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Nichts anderes aber heißt Dialektik, als auf der Vermittlung des scheinbar Unmittelbaren, und der auf allen Stufen sich entfaltenden Wechselseitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermittlung zu insistieren.
Theodor W. Adorno: Wozu noch Philosophie. In: Theodor W. Adorno: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt a. M. 1963, S.21
Adornos Aufsatz von 1962 versucht sich an der Errettung kritischen Denkens. Das Auseinanderklaffen – sicher nennt er es irgendwo so – von Geist und Gegenstand könne weder der Positivismus noch Heideggers Ontologie erfassen. Die notwendige Arbeit am Begriff leistet für Adorno nur die Kritische Theorie. Was aber, wenn, mit Kittlers Worten, der Geist schließlich ausgetrieben ist aus den Geisteswissenschaften? Ist Kritik dann noch möglich? Woran hätte sie ihren Maßstab? Rahel Jaeggi schlägt eine immanente Kritik vor: Ich erinnere ihre Argumentation nicht mehr vollständig, habe vielleicht auch etwas missverstanden, aber ich frage mich, ob es ausreicht, die Begriffe der Kritik aus dem Gegenstand selbst zu extrapolieren. Schließlich könnte ein scheinbar funktionierendes System sich als zutiefst gestört erweisen, sobald übergeordnete Maßstäbe angelegt werden. Doch woher sollten diese Maßstäbe vernünftigerweise kommen? Aus dem reinen Denken?
Oder eben aus dem reinen Handeln: Eine andere Möglichkeit, Kritik zu begründen, begegnet mir nämlich auch immer wieder. Es handelt sich sozusagen um die performative Wendung der Kritik. Solange sich nämlich Widerstand regt, hat der Positivismus nicht gesiegt. Dabei geht es nicht um Argumente, Vernunft oder Begriffsarbeit. Es geht um den Akt des Widerstands selbst. Adorno würde das natürlich als Geistlosigkeit ablehnen, so wie er den Existenzialismus und das Absurde “selbst schon wieder von der Maschinerie erfaßt” (S.14) sieht. Aber stabilisiert der Widerstand der Tat wirklich zwangsläufig das Bestehende? Vielleicht müssen wir die ganzen Hegelianisch-Marxistischen Debatten auch als folklorische Spitzfindigkeiten endlich hinter uns lassen. Sie scheinen ja im Gegenteil zur Zeit ein Revival zu erleben – und ich bin mir nicht sicher, ob es weiterhilft. Dann doch lieber eine solide Argumentation jenseits von Weltgeist und Dialektik? Denn klar ist: Vieles, was wir loswerden wollen, hält auch einer bloß immanenten Kritik nicht Stand.
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…wohler und eingeschlossener fühlte ich mich in der Menschenwelt; der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist es nur ein Luftzug, der mir die Fersen kühlt.
Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie. In: Franz Kafka: Die Verwandlung und andere Erzählungen. Stuttgart 2020 [1917], S.169
Er ist ein bisschen abgegriffen, Walter Benjamins Engel der Geschichte. Kaum eine um Tiefe bemühte Diskussion über die Moderne, die ihn nicht irgendwann hervorzerren würde. Herhalten muss er dann als kulturpessimistische Fliegenklatsche, mit der Jagd auf im Gespräch herumschwirrenden Fortschrittsglauben gemacht wird. Ich glaube, damit tut man Benjamin dann doch Unrecht. Vielleicht nicht gerade in den allerletzten, verzweifelten Schriften wie Über den Begriff der Geschichte, aber doch über weite Teile seines mir bekannten Werks hinweg, hat Benjamin durchaus zwischen progressivem und regressivem Denken unterscheiden können. Wesentlich besser jedenfalls als der gewöhnliche Künstler/Kunsttheoretiker unserer Tage. Dazu vielleicht bei Gelegenheit mehr.
Heute wollte ich nur auf eine Parallele hinweisen, die mir aufgefallen ist zwischen der berühmten Stelle in Benjamins Text und Kafkas Ein Bericht für eine Akademie. Während Kafkas menschgewordener Schimpanse vom Sturm, der ihm aus der Vergangenheit nachbläst berichtet, erlebt Benjamins Engel einen Sturm, der vom Paradiese her weht. Ich weiß natürlich nicht, ob Benjamin Kafkas 23 Jahre älteren Text kannte und ob die Ähnlichkeit der beiden Passagen schon einmal thematisiert worden ist. Ihre womöglich vergleichbaren Erfahrungen als Teil einer assimilationswilligen jüdischen Minderheit könnten jetzt angeführt werden. Besonders Kafkas Schreiben kreist nach meiner Lektüreerfahrung immer um eine Erfahrung der Fremdheit, die sich in einer obsessiven, zwischen Verachtung und bedingungsloser Unterwerfung schwankenden Auseinandersetzung mit einem unerreichbaren Gegenüber niederschlägt. Man kann seine Texte als Darstellung seiner Erfahrungen als Jude in Prag, als Liebeslyrik oder – wie Georg Lukács – als realistische Beschreibung moderner Subjektivität lesen.
