingetütet.«
»Ja, hättste ma wat gesacht!«
»Freitach wieder, wenn de Bock hast.«
»Auf jeden Fall! Lassma WhatsApp.«
Zum ersten Mal ärgere ich mich wirklich, dass ich kein WhatsApp habe. Samstag ist Derby und ich will auch mitzocken. Zuhause hab ich zwar eine alte Playsie, die mir ein Freund geschenkt hat, aber FIFA nur in einer Superalt-Version. Ohne Goretzka und Dembélé kann ich das Derby ja unmöglich realistisch vorzocken.
In Steele ist der Saturn nicht am höchsten. Direkt daneben ragt die Kaiser-Otto-Residenz in den Himmel, ein gelb gekacheltes Seniorenwohnhaus. Auf der Brücke vom S-Bahnhof zum Ortskern grüßt mich Tech-Nick in seinem blauen Hemd von einem Plakat. Wann und wo ich will, könne ich einkaufen, quatscht er mich direkt mal an. Ich will hier einkaufen, sage ich. Und jetzt. Am Samstag ist Derby und ich hab kein aktuelles FIFA. Ausgerechnet hier und jetzt einzukaufen scheint aber in diesem Saturn nicht so einfach zu sein. Eine direkte Treppe zum Medienkaufhaus endet vor einer Wand. Jemand namens »Allah« hat sein Tag darauf hinterlassen. Der kann womöglich durch die Mauer, aber ich muss umdrehen. Eine lange Treppe führt mich zwischen Kaiser Otto und dem »Globus Center«, in dem der Saturn untergebracht ist, herab. An ihrem Ende bleibe ich vor einem Reisebüro stehen.
Ein Regal mit Schneegläsern aus Ferienorten im Schaufenster erinnert mich an meinen letzten Besuch im Keller meiner Eltern, wo meine eigene Sammlung winterlich-touristischer Mini-Orte seit meiner Pubertät vor sich hin dunstet. Ein Tümmler in einer Kugel aus dem Dolfinarium Harderwijk, den ich als Kind besonders mochte, muss inzwischen ohne Wasser auskommen. Manchen Ferienorten hier im Schaufenster geht es kaum besser. Folgen des Klimawandels? Nofretete liegt schon auf dem Trockenen. Auch Las Vegas glitzert ohne Nass nicht mehr so verführerisch. Neben einem Eiffelturm steht Goofy, der ungefähr gleich groß ist und schaut sich um, als würde er auf jemanden warten. Auf Cinderella? Ich schaue mich ebenfalls um und sehe anstelle von Schneewittchens Schloss nur wieder Kaiser Ottos Residenz. Auch die hat Türme, elf Stöcke gelbe Platte. In der Sonne beinahe schön, mit den Kirschblüten davor. Aber Disneyland gibt es in Steele nicht.
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Ich biege um das Globus Center herum und werde gebeten mir mein Lieblingskennzeichen zu überlegen. Neben dem Medienkaufhaus gibt es in dem Gebäude nämlich eine KFZ-Zulassungsstelle. »E MO 1« wäre gerade im Angebot. Wäre ich der erste Emo, was für ein Auto würde ich fahren? Eins mit Tapedeck jedenfalls, es liefen Get Up Kids, egal wie sehr die Kassette inzwischen leiert. Ein Auto, das noch aus der Prä-Kassettendeck-Ära stammt, parkt am Eingangsbereich zum Bürgeramt/Saturn. Es gehört Fred Feuerstein und hat noch kein Kennzeichen. Gegen Einwurf einer Münze würde es mich fahren, läge das Kabel nicht ausgestöpselt auf dem Boden daneben. Fred sitzt am Steuer und scheint mir auf sein Nummernschild zu warten. Ich frage mich, für welches Kennzeichen er sich entschieden hat, als ich das Globus Center betrete. Vor der Rolltreppe, neben dem Schild »Bürgeramt«, liest ein Staubsaugerteileverkäufer seine Zeitung. Hinter ihm führt eine Rolltreppe hinab. Theoretisch, denn sie ist mit einem Metallverschlag versperrt. Aber zu Saturn geht es nach oben.
