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"Niemand soll mich mir nehmen": Nabokov lesen, 30. Einladung zur Enthauptung oder "Der letzte Mensch".
“Niemand soll mich mir nehmen”: Nabokov lesen, 30. Einladung zur Enthauptung oder “Der letzte Mensch”.
Dies ist das blinde Ende dieses Lebens, und ich hätte Rettung nicht innerhalb seiner Grenzen suchen sollen. …
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Fundstück
Ricarda Huch: Michael Bakunin und die Anarchie
4.
Russische Einflüsse auf Bakunin
In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde Rußland, über das bis dahin nur legendarische Nachrichten im Westen verbreitet waren, verschiedentlich bereist und beschrieben. Am bekanntesten und wirkungsvollsten waren zwei Bücher: das eines Franzosen, des Marquis de Custine, und das eines westfälischen Edelmannes, August von Haxthausen. Custine beschränkte seine Kenntnis auf den Hof und die Beamtenkreise, die ihn umgaben; Haxthausen, ein Zögling der deutschen Romantik, interessierte sich hauptsächlich für das Volk und das Volkstümliche. Custine sah in den Russen hauptsächlich die Affen der westlichen Zivilisation, die sie äußerlich nachahmten, ohne von ihrem Wesen berührt zu werden. Er sprach ihnen originale schöpferische Begabung ab. Von seinem Standpunkt aus, der mehr der des Aristokraten des Ancien régime als der des Liberalen war, beleidigte ihn die doppelte Veranlagung der Russen zu Willkür und Grausamkeit auf der einen, zur Unterwürfigkeit auf der anderen Seite. Es ekelte ihn fast ebenso vor den Getretenen wie vor den übermütigen Herren, die er zu beklagen geneigt war, da sie ja in gewisser Hinsicht die Opfer würdeloser und markloser Demut wären. Die Vergötterung eines Menschen, des Zaren, war in seinen Augen ein Zeichen von Irreligiosität; mit Entrüstung sah er das Gebot, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, in Rußland vergessen. Diese überall hervorbrechende Gesinnung verleiht dem Buche von Custine Glanz und Schwung.
Haxthausen, eine beschaulichere Natur und Romantiker, berührte die Verhältnisse der Leibeigenschaft möglichst schonend und spürte dem innerhalb der Sklaverei erhaltenen eigentümlichen Volksleben nach. Auf die Begleitung und Führerschaft gebildeter Russen angewiesen, lernte er das Land wohl von der günstigsten Seite kennen; indessen auch unparteiische Russen bestätigten das Zutreffende seiner Schilderungen. Es war die Zeit, wo in Frankreich und Deutschland sich zum ersten Male kommunistische Ideale verbreiteten, im allgemeinen Abscheu und Entrüstung erregend; nun erfuhr Haxthausen zu seinem Erstaunen, daß in der russischen Bauerngemeinde ein kommunistisches Ideal verwirklicht war ohne den Beigeschmack des Verworfenen und Unsinnigen, den die Bourgeoisie damit zu verbinden pflegte. Haxthausen beobachtete und schilderte die russische Bauerngemeinde, Mir genannt, welche auf dem Gemeinbesitz von Grund und Boden beruht; er schilderte, wie das Land nach gemeinsamem Beschluß stets neu verteilt wird in der Weise, daß die Kopfzahl und die Beschaffenheit der Familie in Betracht gezogen wird. Es fiel ihm auf, wie willig sich die ganze Bauernschaft dem einmal gewählten Ältesten unterwarf und daß trotz der rechtlichen Hörigkeit der Bauern innerhalb des Mir weder der adlige Herr noch der Zar etwas zu sagen habe; es schien ihm sinnig und merkwürdig, daß das Wort Mir zugleich Welt bedeutet. Haxthausen unterließ nicht zu betonen, daß er die gedanklichen Schlußfolgerungen, durch welche die modernen Kommunisten zu ihren Grundsätzen kämen, Atheismus und Nihilismus, durchaus verdamme; aber er leugnete nicht, daß er in der russischen Bauerngemeinde etwas tief Menschliches, Schönes bewundere. Namentlich glaubte er, daß dadurch in Rußland die Entstehung eines Proletariats verhindert sei, indem es keinen Menschen gebe, der nicht eine Heimat und eine Gemeinschaft habe, wo er Arbeit und Brot finde. Blieben doch auch die Fabrikarbeiter, deren es damals noch nicht viele gab, Glieder des Mir, zu dem sie zurückkehrten, wenn die Feldarbeit die Anwesenheit aller erforderte. Daß dies möglich war, deutet auf eine andere Erscheinung, die Haxthausen in Rußland auffiel, nämlich das Fließende aller Daseinsformen.
