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Ein wenig nachträgliche Besinnung (Teil 2): Weihnachtsmann oder Christkind?
Bei uns zuhause, eine norddeutsche, protestantisch geprägte Familie, kam der Weihnachtsmann, mein Großvater übernahm laut polternd die Rolle. Meine protestantische, preußische Großmutter (die, die aber am Weihnachtsmorgen immer den päpstlichen Segen hören wollte) hielt wiederum irgendwie immer noch am Christkind fest. Meine Großmutter hätte sich vermutlich sehr gefreut, in Nürnberg über den Christkindlmarkt zu schlendern, und später die Überreste von Albrecht Speers architektonischen Großmachtswahnideen zu bewundern, sie verehrten den in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilen Architekten Hitlers bis zu ihrem Lebensende.
Irgendwie ist irgendwann das Christkind in den eher katholischen Gegenden als traditioneller Geschenkebote hängen geblieben, obwohl es einst mal vom protestantischen Luther auserwählt worden sein soll als Gabenbringer, um den heiligen Nikolaus aus den deutschen christlichen Traditionen zu verbannen.
Gabenbringer oder Gabenbringerin? Beim Christkind bin ich ja bis heute nicht so sicher, was es sein soll. Als Kind erinnerte mich das Christkind an Cupid, es war wie ein saisonaler verkleideter Cupid ohne Pfeil und Bogen - ich hatte zeitweilig einen Faible für die griechischen Sagen- und Götterwelten. War es nun ein blondgelockter Junge, der mädchenhafte Kleider trug, oder ein burschikoses Mädchen, das einen Jüngling mimte? Heute verwundert es mich ja manchmal, dass ausgerechnet strikt konservative christliche Familien dieses Genderverwirrspiel zur Weihnachtszeit betreiben. Und wieso eigentlich blond gelockt, warum nicht dunkelhaarig glatt? Und wenn das Christkind die Geschenke bringt, ist das nicht Kinderarbeit am Heilig Abend, an einem heiligen Festtag noch dazu? Mit der Fantasie. Traditionen und dem Glauben darf man halt verwirren, mit der Realität nicht, zumindest nicht ordentliche Menschen aus geordneten Verhältnissen.
Der Weihnachtsmann wiederum ist eine eher moderne popkulturelle Kunstfigur, gemischt aus verschiedenen weihnachtlichen und anderen Traditionen und Bräuchen. Manche meinen, er sei, so wie er ist, eine Erfindung eines bekannten amerikanischen Getränkeherstellers. Aber da gab es zuvor schon den heiligen Nikolaus, der bei uns als Nikolaus am 6. Dezember die Stiefel mit Leckerli und Kleinigkeiten zum Spielen füllt. Der wiederum soll etwas mit der Legende des Nikolaus von Myra zu tun haben, der auch in der orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt wird, und u.a. drei Jungfrauen mal die Mitgift geschenkt haben soll, damit ihr Vater sie standesgemäß verheiraten könne. In den Niederlanden kommt Sinterklaas mit einem Dampfboot aus Spanien an, wobei die eher von der katholischen Lehre geprägte Heiligenverehrung in den doch eher protestantisch geprägten Niederlanden nicht bei allen früh auf Begeisterung traf. Absurderweise wird Sinterklaas und sein Begleiter “Zwarte Piet” mittlerweile aber ausgerechnet von jenen in den Niederlanden vehement als nationales Brauchtum verteidigt, die sich ansonsten ja eher in der rebellischen Tradition niederländischer Identität und vielleicht auch der Geusen wähnen, und die die Europäische Union gerne mal als freiheitsberaubende Knechtschaft betrachten. Apropos Knecht, da gibt es auch den Knecht Ruprecht - das ist der mit der Rute. Ein anderer Wegbegleiter des Nikolaus, manchen vielleicht bekannt aus dem Gedicht von Theodor Storm. Ruprecht dürfte dem norddeutschen Gesinde eher bekannt sein, während im süddeutschen sich dann öfter der Krampus rumtreibt. Beide Material für winterlich-weihnachtliche Schauergeschichten zur Mahnung unartiger Kinder. Dann sind da ja auch noch Wichtel und Weihnachtselfen und Rentiere. Es gibt zudem noch Väterchen Frost und verschiedenen heidnische Gottheiten wie Odin und Baldur. Der Weihnachtsmann könnte also als eine durch und durch multikulturelle populäre Kunstfigur oder einfach weihnachtliche Pop-Ikone bezeichnet werden.