Die Konstruktion eines unerreichbar weit zurückliegenden heilen Urzustandes spiegelt sich im utopische Denken bei Marxisten wie Bloch. Schwingt bei Kafka und selbst beim späten Benjamin nicht auch eine Hoffnung auf die Zukunft mit? Kafkas Schimpanse allerdings hat sich gegen die Anfechtungen revolutionärer Ideen einen bürgerlichen Schutzschirm erarbeitet: Die Weinflasche auf dem Tisch sitzt er im Schaukelstuhl, genießt ein sicheres Einkommen und vergnügt sich mit einer kleinen, halbdressierten Schimpansin, die – wie alle Frauenfiguren Kafkas – “den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick” (Kafka 2020 [1917], S.178) hat. Er schließt: “Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen” (Ebd.). Um nicht in bürgerlichen Positivismus zu enden, müssten wir im Sinne utopische Denkens natürlich formulieren: Man sage nicht, es wird der Mühe nicht – irgendwann einmal – wert gewesen sein. Nur, wie fern darf die Utopie denn sein, um Hoffnung oder, mehr noch, Handeln zu rechtfertigen? Wie schwach darf er werden, der Luftzug an den Fersen?
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Ich denk an meine Liebe, die mich nicht mehr liebt. Ferner kann wohl niemand sein.
Friedrich Kittler: Martin Heidegger, Medien und die Götter Griechenlands. In: Friedrich Kittler: Die Wahrheit der technischen Welt. Frankfurt 2013, S.377
Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt in einer Würdigung oder, treffender, Huldigung Kittlers eine Besonderheit an dessen Denkform – dass er nämlich Themen und Gegenstände, die gewöhnlich völlig getrennten Sphären zugeordnet werden, in seinen Texten engführt und zum Teil in eins fallen lässt. Im Text zu Heidegger, Medien und den Göttern Griechenlands gibt sich diese Methode ja schon im Titel zu erkennen. Die Ontologie der Nähe und Ferne, die Kittler darin beschreibt, sieht er als wesentlichen Beitrag Heideggers zur Philosophie der Neuzeit. Und wer ein wenig Kittler gelesen hat, kann sich denken, worauf die Weiterführung der Heideggerschen Überlegungen bei ihm zuläuft: Auf die Aufhebung des Dualismus von Denken und Sein im Computer. Stattdessen ein Fluidum aus Nahem und Fernem in den Relais der universellen Maschine.
Kittlers durchaus auch architektonische Methode – man könnte sie als theoretische Superimposition beschreiben – verleiht seinen Texten für mein Empfinden eine Dringlichkeit, die Theorie nur selten hat. Und in der zitierten Stelle trifft er natürlich diese sonderbare Konstellation, die mich zur Zeit sehr persönlich beschäftigt: Eine Person, die die nächste war, ist zur fernsten geworden. Das ist schwer zu begreifen. Im Augenblick kann ich an keinem Rollfeld vorbeifahren, keine Bahnfahrt machen, ohne in Panik zu geraten – weil ich mir nichts mehr wünsche, als bei ihr zu sein und doch weiß, dass es unmöglich ist. Gibt es eine Ferne, die sich unmöglich überbrücken lässt, egal welcher Technologie ich mich bediene? Oder muss ich lernen, mich der Maschine zu überlassen? Air France, take me far away!
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Ich glaube, dass jede ethische Bezugnahme und Beziehung, innerhalb oder zwischen Spezies, aus dem seidenstarken Faden der anhaltenden Aufmerksamkeit für die Andersartigkeit-in-Verbindung geknüpft ist. Wir sind nicht Eins, und Sein hängt davon ab, miteinander auszukommen. Wir haben eine Verpflichtung, zu fragen, wer zugegen ist und wer entsteht.
Donna Haraway: Das Manifest für Gefährten. Berlin 2016, S.59
In ihrem “Manifest für Gefährten” schreibt Donna Harraway vordergründig über Menschen und Hunde. Dahinter steht aber ein Nachdenken über einige der schillerndsten Begriffe der Postmoderne im Allgemeinen: der Andere, Differenz, Identität. In der zitierten Passage deutet sie ja auch an, dass es nicht nur abstrakt um die Beziehung zwischen Vertretern unterschiedlicher Spezies geht sondern auch konkret um die Begegnung von Individuen, ob sie nun zur selben Gattung gezählt werden oder nicht. Jede “ethische Bezugnahme” muss für Donna im Modus signifikanter Andersartigkeit stattfinden. Das ist die Kernthese ihres Manifests.
Ich sympathisiere damit. Hunde sollten Donna zufolge weder vermenschlicht werden noch in ihrer Abstammung vom Wolf romantisiert und einer anderen Existenzebene zugeordnet werden – einer “ersten Natur” sozusagen, der wir uns als Verteret der menschlichen Spezies entwachsen glauben. Stattdessen fordert sie gegenseitige Aufmerksamkeit für die konkreten Unterschiede, die sich in signifikanter Andersartigkeit zeigen und eine gemeinsame Entwicklung ermöglichen. Im Falle von Hund und Mensch handelt es sich bei einer solchen gelungenen Bezugnahme für Donna um ein “Beispiel für emergente Naturkulturen” (S. 61).
