#Sichtwahlautomatik
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März 2021
Was ich erst hatte, dann 50 Jahre nicht und dann wieder
„Für Dich ist heute ein Päckchen gekommen. Es liegt im Flur.“
Das wird bestimmt die Sendung von „Gewürz Mayer“ sein, denke ich mir. Ich hatte dort ein paar Tage zuvor etwas bestellt.
Als ich einige Stunden später nachschaue, sehe ich, dass das Päckchen von Kathrin Passig ist. Es enthält einen Vierfarbkugelschreiber „Faber Castell Colorex“, den sie, wie ich später erfahre, bei eBay gekauft hat.
Vor einiger Zeit schrieb ich im Techniktagebuch, dass ich als Kind um 1970 herum für kurze Zeit einen Vierfarbkugelschreiber besaß, bei dem man die Schreibfarbe auswählte, indem man die gewünschte Farbe anschaute.
Um in einer bestimmten Farbe schreiben zu können, beispielsweise mit der roten Mine, musste man lediglich den roten Punkt außen auf dem Kugelschreiber anschauen und gleichzeitig den Druckknopf hineindrücken, woraufhin die rote Mine unten aus dem Stift geschoben wurde.
Ich ahnte damals zwar bereits, dass bloßes Anschauen einer Farbe nicht die Auswahl der entsprechenden Mine bewirken kann, aber niemand konnte mir erklären, was sich tatsächlich im Innern des Kugelschreibers abspielte.
Erst Jahre später fand ich die Erklärung für die damals so rätselhafte „Sichtwahlautomatik“ und lernte, dass dabei die Schwerkraft eine Rolle spielt. Infolgedessen funktioniert die „Farbwahl durch Anschauen“ auch nur, wenn man den Kugelschreiber so hält, dass der Punkt mit der gewünschten Farbe oben liegt; das eigentliche Anschauen kann man sich dann sparen.
Bei meinen Recherchen vor zwei Jahren entdeckte ich im SPIEGEL-Archiv eine alte Ausgabe aus dem Jahr 1968 mit einer Werbeanzeige für einen Vierfarbkugelschreiber von Faber Castell namens „Colorex“ für 4,90 Mark und Achtung, hier schließt sich der Kreis: es ist exakt der Kugelschreiber, den Kathrin Passig mir schickte, erstaunlicherweise sogar in der alten Originalverpackung inklusive Bedienungsanleitung; auch vier (neue) Ersatzminen enthielt das kleine Paket.
So gut erhaltene Exemplare sind anscheinend sehr selten, und ich habe keine Ahnung, wie Kathrin Passig es geschafft hat, diesen einen zu finden.
Die Originalminen schreiben nicht mehr richtig, aber die vorausschauenderweise mitgeschickten neuen Ersatzminen lassen sich völlig problemlos in den 50 Jahre alten Kugelschreiber einsetzen, und mir wird klar, dass Kugelschreiberminen anscheinend schon lange standardisiert sind.
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Nach einigem Nachdenken wird mir bewusst, dass es nicht viel gibt, das ich einmal besaß, dann 50 Jahre lang nicht und dann wieder, und es wird bestimmt nicht mehr oft geschehen in meinem restlichen Leben, wenn überhaupt. Da müsste ich schon eine alte Märklin-Eisenbahn bei eBay ersteigern oder einen Experimentierkasten „Kosmos Elektromann“, den ich als Kind hatte.
Den Vierfarbkugelschreiber mit Farbwahl durch Anschauen finde ich immer noch faszinierend, obwohl ich ja nun weiß, dass dabei keine magischen „Sehstrahlen“ beteiligt sind, sondern nur die Schwerkraft. Ich bewundere die Person, die die Sichtwahlautomatik erfunden hat, ein wenig und bedaure gleichzeitig, dass ich nicht selbst einmal eine so gute Idee hatte.
(Oliver Laumann)
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Um 1970
Farbwahl mit magischen Sehstrahlen
Schon als Kind war es mir wichtig, von allen technischen und naturwissenschaftlichen Phänomenen, die ich im Alltag um mich herum wahrnahm, die Funktionsweise wenigstens annähernd zu verstehen. War dies einmal nicht möglich, fühlte ich mich unwohl.
Oft waren die Zusammenhänge ja leicht nachzuvollziehen. So war ich als Kind jahrelang davon überzeugt, dass die Ursache für Wind darin bestand, dass sich die Bäume bewegten. Ich konnte das ja beobachten: zuerst schwankten die Äste an den Bäumen und die Bäume bogen sich, und dann, einen Moment später, spürte ich den dadurch erzeugten Luftzug im Gesicht. Und wenn die Bäume stillhielten, gab es auch keinen Wind.
Gegen 1970 trat ein Gegenstand in mein Leben, für dessen Funktion ich keinerlei Erklärung hatte und der mir für lange Zeit auf beunruhigende Weise rätselhaft erschien. Der Auslöser für mein kognitives Unwohlsein war ein Vierfarbkugelschreiber.