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Die Flatscreens zeigen alle ein Massagevideo. In einem Regal davor gibt es Chai-Latte-Pads. Rooibos-Karamell mit extra Milchkapsel. Aber auf geheuchelte Entspannung lasse ich mich nicht ein, sondern halte direkt auf die Game-Abteilung zu. Ich sehe das Regal schon, aber der Gang ist etwas eng und zwischen mir und FIFA stehen Killian und seine Oma, die sich Super-Mario-Plüschtiere anschauen.  
»Wer ist denn nochmal Mushroom?«
»Das ist der böse Pilz, der blinken kann.«
»Ah. Der ist aber teuer.«
»Manche können nicht blinken. Der Mushroom ja.«
Die alte Dame sieht, dass ich vorbei möchte und nutzt die Gelegenheit.
»Wir müssen mal weiter jetzt, Killian. Der junge Mann möchte hier auch schauen.«
»Hast du nicht genug Geld für den Mushroom?«
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Mitleidig lächelnd schlängle ich mich zwischen Großmutter und Enkel hindurch, denn hinter dem Plüschtierkorb habe ich etwas funkeln sehen und kann nicht mehr warten.
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Wow! Ein goldener Controller? Und mit Dual Shock? Dual Shock sind »zwei Vibrationsmotoren, die das haptische Feedback verstärken.« Also, ich bin ja wirklich nicht konsumgeil, echt – aber Dual Schock? In Gold? Und das für schlappe 64,99? Das sind ja gerade mal fünf Euro mehr als der Controller in weiß gekostet hat.
»Nein, soviel Geld hat die Oma nicht.«
Die alte Frau klingt wie mein Gewissen, auch wenn sie eigentlich mit ihrem Enkel spricht: »Entweder Controller oder neue FIFA-Version, beides geht natürlich nicht, Pascal!« Naja, ich kann das Goldstück ja erstmal nur so mitnehmen. Testen, wie es in der Hand liegt, während ich zu den Spielen weitergehe.
Natürlich suche ich nur nach den Sport Games, ich will ja das Derby vorzocken, sonst wäre ich ja heute gar nicht in einem Saturn anstatt meine Kolumne zu schreiben. Aber meine Aufmerksamkeit will jetzt auf einmal ein blondes Girl im Bikini haben. Lollipop Chainsaw heißt es und zerschneidet mit der Kettensäge Zombies. Lässig mit Lutscher im Mund. »Eine actiongeladene Fahrt durch ein zombieverseuchtes Blutbad« verspricht mir der »Kult-Gamedesigner Suda 51« auf der Spielverpackung. Killians Oma kann froh sein, dass er sich noch für blinkende Kuschelpilze interessiert.
Aber anscheinend nicht nur. Da vorne ist der hartnäckige Enkel schon wieder aufgetaucht und hält Marco Reus in der Hand. Fasziniert betrachtet er sein Armtattoo.
»Da haben wir ja Glück«, sagt die Oma. »Ist das letzte.«
Das letzte? Ich muss handeln. Dass ich das Mädchen mit der Kettensäge noch in der Hand halte, ist die Gelegenheit.
»Schau mal«, sage ich zu Killian und drücke ihm das Spiel in die Hand. Lollipops Brüste sind sehr notdürftig in eine amerikanische Flagge verpackt.
Der Junge macht noch größere Augen als bei dem Tattoo von Marco Reus. Das FIFA-Spiel nehme ich solange entgegen. Es interessiert ihn auch schon gar nicht mehr. Aber seine Oma. Die ist zwar langsamer als ich, bei dem Regal mit dem Chai Latte hänge ich sie ab, aber an der Kasse steht eine Schlange, spätestens da holt sie mich wieder ein. Was, wenn ich das Bezahlen überspringe? Für FIFA und den goldenen Controller habe ich ja sowieso zu wenig Geld. Kein Ladendiebstahl, für den ich gerne auf einer Wache landen würde, aber schlimmer als einen schätzungsweise Elfjährigen für ein sexistisches Metzel-Game zu interessieren, das er jetzt unbedingt haben will, ist es auch nicht. Ich erzähle hier mal nicht, wie ich aus dem Steeler Saturn rausgekommen bin. Und wo ich mich seitdem versteckt halte.