Ich glaube aber, dass sie sich hier die Sache zu leicht macht. Das zeigt sich schon in der Forderung nach einer “ethischen Bezugnahme” – denn woher sollte in der Verbindung zwischen Mensch und Hund eine Ethik stammen? ich denke nicht, dass Donna hier ein transzendentes Prinzip annimmt, das übrigens auch im Widerspruch zur Vorstellung einer emergenten Beziehung stehen würde. Die Ethik wird natürlich einseitig vom Mensch gesetzt. Sie ist ein rationales Prinzip. Diese Einseitigkeit finde ich übrigens gar nicht falsch. Im Gegenteil: Ich glaube, dass es ein ziemlich dramatischer Fehler ist, die Autonomie von Identitäten über die einigenden Denkversuche der Vernunft zu stellen. Lukács würde das sicherlich lediglich als Widerspiegelung der zersplitterten spätkapitalistischen Wirklichkeit verstehen. Jedenfalls denke ich nicht, dass eine Beziehung selbst in signifikanter Andersartigkeit ohne Asymmetrien auskommt. Über den Modus der Beziehung kann der Hund schließlich nicht entscheiden – und genau deswegen hat der Mensch in dieser Beziehung eine ethische Verantwortung.
Auch zwischen zwei Menschen lassen sich Asymmetrien kaum vermeiden. Wenn ich eine Beziehung von den Individuen her denke, stellt sie sich für mich als eine Form der Herr-Knecht-Dialektik dar: Für den Einzelnen ist das Gegenüber zunächst seine eigene Setzung und nur als solche wirklich. Die Andersartigkeit des Anderen ist jeweils eine aus sich selbst erzeugte und damit eben gerade nicht signifikant in Donnas Sinn. Signifkant wäre erst eine Aufhebung der Differenz, die aber zwischen Individuen im Grunde nicht möglich ist. Darin liegt natürlich eine große Tragik. Zwei schöne Filme, die ich in letzter Zeit gesehn habe, beschäftigen sich genau damit: “In einem Jahr mit 13 Monden” von Rainer Werner Fassbinder und “Gouttes d'eau sur pierres brulantes“ von François Ozon nach einem frühen Theaterstück von selbigem RWF. Es geht jeweils homosexuelle sado-masochistische Beziehungen und das Leiden daran, seine Rolle nicht verlassen zu können. In beiden Filmen versucht der masochistische Partner sein Geschlecht zu verändern, im irrationalen Ringen um Anerkennung, nur um dann von seinem sadistischen Gegenüber verstoßen zu werden.
Ich hatte erwartet – vielleicht aus einem Hegelianischen Reflex heraus – dass dieses Ende der Beziehung den sadistischen Partner härter treffen müsste. Schließlich definiert sich der Herr aus der Anerkennung durch den Knecht und stürzt, sobald dieser sich aus seiner Unterdrückung löst. Tatsächlich passiert in Fassbinders Geschichten das Gegenteil: Für den masochistischen Partner zerbricht die Welt. Sie – ein Zwitter, ein gescheiterter Versuch der Aufhebung, der Befreiung – begehen Selbstmord. Zurück bleibt ein seltsam ungerührter Sadist ohne Opfer. Meine falsche Erwartung hatte wohl damit zu tun, dass ich das Verhältnis von Herr und Knecht intuitiv falsch auf die sadomasochistischen Beziehungen übertragen habe, die Fassbinder darstellt. Die Unterwerfung des masochistischen Partners ist eine freiwillige und dadurch verändert sich die Bezugnahme entscheidend: Die Gewalt geht vom vermeintlichen Knecht aus, der sein Gegenüber in die Rolle des Herren zwingt. Besonders im “Jahr mit 13 Monden” wird das deutlich – hier ist der sadistische Partner nichts als Staffage. Ein Hintergrund für die wunderschöne, surreale, fantasievolle Selbstauslöschung von Elvira Weißhaupt (Volker Spengler).
Das grotesk Narzisstische, Gewalttätige, Dümmliche des sadistischen Anton Saitz (Gottfried John) spiegelt Fassbinder sehr explizit in den Architekturen der Finanzwirtschaft, die gerade in der Zeit um 1978 begannen, die Frankfurter Innenstadt zu überformen. Überhaupt – warum spielt der Film in Frankfurt? Könnte es sein, dass Fassbinder seinen Film bewusst als Kommentar zur “Neukonfiguration des Sozialen durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure – Architekten, Kulturpolitiker, Wähler” (Nikolaus Kuhnert: Wir waren Dilettanten unserer eigenen Geschichte. In: ARCH+ 237, S.88) konzipiert hat, die damals im Schwange war? Mir ist erst durch Nikolaus Kuhnerts Selbstbiographie das eigentlich Selbstverständliche klar geworden: Dass sich die neue Gesellschaftsformation, die Nikolaus als Neoliberalismus bezeichnet, in der BRD zuerst in der Finanzmetropole Frankfurt am Main gezeigt hat und sich dort auch früh in der Stadtentwicklungspolitik nachweisen lässt.
Die Finanzwirtschaft – Kapital, das sich von selbst vermehrt, ohne den Umweg über die menschliche Arbeit nehmen zu müssen – findet ihre Entsprechung in der Figur des Anton Saitz; im Traum narzisstischer Männlichkeit, autonom aus sich selbst heraus erzeugen zu können. Ein Missverständnis, von dem Donna Harrawy auch das Verhältnis von Mensch und Hund regelmäßig bedroht sieht. Um zum Ende zu kommen: Das Finanzkapital mag zwar ursprünglich eine dienende Funktion oder zumindest einen derivativen Charakter haben – aber gerade darum schert es sich nicht um uns. Es bedarf keiner Anerkennung durch ein Gegenüber, es ist völlig autonom. Seine Formen sind für uns durch und durch sinnlos. Das könnte eine einfache, vielleicht etwas krude Deutung dieser Ebene sein, die in Fassbinders Film mit Sicherheit mitläuft. Ein Verhältnis der signifikanten Andersartigkeit, “Aufmerksamkeit für die Andersartigkeit in Verbindung” – das scheint mir auch für architektonisches Arbeiten keine schlechte Maßgabe.