Sowohl der Gemeinbesitz des Bodens wie das Fließende der Zustände sind Zeichen der Jugendlichkeit eines Volkes, die sich in Rußland neben der modernen Zivilisation erhalten hatten. Teilung und Spezialisierung der Arbeit bestanden erst in geringem Grade; Haxthausen staunte, wie die russischen Bauern Geschick zu allem zeigten und in kurzer Zeit ebensowohl zum Tapezierer oder Schreiner als zum Schauspieler auszubilden waren. Während der Deutsche ein Wechseln des Berufes beinah als ehrenrührig betrachtet und gewöhnlich zu jedem Beruf untauglich ist, auf den er sich nicht durch Jahre vorbereitet hat, den womöglich schon sein Vater ausübte, ergreift der Russe nach Bedarf dies und das und zeigt zu allem Talent. Die verhängnisvolle Trennung in körperliche und geistige Arbeit bestand zwar auch; indessen bei allgemeiner Trägheit und Arbeitsscheu galt doch die körperliche Arbeit nicht so wie bei uns als etwas Erniedrigendes. Die Neigung, sich zusammenzuschließen, bemerkte Haxthausen überall in Rußland; wo irgendein paar Russen zusammenkamen, bildeten sie ein sogenanntes Artel, eine Gesellschaft, welche Arbeit, Einnahme und Ausgabe als gemeinsame Angelegenheit behandelte. Auch diese Assoziationen hatten nach Haxthausens Beobachtung einen fließenden Charakter im Gegensatz zu den fest geschlossenen deutschen Korporationen. Eine Mitwirkung am staatlichen Leben hatten und beanspruchten sie natürlich nicht.
Besonders zeigte sich das Fließende in den Besitzverhältnissen. Nirgends sei, sagt Haxthausen, so großer Umschwung in jeder Art von Vermögen wie in Rußland. Selten komme ein großes Vermögen auf den dritten Erben, alles Eigentum hänge an losen Fäden und wechsle mit rasender Schnelle. Die Geldwirtschaft hatte in Rußland noch nicht denselben Grad erreicht wie im Westen, die Industrie war noch in den Anfängen. Sieht man von Petersburg ab, so waren die Lebensgewohnheiten im allgemeinen bescheiden, bis auf die Bequemlichkeit, die die Bedienung durch zahlreiche Leibeigene mit sich brachte. Die Russen waren außerordentlich freigebig. Mit dem Bettler und Vagabunden hatte jeder Mitleid sowie mit den Gefangenen, denen Gaben reichlich zuströmten. Haxthausen beobachtete, daß in den Höfen der Gefängnisse Wagen voller Geschenke für die Verschickten standen. Man nahm Partei für alle Unglücklichen, zu denen jeder unversehens gehören konnte, während im Westen zwischen den Glücklichen und den Unglücklichen, vollends zwischen den Verbrechern und den Unbestraften, eine grausame Scheidewand sich erhebt.