Außer FIFA 17 besitze ich jetzt eine Virtual-Reality-Brille. Ich setze sie nur noch ungerne ab. Das ist meine Lieblingsrealität: Ich laufe über ein Kopfsteinpflaster, irgendwo in der Grünen Mitte. Vor mir türmt sich, von blauen Quadraten umringt, eine gewaltige Glaspyramide auf. Oben über der Spitze schwebt ein Hologramm des Planeten mit dem Staubring. Ich gehe darauf zu, laufe direkt in die Zukunft hinein. In gigantischen Schritten nehme ich die Treppenstufen zum Saturn. Sie leuchten orange, als ich darauftrete. Stufe für Stufe, Medium für Medium, steige ich nach oben, über Graffitti hinweg, Tag, Hashtag, durch urbane Gärten, zwischen Joggern vor Schaufenstern hindurch, an Bluetooth Speakern und Nilkreuzfahrten vorbei – bis ich ganz oben stehe. Ich greife mitten in das Hologramm des Saturn und halte das Heiligtum in der Hand: Meinen goldenen Controller. Ich tüte fünfmal ein. Gerade will ich ein Sieger-Selfie machen, da fliegt mir ein nasser Ball an den Kopf.
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Pascal Bovée begibt sich als “Writer in Residence” bei PACT auf die Suche nach dem Unbekannten im Vertrauten. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt Essen untersucht er seine unmittelbare architektonische und geografische Umgebung und beleuchtet ihren Einfluss auf seine Wahrnehmung und sein Erleben. Dabei entstehen psychogeographische Reiseberichte voller abseitiger Details und überraschenden Neuentdeckungen in Essen und seinen Grenzbereichen. Dort wo Dinge aufeinander treffen, sich abstoßen oder ineinander verschmelzen ergeben sich neue Fragen, neue Denkanstöße, neue Enden und neue Anfänge. Bovée erklärt die Peripherie zum Zentrum, und rückt dadurch das was unserer Aufmerksamkeit im Alltag entgeht, in unser Sichtfeld.
As Writer in Residence at PACT, Pascal Bovée, sets out to explore the city of Essen considering in the process his immediate environment in terms of architecture and geography and examining how these influence his perception and experiences. The results are psycho-geographical travel reports full of arcane details and surprising discoveries. 
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pact-zollverein-blog · 8 years ago
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PANORAMAETAGE
von Pascal Bovée
Klein anfangen, wenn du ein Ende suchst. Kleiner Essener heißt der Stadtplan, in dem ich suche. Zunächst mal nach der Stadtgrenze. Ich will schauen, ob man dort einen Unterschied erkennt zur Nachbarstadt. Insgeheim unterstelle ich bereits, dass das nicht so ist – wie die meisten Forschenden, weiß ich eigentlich schon im Voraus, was ich rausfinden möchte. Mein unwissenschaftliches Vorhaben lässt der kleine Essener aber nicht mit sich machen. Anstelle der Stadtgrenze zeigt mir der Stadtplan eine Liste: 25 mal Sehens- und Erlebenswertes in Essen. Nummer eins ist gleich die erste Überraschung: das Rathaus. Panoramaetage (22. Etage) in 100m Höhe, heißt es im Beschreibungstext, von der sich ein herrlicher Fernblick auf Essen und das Ruhrgebiet bietet.
Ich kenne Essens Sehenswürdigkeiten offensichtlich noch nicht so gut. An Stelle eins hätte ich die Zeche Zollverein erwartet. Doch die ist im Ausschnitt, den die Karte wählt, nicht einmal abgebildet, ebenso wenig wie die Villa Hügel und der Baldeneysee. Das Rathaus also. Ich gebe zu, ich bin ziemlich irritiert. Bisher hatte ich das Rathaus nur aus der Entfernung wahrgenommen, als hohen, schwarzen Block, der mich an den Monolithen aus Odyssee 2001 erinnert hat. Dunkel, mysteriös und irgendwie am falschen Ort gelandet.
Aber vielleicht sollte ich die Suche nach Essens Ende nicht so horizontal verstehen. Eine Stadt hört ja nicht nur an Längen- und Breitengraden auf. Vielleicht ist gerade diese Panoramaetage im Rathaus der eigentliche Ort, wo sie endet. Essen muss ja schließlich auch eine Obergrenze haben.