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Eine Situation in der die 'Tatsachen' eindeutig für oder gegen eine bestimmte Richtung des Handelns sprechen, hat es nie gegeben und kann es und wird es nie geben. Und je gewissenhafter die Tatsachen – in dieser ihrer Isoliertheit, d. h. in ihren Reflexionszusammenhängen – erforscht werden, desto weniger können sie eindeutig in eine bestimmte Richtung weisen.
Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Neuwied und Berlin 1969 [1922], S.197
Aus gegebenem Anlass... Lukács hielt sein ganzes intellektuelles Leben lang unbeirrt die Flagge der Dialektik hoch – also das Denken der Einheit von Identität und Differenz. Das liest sich heute sehr veraltet. Lukács befremdet irgendwie, er schien ja schon zu Lebzeiten aus der Zeit gefallen (siehe sein Verhältnis zur späteren Frankfurter Schule). Das liegt aber sicherlich – Dialektik – nicht nur an ihm sondern auch an uns. Gerade jetzt zeigt sich ja wieder, dass sich ohne Perspektive auf ein globales Ganzes kein vernünftiger Umgang mit dem Virus findet. Im Zweifel werden die Fakten im Sinne der Mächtigen ausgelegt; in manchen Ländern ist es die öffentliche Verwaltung, in anderen die Kapitalisten, in den meisten der Komplex aus beiden.
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Titel aus Ulrike Ottingers fantastischem Bildnis einer Trinkerin, BRD 1979
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Wir sind von der Kunst angezogen, weil wir in ihr wissen, daß es keinen Sieg gibt. Wir sind davon angezogen wegen ihres Potentials zur Mimesis, wegen ihrer Fähigkeit, sich dem zu nähern, was so ist, wie es ist. Es scheint, als könnten wir in ihr teilhaben an etwas, das wir ohnehin sind, das wir aber nicht denken können: Realität. Kunst ist daher im Grunde lakonisch, fast überflüssig und nutzlos. Sie sagt, was ohnehin so ist, wie es ist. Sie ist als eine Ästhetik dieser Ähnlichkeit unemphatisch.
Jochen Gerz: Drinnen vor der Tür. Reden an Studenten. Stuttgart 1999, S.75
Mit dieser Rede, gehalten 1996 vor Absolventen der Hamburger Kunsthochschule, beerdigt Jochen Gerz – gewissermaßen aus dem Stegreif und mit viel Charme – die Konzepte von Autonomie und Differenz. Stattdessen ruft er eine Ästhetik der Bescheidenheit, der Nähe und Empathie aus. Kunst bewegt sich für Gerz immer am Rand der Selbstauflösung. Das Residuum an Differenz, das auch in seiner Ästhetik der Ähnlichkeit angelegt ist, die eben keine Ästhetik der Identität ist, siedelt er im Künstlerindividuum an. Konstitutionell ist sie für die Tätigkeit des Kunst Machens, nicht für die Kunst selbst. Kunst ist für Gerz angesichts einer immer größer werdenden Welt notwendig klein und unbedeutend. Weltbekannte Künstler, so schreibt er, gibt es eben nur in der Provinz.
Globalisierung also. Der Begriff fällt zwar nicht, steht aber offenkundig im Hintergrund von Gerz’ Überlegungen. Und gerade deshalb finde ich seinen Text wirklich interessant. Ich habe nämlich das Gefühl, dass der Umgang mit Autonomie und Globalisierung und ihr Zusammenhang ein absolut entscheidendes Thema der Gegenwart ist. Autonomie dabei nicht nur verstanden als Autonomie der Kunst sondern als Autonomie des Individuums. In den Culture Wars der Gegenwart passiert es ja laufend, dass Künstler und Intellektuelle, die Autonomie hochhalten, auf die Seite der Reaktionäre abrutschen. Peter Handke ist nur das letzte Fall in einer langen Reihe. Mir scheint er gewissermaßen für eine ganze Generation zu stehen, die nach Emanzipation in der individuellen Biografie gesucht hat. Zu ihr gehört selbstverständlich auch Jochen Gerz, geboren 1940.
Das hat zwei Seiten und ich bin wirklich unsicher, wie ich dazu stehe. Solidarität, Kollektivität, Empathie sind notwendig für ein erfolgreiches politisches Projekt. Sie sind natürlich überhaupt kein Widerspruch zu Autonomie. Ich würde im Gegenteil sagen, dass sie sich im Grunde gegenseitig bedingen. Cancel Culture, Hysterie und blinde Political Correctness allerdings bedrohen Autonomie tatsächlich. Und was kann das Ziel jeder politischen Bewegung sein, wenn nicht die Emanzipation des Einzelnen – Autonomie? Vielleicht muss jetzt eine andere Generation – zu ihr gehören meine Freunde und ich – die Kollektivät erlernen, zu der Gerz’ Jahrgänge um 1968 gefunden hatten. Aber vergessen wir darüber die Freiheit des Einzelnen nicht! Hier könnte Gerz’ Rede interessant sein. Denn im Grunde skizziert er mit seiner Ästhetik der Ähnlichkeit und Nähe eine Kunst, die sich öffnet zu Welt und Wirklichkeit aber doch etwas durchscheinen lässt von der Autonomie des Künstlerindividuums, dem sie ihr Dasein verdankt. Ich denke, seine eigenen Arbeiten sind wunderbare Beispiel dafür!