Ein Österreicher, der im Beginn unseres Jahrhunderts Rußland besuchte, schrieb einer russischen Dame ins Album: »Rußland ist ein Kerker, aber er wird von Menschen bewohnt. Der Westen ist frei, aber er kennt fast nur noch Geschäftsleute.«
Mit diesen Besonderheiten, die dem Beobachter des russischen Landes auffallen, ist aber die Eigenart des russischen Wesens nicht erschöpft.
Einmal, als Bakunin als alternder Mann in der Schweiz wohnte, besuchte ihn ein junger Russe, der nach Bakunins Lehre mit dem Volke wie das Volk, körperlich arbeitend, leben wollte. Mit einem Kameraden machte er sich nach dem Sankt Gotthard auf in der Hoffnung, beim Bau des Tunnels Beschäftigung zu finden. Da sie im Freien übernachten wollten und es abends kalt wurde, zündeten sie sich ein Feuer an, wurden aber bald durch einen Waldhüter gestört, der ihnen bedeutete, daß das verboten sei. Das enttäuschte sie sehr; leidenschaftliches Heimweh erwachte in ihnen nach den unermeßlichen Wäldern Rußlands, wo Stunden und Stunden kein Laut ertönt als der Schrei eines wilden Vogels, wo der Wanderer allein ist mit seinen Träumen und der Natur und keinem Menschen begegnet als etwa einem Flüchtling, einem Vagabunden, einem Bettler, die, wenn auch in Lumpen gehüllt und oft einen Bissen Brot entbehrend, doch hier königlicher Freiheit genießen. Es gibt viele tiefsinnige Bestimmungen des Begriffs Freiheit; aber es gibt eine Freiheit, die jedes Kind versteht: ein Leben außerhalb des Staates und der konventionellen Gesellschaft, nur durch die Natur beschränkt, darin inbegriffen die eigene Kraft und die der anderen. So wenig der Russe im allgemeinen davon Gebrauch machen kann, besonders der in Petersburg lebende, beständig überwachte: etwas davon ist doch in seinem Wesen und kann sich plötzlich geltend machen.
Der Hauch dieser Freiheit charakterisiert auch die Meisterwerke der russischen Literatur, die im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entstanden. In der Erzählung »Die Tochter des Hauptmanns« schildert Puschkin Pugatschew und die von ihm geführte Bauernrevolte, in »Taras Bulba« schildert Gogol das Leben der freien Kosaken. Beides sind Märchenromane, durch die der Takt ungebändigter Rosse sprengt, die das Aroma nie bebauter Erde würzt. Die ferne Vision des Kaukasus, der Wolga, des Ural, Sibiriens verleiht der russischen Dichtung den unnachahmlichen, unwiderstehlichen Reiz. Aus dem Dunkel der tiefen Wälder, aus dem Gräsergewoge der unermeßlichen Steppen raucht es schöpferisch; hier tief unterzutauchen, löst auf und verjüngt.
In der »Tochter des Hauptmanns« begegnet ein junger Aristokrat auf Reisen einem Bauern mit unwillkürlich wirkungsvoller Persönlichkeit, mit einem schlauen und zugleich gütigen Blick und Lächeln, den er sich zu Dank verpflichtet, indem er ihm seinen Pelz überläßt; als er ihn wieder trifft, erkennt er in ihm den gefürchteten Pugatschew, der, für den Zaren sich ausgebend, die leibeigenen Bauern zur Freiheit aufruft. Aus vielen Kämpfen mit den Regierungstruppen ist er als Sieger hervorgegangen und wirft vor sich alles nieder, was Widerstand leistet, schont aber den jungen Freund, der ihm einst gefällig war. Nachdem es endlich gelingt, der Aufständischen Herr zu werden, sieht der junge Adlige den Rebellen auf dem Schafott enden und empfängt seinen Abschiedsgruß, da er ihn in der Menge der Zuschauer entdeckt, in einem verstohlenen Zwinkern der Augen.