Ich telefoniere mit Marc, einem Freund, der Philosoph ist und seit kurzem Neu-Essener. Bestimmt kann er mir helfen den Begriff Ende zu definieren und die Frage zu beantworten, ob das Rathaus damit etwas zu tun haben könnte. Wie immer stellt er erstmal eine Gegenfrage. „Kann es sein, dass dieses Rathaus eine Shopping Mall ist?“ Marc ist nicht nur Philosoph, sondern auch sehr internetaffin und hat parallel zu unserem Gespräch bei Google Maps nach dem Rathaus geschaut. Ich antworte ihm, dass die Perspektive der Google-Karte täuscht. „Essens Rathaus ist keine Mall. Es liegt bloß in einer Mall.“
Einer Galerie, um genau zu sein, so viel Stil hat die Stadt sich bewahrt. Als Marc aufgelegt hat, bin ich unzufrieden. Jetzt habe ich mehr offene Fragen als vorher, wie soll man da ein Ende finden? Ich komme ins Grübeln. Die Einkaufsstadt sind die ersten Worte, die Neuankömmlinge am Essener Hauptbahnhof lesen, kurz nachdem sie aus dem Zug den schwarzen Monolithen im Stadtkern gesehen haben. Andere Städte sind Beethovenstadt oder Universitätsstadt. Aber ich will nicht unfair sein. 2010 war Essen (für das Ruhrgebiet) auch mal kurz Hauptstadt. Auch eine aktuelle Bewerbung als temporäre Hauptstadt war wieder erfolgreich. Diesmal sogar umweltfreundlich. Wer möchte da noch mosern? Ich nicht. Aber irgendwie habe ich jetzt diesen Floh im Ohr, dass es hier in Essen nur ums Kommerzielle ginge. Das kann ich nicht einfach so stehen lassen. Ich beschließe, in die Rathausgalerie zu fahren. Vielleicht liegt dort das obere Ende der Stadt und wenn nicht, kann ich zumindest klären, ob der Monolith aus 2001 Rat- oder Kaufhaus ist.
Aus der U-Bahn kommend fahre ich die Rolltreppen nach oben und stehe vor einer weiteren Rolltreppe mit einem pink glitzernden Eingangsschild: Olymp und Hades. Eine Rolltreppe in die Antike, das ist genau das, was ich brauche. Damals, heißt es immer, war die Stadt noch überschaubar. Leider sind Olymp und Hades kein Ort der Erkenntnis, sondern ein Geschäft mit Leggins und Techno. Rückwärts fahre ich wieder hinaus und stoße gegen einen alten Mann, der sinnierend neben der Rolltreppe wartet und mich mit den Fingern in seinem krausen Bart an Marc (oder irgend einen anderen Philosophen, einen von den griechischen) erinnert. Der kommt mir wie gerufen. „Ist dieses Rathaus ein Ort der Demokratie oder des Kaufens?“ frage ich ihn frei heraus, aber er schaut nur unverständlich. „Haben Sie nicht wenigstens eine Ihrer kritischen Gegenfragen parat?“, provoziere ich ihn. „Rathaus oder Kaufhaus?“ Vielleicht spricht er nur Griechisch. Der Mann zuckt mit den Schultern: „Wo liegt der Unterschied?“
Gute Frage. Für die Antwort blättere in einem Aufsatz von Kristin Ross, den ich mir zu diesem Zweck mitgenommen habe. Demokratie, lese ich vor, als Name für den Kampf gegen die fortwährende Privatisierung des öffentlichen Lebens. Der Grieche zuckt erneut mit den Schultern. Ich beschließe, mich nicht weiter mit Theorie aufzuhalten und mache mich schnell auf die Suche nach dem Rathauseingang. Verwirrt vom Geblinke des pinken Olymps und einer Gruppe laut lachender Teenager oben auf dem Berg nehme ich den erstbesten Weg und biege nach rechts. Ich irre durch endlose Korridore, vorbei an Masken tragenden venezianischen Gondolieren, die als Herbstdekoration durch die Galerie fahren, vorbei an Mauern aus Kartons mit neonfarbenen Discountschuhen, an blauen und silbernen Zuckergussbergen auf Donutmischungen. Mit angehaltenem Atem stoße ich durch eine dichte Parfümwolke und verliere im Nebel die Orientierung. In einer Spiegelung an der blank gewienerten Wand vor mir sehe ich seitenverkehrt das Emblem einer Supermarktkette. Hier ist der Eingang zum Rathaus.
Plötzlich beschleicht mich ein düsterer Gedanke. Politik und Kaufen, gehören die tatsächlich zusammen?