Früher waren Kugelschreiber mit vier Minen in den Farben schwarz, blau, rot und grün weit verbreitet. Sie bestanden meist aus Metall, und über einen Mechanismus mit vier Schiebern, einem für jede Farbe, konnte die jeweils benötigte Mine aus dem Stift gedrückt werden. Das folgende Foto zeigt einen solchen Kugelschreiber (zu sehen sind die Schiebeknöpfe für die grüne und die schwarze Mine).
Foto: Joe Haupt,��www.flickr.com/photos/51764518@N02/23682480612/, CC BY-SA 2.0
Irgendjemand schenkte mir damals eine Variante dieses Kugelschreibers, bei der man die Farbe nicht durch Betätigung eines Schiebeknopfs wählt, sondern indem man die gewünschte Farbe anschaut. Der Stift hatte an den Seiten nicht die vier üblichen Schieber, sondern nur vier Punkte in den unterschiedlichen Farben. Um in einer bestimmten Farbe schreiben zu können, musste man den Punkt mit der gewünschten Farbe anschauen und gleichzeitig einen Knopf am Ende des Kugelschreibers drücken. Tatsächlich wurde dann die richtige Mine unten aus dem Stift geschoben.
Der Kugelschreiber ließ mir keine Ruhe. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie es möglich ist, dass durch einfaches Anschauen eine Schriftfarbe gewählt werden kann. Wieder und wieder probierte ich den rätselhaften Mechanismus aus, ohne auch nur ansatzweise ein Verständnis oder eine Theorie für die Funktionsweise zu entwickeln. Dass bloßes Anschauen nicht die Wahl einer Farbe bewirken kann, war mir zwar intuitiv klar, aber was war es dann? Ich empfand meine Unfähigkeit, die Wirkungsweise zu begreifen, als sehr bedenklich. Auch mehrere von mir befragte Personen hatten keine Erklärung. Niemand konnte mich von meiner mentalen Dissonanz erlösen.
Viele Jahre später, es gab mittlerweile das Internet, in dem man Dinge nachschauen kann, und der rätselhafte Kugelschreiber war längst verschollen, las ich eine Erklärung der Funktion. Die sogenannte „Sichtwahlautomatik“ verwendet einen einfachen Pendelmechanismus. Ein im Innern des Kugelschreibers beweglich aufgehängtes Gewicht liegt an der jeweils untenliegenden Mine und schiebt sie bei Betätigung des Drückers aus der Spitze des Kugelschreibers. Die Farbmarkierungen außen am Kugelschreiber sind jeweils gegenüber der dazugehörigen Mine positioniert. Wenn man dann von oben auf einen Farbpunkt schaut, liegt die korrespondierende Mine unten, so dass sie über das Pendelgewicht aktiviert werden kann.
Da die Sichtwahlautomatik also nicht auf magischen „Sehstrahlen“ beruht, sondern auf der Schwerkraft, funktioniert die Farbwahl auch nur dann zuverlässig, wenn man von oben auf den Kugelschreiber schaut. Hält man ihn senkrecht, oder legt man sich ins Bett, hält den Stift mit ausgestrecktem Arm über sich und schaut von unten darauf, wird die falsche oder eine zufällige Farbe ausgewählt. Auf die Idee, dies einmal auszuprobieren, kam mein kindliches Spatzengehirn aber nicht. Anderenfalls hätte ich das Rätsel vielleicht schon damals lösen können.
Bei meinen Nachforschungen Anfang 2019 finde ich im SPIEGEL-Archiv eine Seite aus einer alten Ausgabe der Zeitschrift mit einer Werbung für einen Kugelschreiber mit Sichtwahlautomatik. Wegen eines Beitrags zu Rudi Dutschke auf derselben Seite lässt sich das Erscheinungsjahr auf 1968 datieren. Der beworbene Vierfarbkugelschreiber heißt „Colorex“ und ist von der Firma Faber-Castell. Er kostet DM 4,90; die vergoldete Variante DM 22,50. Eine Grafik mit stilisiertem Auge und zwei Pfeilen oben in der Anzeige suggeriert, dass die Farbwahlfunktion tatsächlich auf magischen „Sehstrahlen“ beruht.
Kathrin Passig macht mich darauf aufmerksam, dass es bei Amazon einen Kugelschreiber von Lamy mit Sichtwahlautomatik gibt, eine Art Nachbau des Stiftes, den ich von früher kenne. Das Schreibgerät in Luxus-Anmutung in „zeitlos moderner Ästhetik, perfekter Funktionalität und höchster Qualität“ kostet 51 Euro. Gerne hätte ich einen billigen Vierfarbkugelschreiber gekauft, um das Innenleben einmal zerlegen zu können. Kurz überlege ich, mir den Lamy zuzulegen, lese dann aber in den Rezensionen „funktioniert nicht“, „die Mechanik kratzt und klemmt“, „bin entsetzt“, „unfassbar“ und überlege es mir anders. Ich möchte mir meine Erinnerung an den magischen Kugelschreiber von früher nicht durch die enttäuschende Gegenwart verderben lassen.
(Oliver Laumann)
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