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Ich kann die Kontroversen um den Film nachvollziehen aber die Bilder in Seom – The Isle sind Wahnsinn! Man beachte die Farben, das extreme Tele, die ausgebrannten Ecken… Ich frage mich aber schon: Warum haben Filmemacher eigentlich diesen Hang zum Archaisierenden, Mythisierenden, das immer zu so seltsam passiven, objekthaften Frauenfiguren führt? Ich bin wirklich kein Kenner aber mir würden da schon spontan eine ganze Menge Regisseure einfallen, auf die das zutrifft. Es scheint Teil einer Art Überwältigungsästhetik zu sein, die in gewisser Weise antimodern ist und irgendwie populistisch: Sie macht – bei allem Ekel oder Widerwille, den man dabei empfinden mag – das Zuschauen leicht. Sie enthält keine Herausforderung an das konsumierende Subjekt sondern liefert letztlich das erhoffte Spektakel.
Filmstills aus Kim Ki-dun: Seom – The Isle, Südkorea 2000
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Architekt*innen hinken intellektuell oft irgendwie hinterher. Wie könnten sie sonst heute noch so selbstverständlich von Identität, Ort und Kontext sprechen? Die Kulturwissenschaften haben solche Konzepte gründlich reflektiert und es stünde auch der Architektur nicht schlecht an, sich etwas aus den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zu lösen. Die Künstlerin und Theoretikerin Patricia Reed hat bei e-flux einen schönen Text über ihre Auffassung der globalisierten Welt als Big World veröffentlicht (https://www.e-flux.com/journal/101/273343/orientation-in-a-big-world-on-the-necessity-of-horizonless-perspectives/). Ihrer Auffassung nach leben wir keineswegs in McLuhans Global Village sondern in einer komplexen vernetzten vieldimensionalen Wirklichkeit.
Das ist erstmal poststrukturalistischer Konsens – interessant finde ich an Reeds Text aber, dass sie einen Schritt weitergeht. Man erkennt ihre systematische Herangehensweise ja schon an ihrem Diagramm: Reed stellt sich ganz ernsthaft die Frage, wie wir uns in einer solchen Welt bewegen können, wie wir navigieren können, wenn es keinen Fixpunkt gibt, wenn wir die die Immanenz einer Räumlichkeit ohne Horizont akzeptieren. Nach einer ersten Lektüre sind bei mir zwei Punkte hängen geblieben, die für die Architektur interessant sind: Erstens betont Reed, dass Navigation immer eine Intentionalität voraussetzt. Wir müssen uns von der Vorstellung von Neutralität verabschieden. Zweitens macht sie deutlich, dass Navigation in einer vieldimensionalen Wirklichkeit den ständigen Wechsel zwischen unterschiedlichen Ebenen voraussetzt. Die konkrete materielle Wirklichkeit ist nur in Verbindung mit vielfältigen Abstraktionen zu begreifen und beruht zudem auf letztlich willkürlichen Grenzziehungen. Jedes Individuum und natürlich auch jedes Gebäude ist letztlich dezentralisiert, weil es auf unterschiedlichen Ebenen zugleich exisitiert.
Entscheidend, um das Navigieren in einer vieldimensionalen Wirklichkeit zu ermöglichen, ist für Reed eine entsprechende Raumauffassung. Sie sieht noch immer die Linearperspektive der Renaissance als ausschlaggebend für unser Verständnis von Ort und Situiertheit. Ein globaler vieldimensionaler Raum kann auf diese Weise nicht gedacht werden. Nach Reeds Ansicht müssen wir dringend lernen, unterschiedliche Maßstäbe und ihre Verbindungen zu denken und wertzuschätzen. Auf diese Weise würden auch die Machtbeziehungen sichtbar, die in einer modernen instrumentell-linearen Perspektive auf den Planeten angelegt sind und unsere Wirklichkeit bis heute prägen. Translokalismus oder Transkontextualismus könnte ein Begriff sein für die Reflektion von architektonischen Kategorien wie Identität, Ort und Kontext.
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Beeindruckend ist die Schrecksekunde, wenn Klinke mich als Westjournalisten vorstellt; beeindruckend die Sekunde danach, in der innerlich die Schultern gezuckt werden und die Leute loslegen: Freundlich, wissend, offen, kalt, an Dinge gewöhnt, lächelnd, kein bißchen spektakulär. Das Naja der Leute hat ein ungeheures Selbstbewußstsein. Die Kraft des Alltags ist bloß die Kraft des Alltags; sie ist das Wichtigste.