Was wenn man an diesem Ort politische Entscheidungen kaufen könnte wie Lebensmittel in einem Supermarktregal? Wir haben unsere Politik schlecht verkauft, habe ich die Worte eines Parteivorsitzenden nach seiner Wahlniederlage im Ohr.
Ich gehe ins Rathaus, ich will jetzt nach oben, ich muss die Perspektive wechseln. Da oben über der Stadt, in der Panoramaetage, wird sich alles aufklären, das spüre ich. Ich denke an diese italienische Astronautin, Samantha Cristoforetti und die Fotos, die sie aus der ISS von der Erde gemacht hat. Ein herrlicher Fernblick auf Essen und das Ruhrgebiet. Von oben werde ich sehen können, wo die Grenzen der Stadt liegen. Und die Antwort finden, ob es eine Einkaufsstadt ist.
Wer vom Rathaus aus ins Orbit will, kommt zuerst in eine Empfangshalle. Braun. Fettleibige braune Säulen, Wandvertäfelungen aus Holz, auch die Deckenpaneele: braun. Auf dem Fußboden Fliesen, bräunlich gefleckt und klobige Quader zum Sitzen. Braun. Ein hohler Baumstamm als wulstige Skulptur. Ich gehe besser schnell zum Aufzug. Links daneben werde ich von Widerständen und Drähten hinter Plexiglas angezogen. Die sogenannte Linzer Klangwand, ein „musikalisch-kybernetisches Objekt“ von 1980, das angeblich bei jeder Bewegung vor seinen Fotozellen elektronische Musik erzeugt. Ich mache möglichst unauffällig ein paar Sidesteps nach links, dann nach rechts, aber hören kann ich nichts. Die Zukunft ist, seit damals, etwas in die Jahre gekommen. Das zeigt sich auch im Lift, der ein wenig an eine Raumkapsel aus den 60ern erinnert. Im Fahrstuhlschacht pfeift gellend der Wind. Womöglich geht es auf dem Weg nach oben nur noch weiter in die Vergangenheit zurück?
Der silberne Metallkasten wackelt gefährlich als ich hinaufgeschossen werde. Es herrscht Druckabfall, ich kann meinen Herzschlag hören. Wo werde ich landen? Einundzwanzig Etagen bis ins Orbit, aber in wenigen Sekunden werde ich da oben sein, im Orbit, ein ganzer Planet zu meinen Füßen. Die elektrischen Türen schieben sich auf: Ordnungsamt. Zwischen Stadt und Weitblick liegt ein Amt, aber ich bin jetzt fast da. Ich schlängle mich durch röhrenartig schmale Gänge, gehe direkt auf eine Scheibe zu, die am Ende des Korridors weiß leuchtet. Von hier blicke ich hinab. Tatsächlich, ein bisschen ist es wie im All: Kleine gelbe Robot-Raupen ganz weit unten, die aussehen, als würden sie schlafen. Das ist das Depot der Essener Verkehrsbetriebe. Aber der Ausschnitt, den dieses Bullauge zeigt, ist viel zu klein, um Essens Ende sehen zu können. Das Fenster ist keinen halben Meter breit. Panorama ist etwas anderes. Ich schaue noch einmal in den Stadtplan: 22. Etage heißt es da. Ich bin aber erst auf einundzwanzig. Höher ging es mit diesem Metallkasten nicht. Im Röhrenlabyrinth des Ordnungsamtes suche ich hastig nach einem Treppenhaus. Hinter einer schweren Stahltür finde ich es tatsächlich. Die Treppen führen noch weiter nach oben, mein Puls wird schneller, ich nähere mich der ISS-Perspektive auf das Ruhrgebiet und werde erstaunliche Fotografien machen können, genau wie Samantha Cristoforetti, Fotos, auf denen man die Stadtgrenzen erkennen kann und es in klaren Konturen vor sich sieht: Essens Ende.  