Welche Überlegenheit in diesem Blick! Wie heldenhaft wird der Tod dieses dunklen Befreiers durch die geringe Gebärde! Unsterblich hat der Dichter seinem Volke die Gestalt ans Herz gelegt, immer wieder begegnet uns in der russischen Dichtung der plumpe Heldenschatten, neben ihm sein Vorgänger Stenka Rasin, der ein Jahrhundert vorher die geknechteten Bauern zur Empörung anführte.
Ich zweifle nicht, daß Bakunin Puschkins »Tochter des Hauptmanns« kannte und liebte; sicher ist, daß »Taras Bulba« ein Lieblingsbuch von ihm war. Noch im neunzehnten Jahrhundert bildeten die Kosaken freie Räuberrepubliken, in denen sich die uralte Form des Zusammenlebens, die Ebenbürtigkeit aller erhalten hatte. Der Anführer, den sie wählten, blieb der Erste unter Gleichen; auf den Vorschlag eines Beliebigen mußte er zurücktreten, wenn die übrigen zustimmten. Einzig in Kriegsläuften wurde strenge Unterordnung unter den Befehl des Führers gefordert und geleistet. Ein solches Volk war wie ein Wald, in dem jeder Baum ein herrliches Gewächs ist, auf sich selbst ruhend, mit Wind und Wetter kämpfend, jeder ein König und doch im unzertrennlichen Zusammenhang der Gemeinde, wo jeder für alle einsteht und alle für einen. Gogols heroische Dichtung, wunderbar einem Geiste entsprungen, der in unfruchtbarer Mystik erlöschen sollte, hat sich Bakunin tief eingeprägt und sein Denken beeinflußt. Diese Männer, denen die Liebe zum Weibe nicht mehr bedeuten darf als eine kurze Frühlingsmondnacht, deren Leben ausgefüllt ist mit Gefahr, Wagnis und Kampf, Beutezügen und Zechgelagen, in denen mitleidlose Roheit, innigstes Gefühl und über den Tod triumphierende Freiheitsliebe gesellt sind, erschienen ihm als Vorbilder, und ein so verbrausendes Leben schien ihm lebenswert. Wie niederdrückend und beschämend mußte es ihm vorkommen, daß gerade die Kosaken nun ein Werkzeug der Despotie geworden waren, wenn auch immer noch unter sich als Männerrepublik geordnet. In diesem seltsam ungeheuren Reiche gab es nebeneinander unvereinbare Elemente: Neben der alles fesselnden und erstickenden Beamten- und Polizeiwirtschaft konnten in undurchdringlichen Wäldern von schweifenden Menschen fremdartige Abenteuer erlebt werden.
Von diesen Elementen hatte Michael nicht nur durch Lektüre etwas in sich aufgenommen, sondern es war etwas davon in seiner Natur. Er vereinigte alle die charakteristisch russischen Züge in sich: Liebenswürdigkeit, Humanität, Freigebigkeit, Kindlichkeit, Trägheit bei stoßweiser Energie, Hang zu ungeregeltem, vagabundierendem Leben. Dazu kam der Freiheitsdrang und der Stolz, der sich bei den freien Tscherkessen des Kaukasus erhalten hatte. Etwas Wildes und Primitives überraschte aber auch seine russischen Freunde, gerade in Verbindung mit der hohen Kultur, die ihn auszeichnete. Der dem Ausländer als typischer Großrusse erschien, befremdete alle Russen.
Was für Freunde waren diese jungen Russen! Das Einstehen aller für einen und eines für alle, das Michael später so oft als Lebensregel dem herrschenden Egoismus entgegenstellte, ward hier in hohem Grade verwirklicht. Herzens Noblesse ermöglichte Bakunin die ersehnte Reise nach Deutschland; ohne zu zögern, nahm er an, mit einfachen, herzlichen Worten dankend. Es war im Jahre 1840, als er sich von dem schönen Vaterhause, dem vergötterten Vater, den geliebten Schwestern losriß, die ihren Mittelpunkt in ihm verloren. Diese gesicherte Welt, die so viel für ihn bedeutet hatte, versank ganz hinter ihm; frei und vertrauend, magnetisch schicksalhaft angezogen, warf er sich in die verhüllte Zukunft.