Ronald M. Schernikau: Der Weg der Brötchen in den Sozialismus [1986], in: Jungle World 51/52 2018, S. 26
Es wäre ganz nachvollziehbar, würden die Arbeiter in Schernikaus Text auf den Besucher aus dem Westen skeptisch reagieren. Der schaut runter auf uns, der findet unseren Betrieb primitiv, der wird schlecht über uns schreiben – so etwas geht den Bäckereiangestellten sicher durch den Kopf. Trotzdem reagieren sie gelassen und verstellen sich nicht, um dem Journalisten zu imponieren. Stattdessen ein achselzuckendes Naja. In dem gelassenen Selbstbewusstsein der Leute liegt eine Würde, die etwas Entwaffnendes hat. Jeder Lobpreis der Freiheiten und Warenwelten des Westens, jedes Naserümpfen über die Rückständigkeit des Ostens scheint an diesem Naja abzuprallen.
In gewisser Weise kann man das stoische Selbstbewusstsein, das Schernikau beschreibt, auch heute noch in ehemals sowjetischen Ländern erleben, auch 30 Jahre nach Ende des Sozialismus. Die Situation ist natürlich heute eine andere: Es sind nicht die Berichterstattung und die gelegentlichen Besucher aus dem Westen, die das Bild einer freieren, bunteren, besseren Welt malen. Es sind die Nachgeborenen, die eigenen Kinder, der Staat, die Nachbarn, die in kürzester Zeit völlig überformten Innenstädte, die alles das, was einmal galt, für nichtig erklären. Mein Gefühl ist, dass viele derer, die im Sozialismus aufgewachsen sind – ich spreche hier übrigens nicht von Ostdeutschland, da liegt die Sache nach allem, was ich weiß, noch einmal anders – auf all das auch nur mit einem Naja reagieren. Sie machen so weiter wie immer, dafür haben sie niemals viel gebraucht. Die Ungleichzeitigkeit in solchen Ländern fasziniert mich und frappiert mich.
Ich glaube schon, dass das eine Eigenschaft ist, die im Spätkapitalismus selten ist: Diese Fähigkeit zum Achselzucken, zum Naja. Es kann ja dabei grundsätzlich um vermeintliche Errungenschaften oder um Bedrohungen gehen. Es fällt offensichtlich vielen schwer, der Verlockung durch – sagen wir mal – ein neues iPhone-Modell zu widerstehen oder durch unfassbar niedrige Preise bei manchen großen Modeketten. So viel zu den Errungenschaften. Gleichzeitig erscheinen vermeintliche Gefahren, wie die notorische Flüchtlingswelle 2015, als existenzielle Bedrohung, als Ende des Westens oder gleich als Ende der Zivilisation. Was diese irrationalen Vorstellungen für Blüten treiben, kann man sich wunderbar in den Alt-Right-Foren bei 4chan ansehen (allerdings nur empfehlenswert für Leute mit sehr, sehr guten Nerven). Mehr Gelassenheit wäre so wichtig! Warum nicht einfach ein Achselzucken – Naja, was soll’s, bisher ging’s immer weiter.
Ich glaube nicht, dass die Paranoia der Gegenwart und die stoische Gelassenheit im Sozialismus Zufall sind oder lediglich rückblickende Konstruktionen. Das Funktionieren der globalen Maschinerie, in der wir heute leben, ist auf zunehmende Mobilisierung angewiesen. Zugegeben, wahsinnig viel Wachstum entsteht derzeit durch reine Spekulation und trotzdem bleiben wir alle in ein System von Produktion und Konsumtion eingebunden. Ich habe irgendwann hier mal über Fracking geschrieben und dass diese Technologie ein gutes Bild für das beunruhigende Gefühl abgibt, die Wirklichkeit werde immer mehr durchsetzt von den Mechanismen der kapitalistischen Wertschöpfung – das meine ich.
Übrigens ist das stoische Naja sicher auch nicht die richtige Reaktion auf unsere Gegenwart. Statt Gelassenheit könnte man im Achselzucken der DDR-Arbeiter ja auch Resignation oder Gleichgültigkeit lesen. In jedem Fall lässt sich daraus keine Kraft für Veränderung ziehen. Vielleicht sehnt sich Schernikau nach einem System, das sich nicht legitimieren muss, das langsam ist und stetig und jene Sicherheit verspricht, die der Kapitalismus verweigert. Solche nostalgischen Gefühle kann man zumindest heute in Osteuropa schon haben. Vielleicht bedeuten sie letztlich nur, dass der Fühlende ein idyllenseliger Romantiker ist (ich finde es übrigens Blödsinn, Romantiker grundsätzlich für Reaktionäre zu halten). Wenn es einen Ausweg gibt, dann führt er in eine andere Richtung: Wenn ohnehin die Mobilisierung immer größer wird, dann könnten die Mobilisierten sich doch solidarisieren und gemeinsam mal ein wenig die Richtung ändern. Jemand sagte mal, da sei irgendwo eine Welt zu gewinnen...
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Seit fast 15 Jahren baut Keisuke Oka an seinem Projekt Arimaston in Tokyo, die allermeiste Zeit alleine. In Japan hat er es durch dieses Gebilde anscheinend zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Ich bin neulich ganz zufällig darauf gestoßen, kurz nachdem ich den schönen Film Shoplifters gesehen hatte – und plötzlich weiß ich wieder, was mich an Japan lange fasziniert hat.