Leider ist der Orbit vergittert. Im Ordnungsamt erklärt mir eine Mitarbeiterin, dass sie zum Panorama keinen Schlüssel habe. „Sie können mal unten am Empfang fragen. Ich weiß nicht, ob es zum Besichtigen vielleicht Termine gibt. Oder ein Formular, mit dem Sie sich anmelden können.“ Termine? Formular? Das klingt nach  kommunalem Ausweichmanöver, aber ich lasse mich jetzt nicht mehr aufhalten, so kurz vor dem Ziel, das nur noch ein kleiner Schritt für mich ist, aber ein großer für Essen (und das Ruhrgebiet). Todesmutig steige ich ein zweites Mal in die klapprige, silberne Raumkapsel, versuche meinen Herzschlag, der sich schon wieder beschleunigt, zu ignorieren, doch ich habe mich verschätzt. Die Fahrt hinab, die in dieser Geschwindigkeit nichts anderes als freier Fall sein kann, ist zu viel für mich. Viel zuviel. Das Blut in meinem Kopf fällt langsamer als mein Körper, ich sehe Sternchen, begreife plötzlich, warum unten ein Defibrillator an der Wand hing, er verschwimmt vor meinen Augen mit Buchstaben, den Buchstaben aus einer morgens überflogenen Randnotiz, eine Studie aus Toronto sagt, dass Herzanfälle in hohen Gebäuden besonders gefährlich sind, nicht einmal 0,9% ist meine Überlebenswahrscheinlichkeit, rechne ich aus in den Sekundenbruchteilen, die mir noch bleiben – und falle im Erdgeschoss wie ein Meteoritenklumpen aus dem Fahrstuhl.
Unfähig zu einem klaren Gedanken stolpere ich benommen vorbei am Herzmassagegerät, torkle hinüber ins schaumige Braun der Empfangshalle, vorbei an der verzerrt lächelnden Dame am Tresen, gleite hinaus in die hell erleuchtete Mall und weiter durch die dichte, glitzernde Parfümwolke, um mich drehende Sonderangebote, venezianische Masken, pinke Schriftzeichen, der Techno-Olymp. Auf dem Handy Google Maps checkend laufe ich erneut gegen den bärtigen Platon an, der mich fragt, ob ich jetzt die Gemeinsamkeit zwischen Kaufhaus und Demokratie verstünde. „Lass mich in Ruhe mit deinen Fragen, die keine Antworten mehr brauchen“, rufe ich. „Fahr doch selbst mal mit diesem Fahrstuhl und such das Ende!“ Und stellvertretend für alle in der Mall schleudere ich rhetorische Fragen zurück. „Musst du nie einkaufen gehen? Kannst du dir nicht vorstellen, dass die Essener Beamten das praktisch finden?“ Aus einem Angebotsständer greift der Grieche mit ausladender Geste ein Buch und schlägt es auf. Er trägt mit Inbrunst ein Gedicht von Rimbaud vor: „Ausverkauf.“ Mir schwirrt der Kopf und ich versuche den Philosophen zu stoppen, indem ich eine Maxi-Packung bunt gemischter Donuts kaufe, die ich ihm wütend entgegenschleudere, unterstützt von den johlenden Teenagern auf dem Olymp. Doch der bärtige Grieche liest weiter, nun mit bebender Stimme Kristin Ross zitierend. Seine sonoren Worte, diese tiefe Bässe aus dem Olymp, überrollen mich wie eine Druckwelle, treiben und stoßen mich rückwärts durch die Glastür hinab auf die Rolltreppe, die in Essens Unterwelt führt. Ich sinke, falle tiefer, stürze vorbei an mich beschimpfenden Obdachlosen, an mich auslachenden Kunststudenten, rutsche durch die offenen Wände einer Baustelle hindurch, noch weiter nach unten – und sitze schließlich in der U11.
Ich sitze. Dass die U11 weder die ISS ist noch in meine Richtung fährt, ist mir egal. Ich schreibe eine Nachricht an Marc. Wenn du ins Rathaus gehst, es gibt einen Seiteneingang ohne Geschäfte.
Pascal Bovée begibt sich als “Writer in Residence” bei PACT auf die Suche nach dem Unbekannten im Vertrauten. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt Essen untersucht er seine unmittelbare architektonische und geografische Umgebung und beleuchtet ihren Einfluss auf seine Wahrnehmung und sein Erleben. Dabei entstehen psychogeographische Reiseberichte voller abseitiger Details und überraschenden Neuentdeckungen in Essen und seinen Grenzbereichen. Dort wo Dinge aufeinander treffen, sich abstoßen oder ineinander verschmelzen ergeben sich neue Fragen, neue Denkanstöße, neue Enden und neue Anfänge. Bovée erklärt die Peripherie zum Zentrum, und rückt dadurch das was unserer Aufmerksamkeit im Alltag entgeht, in unser Sichtfeld.
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