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Das Typische im Individuum
Das Typische im Menschen – R.M.F – Alltagspsychologie
typ-mensch Vielleicht gibt man zu, dass letztlich jedes Individuum einzig und Gleichheit im tiefsten Sinne nirgends in der Welt zu finden ist. Aber man zuckt die Achseln und fragt, ob solche Erkenntnis nicht jede andere Erkenntnis unmöglich mache, da doch das Ideal des Erkennens ist: aus gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu gewinnen. Sicherlich, man kann einwenden, dass jene Lehre, konsequent durchdacht, die Welt in ein Chaos verwandeln, eine unendliche Sammlung von Kuriositäten, dass sie vor allem aber unser Bild vom Menschen, das wir zunächst entwarfen, eine überflüssige Spielerei darstellen mag. Wie auch immer, es ist nicht ganz so schlimm! Gewiss, die absolute Gleichheit der Individuen wie ihre absolute Einzigkeit haben im praktischen Sinn einen geringen Erkenntniswert. Aber jene Gleichheit ist zugegebenerweise ein künstliches Schema, ein vorläufiger Behelf. Die Einzigkeit dagegen ist praktisch insofern gleichgültig, als wir sie im Alltag selten wahrnehmen. Was wir an den Menschen sehen, ist weder vollkommene Gleichheit noch vollkommene Verschiedenheit, sondern ist eine kaum abgrenzbare Zahl von Zwischenstufen zwischen Gleichheit und Verschiedenheit, von »Ähnlichkeiten«, auf Grund deren sich der Fülle der absoluten Einzigkeiten gewissen »Typen« heraus sondern. Wenn uns ein Mensch auf der Straße begegnet, so sehen wir in ihm weder ein farb- und charakterloses Klischee der Gattung homo sapiens, noch erfassen wir ihn in seiner absoluten Individualität, sondern wir bemerken vor allem seine Zugehörigkeit zu gewissen Typen: ob er Mann oder Frau, ob er Jüngling oder Greis, ob er Europäer oder Nichteuropäer, ob er vornehmen Kreisen oder den Arbeiterschichten angehörig, ob er brünett oder blond, ob er bartlos oder bebartet ist. All das erfassen wir in der Regel auf einen Blick, und es ist nicht wenig erstaunlich, was solch ein erster Blick alles aufzunehmen vermag, besonders wenn wir erwägen, dass er auch Wertbeurteilungen einschließt: sympatisch oder unangenehm, schön oder hässlich usw.! Wir sehen also streng genommen nicht das Individuum als solches, sondern seine Zugehörigkeit zu bestimmten Typen. Aber auch wenn er uns als Herr August Schultze vorgestellt wird, wenn wir uns mit ihm unterhalten, ja, wenn wir ihn, was man so nennt, gründlich kennen lernen, so erkennen wir das Tiefste seiner Individualität doch nicht, nur das Typennetz wird enger. Das Letzte der Individualität ist unserem Verstand jedenfalls unzugänglich, dem Verstand, der die Wirklichkeit immer schematisiert. Es ist vielleicht intuitiv (mit dem Instinkt oder Gefühl, wie man sagt) erfassbar, jedenfalls ist für unser Gefühl jeder Mensch, den wir kennen, Individualität. Ob das im gleichen Sinn Erkenntnis ist wie die Verstandeserkenntnis, braucht hier nicht untersucht zu werden. Auf diesen Blättern soll wesentlich von dem die Rede sein, was vom Leben mit dem Verstand zu ergreifen ist. Mag also die Gefühlserkenntnis die Einzigkeit menschlicher Individualitäten erfassen (je inniger, je tiefer wir einen Menschen lieben, um so mehr fühlen wir gerade seine Einzigkeit und Unersetzbarkeit) -- sowie wir diese