Es ist sicher kein Zufall, dass gerade in einem Land, das wie kaum ein anderes von der heillosen Lebenswelt des Spätkapitalismus geprägt ist, viele Architekten nach so etwas wie Menschlichkeit und Natürlichkeit suchen. Die Zeichnungen von Kazuyo Sejima, Junya Ishigami oder Atelier Bow-Wow drücken das auf jeweils eigene Art aus. Ich würde Keisuke Oka ebenfalls in diese Reihe stellen. Er selbst erklärt, es gehe ihm darum, ein lebendiges Gebäude zu erschaffen (https://www.japantimes.co.jp/news/2018/10/01/national/creative-force-concrete-jungle-architects-tokyo-project-draws-love-improvisation/#.XCynGalCdE5). Das Verb “erschaffen” – das ich sonst im Bezug auf die technokratische Tätigkeit des Architekten eher unpassend finde – macht in diesem Zusammenhang Sinn. Das Arimaston nähert sich durch die Langsamkeit seines Wachstums und seine eigenwillige Form einer wirklichen Schöpfung an, allerdings in einem anderen Sinn als in der Renaissance-Vorstellung vom Architekt als Demiurg.
Menschlichkeit und Natürlichkeit sind alles andere als unproblematische Begriffe. Ihnen konnte der Essenzialismus bis heute nicht ausgetrieben werden und gerade für Architekten ist es gewissermaßen die Gretchenfragen, wie sie zu diesem Konzept stehen. Ich würde die genannten Japaner trotzdem nicht als Anti-Modernisten sehen. Bei Keisuke Oka geht es offensichtlich um die Suche nach einer bedeutsamen Architektur. Statt mit rhetorischen Mitteln sucht er diese Bedeutung durch Langsamkeit und Detailierung zu erreichen. Er sieht darin einen bewussten Gegensatz zum ganz und gar durchökonomisierten Bauen in Tokyo. Die Form der Architektur ensteht im Prozess des Bauens sebst, sie ist nicht spekulativ sondern sozusagen emergent. Womöglich verlöre das Arimaston seine Bedeutung, sollte es jemals fertig werden. Man könnte fragen, ob das gleiche für Projekte wie Gaudís Sagrada Família gilt. Und warum hat Miralles nach der Fertigstellung seiner Gebäude begonnen, sie wiederum in Zeichnungen aufzulösen? Der Essenzialismus ist in solchen Projekten höchstens als Horizont angelegt. Ihr Sinn liegt in ihrer Lebendigkeit im Sinne von Unabgeschlossenheit, in ihrer Offenheit also.
Vielleicht muss das Leben der Familie in Shoplifters aus ähnlichen Gründen scheitern. Der Film changiert bis zuletzte zwischen Realismus und Märchen. Es geht nicht darum, eine Alternative zu finden, es geht darum diese Alternative zu leben – so lange das eben möglich ist. Die Ladendiebe haben kein Programm und keine Agency. Sie tun eben das, was der Augenblick und die Umstände fordern. Auf genau die selbe Art geht Keisuke Ora bei seinem Arimaston vor. Eine Entscheidung folgt auf die nächste. Womöglich ist das menschlich aber es ist natürlich zum Scheitern verurteilt. Das richtige Leben im falschen bleibt ein Traum – das gilt für Shoplifters ebenso wie für das Arimaston und für Architekturen ähnlicher Ästhetik. Die entscheidenden Probeme werden so nicht einmal berührt, Antworten gibt es keine. Aber dass etwas mit dem Ganzen nicht stimmt, spürt man erst dann, wenn das Andere so schön ist und so prekär.
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Man soll niemals sagen, daß alles aus ist; es genügt ein klein wenig Glück, damit alles wieder beginne.
Emile Zola: Germinal, Stuttgart 1974 [1885], S.592
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Mais Parabéns, Fernando!
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The beauty, transfixed by the witch’s curse, losing her movement loses her beauty: sleeping beauty is a contradiction in terms.
John Holloway: Change the World Without Taking Power, New York 2002, p.73
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Flucht als Assessment Center. Ich weiß nicht, wie geschmackvoll ich die Kampagne von Social-Bee finde, die zur Zeit überall zu sehen ist. Das Münchner Start-Up will Geflüchtete an Firmen vermitteln und appelliert dazu an den Zynismus deutscher Unternehmer nach dem Motto: Der hat so viel mitgemacht – danach ist eure Ausbeutung nur noch ein Klacks. Auf seiner Website erklärt Social-Bee: “Durch den Weg der Arbeitnehmerüberlassung übernehmen wir als zwischengeschalteter Arbeitgeber sämtliche behördliche Fragestellungen und den Verwaltungsaufwand.“ (https://www.social-bee.eu/haeufige-fragen). Es handelt sich also um eine Zeitarbeitsfirma, die zugegebenermaßen nach ein bis eineinhalb Jahren “die Vermittlung der vorqualifizierten Talente in eine Ausbildung oder Festanstellung“ (ebd.) anstrebt.
Ich glaube ja, dass das gut gemeint ist. Im Zweifel für Social-Bee nehme ich einfach an, dass die beauftragte Agentur für die sozialdarwinistische Schlagseite der Kampagne verantwortlich ist. Ein Problem bleibt aber sicherlich jenes, das Marx unter dem Schlagwort “Surplusproletariat” beschrieben hat: Die Genügsamkeit und der Integrationswille der Geflüchteten lassen sich wunderbar ausspielen gegen andere prekär Beschäftigte und zwar schlicht, um Löhne und Arbeitsbedingungen weiter zu drücken. Das Angebot an Arbeitskräften in Deutschland, die bereit sind zu vielem gegen sehr geringe Bezahlung, ist seit Einführung der vollen Freizügigkeit innerhalb der EU 2011 ohnehin groß. Ist ja auch kein Wunder, wenn beispielsweise Bulgarien anlässlich seiner Ratspräsidentschaft den Mindestlohn auf 235€ monatlich erhöht(!).
Und eine letzte Sache noch: Warum sind eigentlich keine Frauen in der Kampagne zu sehen? Unter den Antragsstellern auf Asyl war 2016/17 immerhin mehr als ein Drittel weiblich (https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/flucht/218788/zahlen-zu-asyl-in-deutschland). Eine größere Sichtbarkeit dieser Gruppe wäre für alle Geflüchteten gut. Gerade wenn ich an die Sexmob-Hysterie denke, die Anfang 2016 in Deutschland herrschte. Wenn ich an manche Sachen denke, die ich damals von besorgten Bürgern gehört und gelesen habe, wird mir schlecht.
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Abfälle fotografiert von Chris Jordan in Antlanta und Seattle.
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In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. […] Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte.
Friedrich Engels, Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 2014 [1848], S.44f.
Fracking ist ein Sinnbild für unsere Gegenwart. Wir dachten, das Zeitalter der fossilen Energie sei vorbei. Jetzt zeigt sich: Mit entsprechendem Druck und jeder Menge Chemie lässt sich auch aus den letzten Kapillärchen noch Verwertbares pressen. Praktisch überall. Öl und Erdgas waren schon sehr lang nicht mehr so billig.
Ich glaube, dass die digitale Ökonomie auf eine ganz ähnliche Art funktioniert. Daten sind für Firmen wie Alphabet oder Facebook ja nicht deswegen interessant, weil man sie für personalisierte Werbung nutzen kann. Auch nicht hauptsächlich, weil sich mit ihrer Hilfe das Verhalten der Nutzer steuern lässt – auch wenn das ein plausibles und beängstigendes Szenario ist. Es geht darum, mithilfe von Datenanalyse die Wertschöpfung in allen möglichen Lebensbereichen zu optimieren. Vor allem Alphabet forscht fast schon konfus drauflos und kauft entsprechendes Wissen auf (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_mergers_and_acquisitions_by_Alphabet). Auch in der Stadtplanung ist der Konzern mit seinen sogenannten Sidewalk Labs aktiv (https://www.sidewalklabs.com/). Mobilität, Infrastruktur, Bautechnik, Nachhaltigkeit und Öffentlicher Raum werden auf der Website als mögliche Felder für Optimierungen genannt. Die Frage ist hier natürlich: Optimierungen in welchem und in wessen Sinne? Wir sollten ein waches Auge auf die Entwicklungen haben. Was beispielsweise Uber für die Mobilität vorgemacht hat, kommt gesellschaftlichem Fracking schon verdammt nahe: Individuelle Mobilität wird günstiger, schneller, praktischer – und die soziale Erosion ist gewaltig.
Was hat das jetzt mit Marx/Engels zu tun? Ich denke, dass die wirtschaftliche Entwicklung heute besonders deutlich vorführt, was der Absatz über das Missverhältnis von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften im Manifest der Kommunistischen Partei beschreibt. Es ist ja keine neue Beobachtung, dass die Krisenzyklen im Spätkapitalismus immer enger werden. Die wirtschaftliche Entwicklung des Westens scheint sich seit Mitte der 70er Jahre immer seltener aus den Mechanismen der Krisenbewältigung lösen zu können, die im Zitat beschrieben werden. Marx und Engels sahen den Umsturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung als unausweichlich, weil die Eigentumsverhältnisse nicht imstande seien, die gewaltige Produktivität der Industrie aufzunehmen. Mit der Freisetzung der Arbeitskraft der Proletarier hätte sich die Bourgeoisie demnach ihr eigenes Grab geschaufelt, “gleich dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor” (Ebd.).
Von Umsturz kann seither keine Rede sein. Dennoch – die Verhältnisse haben sich geändert: Heute rebelliert das globalisierte Finanzkapital gegen mangelnde Produktivkräfte. Ein rund Hundertfaches der realen Wirtschaftsleistung sucht an den Kapitalmärkten ständig nach Investments, die nicht nur Sicherheit sondern Rendite versprechen. Ich stelle mir das vor wie die Reise nach Jerusalem unter verschärften Bedingungen: hundert Partygäste, ein Stuhl. Entsprechend ausgeprägt sind Unsicherheiten und Fluktuation. Das Finanzkapital treibt die Realwirtschaft vor sich her.
Mein Gedanke war, dass es sich bei der digitalen Ökonomie um eine Mischform zwischen beiden handeln könnte. Ihre Produkte bleiben ja seltsam unsichtbar. Sie funktionieren eher wie die Algorithmen im Wertpapierhandel als wie klassische Dienstleistungen oder gar Industriegüter. Vielleicht sind sie das Fracfluid mit dessen Hilfe das Finanzkapital Risse im Gewebe unserer Wirklichkeit schafft, aus denen die neuen Produktivkräfte sprudeln. Ich bin sicher, dass auch das Gegenteil möglich ist: Mit Informationstechnologien kann die Menschheit vieles zum Besseren wenden und Träume verwirklichen, die lange unerreichbar schienen. Die entscheidende Frage ist, wer das Heft des Handelns in der Hand halten wird, wenn es darauf ankommt. Optimistisch bin ich nicht.
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