Einzigkeit mit dem Verstand erkennen wollen, können wir das nur, indem wir sie gleichsam an mehrere sich darin schneidende Typen aufteilen, so wie die Mathematiker die Lage eines Punktes nur durch seine Beziehung zu mehreren Linien bestimmen können. Den freilich nur bedingten Wert des Verfahrens geben wir dabei insofern zu, als wir bei der Zuordnung einer Individualität zu bestimmten Typen stets den Vorbehalt machen, dass all diese typisierende Charakteristik das letzte Wesen des Individuums nie ganz erschließt. Wir mögen sagen, Herr Schultze sei zu gleicher Zeit ein typischer Berliner, ein typischer Kaufmann, ein typischer Choleriker, ein typischer Junggeselle, ein typischer Vereinsmeier oder ein typischer Bierphilister. Alle diese Bezeichnungen mögen stimmen, und doch ist er für seine Freunde, die vielleicht alle ebenfalls diesen Typen angehören, mehr. Ihnen ist er ein Individuum, das -- wie schon die Scholastiker wussten -- ineffable, unbegreifbar ist. Zugegeben also, dass man durch Typenbegriffe eine Individualität nur so erfassen kann, wie man einen Kreis durch angelegte Tangenten erfasst. Zugegeben, dass allen derartigen Charakteristiken die Individualität im Sinn der Einzigkeit entschlüpft, sie sind doch unentbehrlich für das Leben. Das, was man Menschenkenntnis nennt, ist zum guten Teil der Sinn für das typische Wesen der Menschen, woraus sich auch typische Handlungen voraussagen lassen. Und wenn solche Menschenkenntnis niemals absolute Sicherheit verbürgt, so doch oft hohe Wahrscheinlichkeit, die es gestattet, das Verhalten des Betreffenden auch für Situationen, in denen man ihn nie erblickt hat, voraus zu bestimmen. Auch ohne besagten Herrn August Schultze aus Berlin als Individuum genau zu kennen, lässt sich mit Bestimmtheit auf Grund jener Typenzuordnung voraussagen, dass er, wenn man ihn auf dem Stadtbahnhof aus Versehen anstößt, wesentlich anders reagieren wird als etwa ein Aristokrat oder eine Ladenmamsell. Man wird mit ungefährer Sicherheit die Koseworte vorausbestimmen können, mit denen er seinen Gegner bedenkt, den Hinweis auf seine bedrohten Hühneraugen, die grollenden Ermahnungen, der andere möge seine Augen offen halten, indes der Aristokrat mit überlegen-verächtlichem, die Ladenmamsell mit verlegenem oder kokettem Lächeln weiter gegangen wären. Menschenkenntnis heißt nicht bloß Sinn für das absolut Einzige der Individualität zu haben, sondern ein gefühlsmäßiges oder auf Erfahrungserkenntnis beruhendes Wissen um die Typenzugehörigkeit eines Individuums. Menschenkenntnis ist niemals eine ganze exakte, sondern höchstens eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber damit doch weit mehr als ein Lotterie- oder Hasardspiel, und wenn es keine unfehlbaren Gesetze dafür gibt, so doch Regeln und Vermutungen, die anzuwenden den ganzen Reiz alles nicht ganz Berechenbaren hat. Das Leben wäre öde und langweilig, wenn man es immer exakt im voraus berechnen könnte und es wäre ein Chaos, wenn bloßer Zufall herrschte. Das Leben ist jedoch so interessant wie ein Schachspiel, weil es möglich ist, wenigstens ungefähr die Züge unserer Mitspieler im Voraus ahnen zu können. Das Typische im Menschen – R.M.F – Alltagspsychologie Read the full article
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