Auf jeden Fall ist es verwunderlich, dass eine Person, die völlig losgelöst einmal jährlich (mindestens) illegal nationale Grenzen überquert, jegliche Zollbestimmungen und Wirtschaftsabkommen weltweit ignoriert, in Häuser und Wohnung einbricht und Privateigentum und vor allem jegliche Privatssphäre missachtet (Datenschutz dürfte am Nordpol, oder wo er auch immer sein Lager hat ein Fremdwort sein) einen derartigen Kultstatus erreichen konnte. Mal ganz zu schweigen von den anzunehmenden schlechten Arbeitsbedingungen für seine Helfer (Saisonvertrag, Überstunden, Akkord- und Schichtarbeit) und Misshandlung von Tieren. Und so etwas machen wir zu einem väterlichen Freund mit Vorbildcharakter für Kinder?
Ach ja, es ist besser besinnungslos zu bleiben und rein gar nicht zu reflektieren in der Jahresendzeit und sich stattdessen in Brauchtum und Tradition blindlings zu verlieren, welche immer dann bevorzugt wird.
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Ein wenig nachträgliche Besinnung (Teil 1): Der Weihnachtsbaum / Christbaum
Nicht einmal über den Namen sind wir multikulturellen Deutschen uns so ganz einig: Weihnachtsbaum oder Christbaum. Wieso aber stellen wir überhaupt geschmückte Nadelbäume in unsere Wohnzimmer, auf Balkone, Terrassen oder schmücken einen in unserem Garten oder Vorgarten zu Weihnachten? Ich bin reichlich sicher, dass die wenigsten das beantworten können, es gehört halt einfach irgendwie dazu zur Weihnachtszeit. Während die einen den Weihnachtsbaum schon zum Beginn der Adventszeit aufstellen, war es bei uns (norddeutsche Familie) Brauch, den Baum erst am 24. Dezember morgens aufzustellen und zu schmücken. Zur Geschenkezeit nach dem Kaffee (oder Ostfriesentee bei uns), wurden die Kinder kurz ins Kinderzimmer geschickt, während Großvatern laut polternd die Geschenke aus dem Kellerversteck hochholte und unter dem geschmückten Baum drapierte. Der Weihnachtsmann schlich sich dann wieder von dannen und der Großvater erwartet uns mit breitem wohligen Lächeln und ohne Rauschebart in der guten Stuben zur Bescherung. Nach dem erwartungsfrohem Auspacken der Geschenke gab es dann traditionell Abendbrot mit Kartoffelsalat und Würstchen und/oder Schwarzbrot und Heringssalat.
Aber zurück zum Weihnachtsbaum. Wie entstand diese Tradition und wofür soll der Baum eigentlich stehen? Deutsche Leitkultur? Diese Idee könnte so manche europäische Nachbarn verschnupfen, für die der geschmückte Baum ja auch irgendwie zu ihren weihnachtlichen Gefühlen mittlerweile dazu gehört. Andererseits könnten manche katholischen deutschen Familien sich da sogar weniger wiederfinden, wenn ihnen die Krippe wichtiger ist als ein irgendwie geschmücktes Nadelbäumchen. Ist es eine Variante des Paradiesbaums oder doch eher kultureller Aneignung von heidnischen Bräuchen als Symbol für ewiges Leben? Haben Deutsche Auswanderer den Brauch in alle Welt importiert oder wurde die alte Popkultur (aka Tradition) einfach von anderen übernommen, weil es so hübsch wirkte? Wahrscheinlich ist, dass sich bis heute verschiedene Ursprünge und Traditionen zusammengefunden haben und den Weihnachtsbaum zu der weihnachtlichen Pop-Ikone machten, die er derzeit ist.
Auf dem Petersplatz in Rom wurde übrigens erstmalig 1982 ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Ich kann mich aber ehrlicherweise nicht an die Zeit davor erinnern, dabei gehörte die Weihnachtsbotschaft und der Segen “Urbi et Orbi” am späten Weihnachtsmorgen lange zu unserem familiären TV-Programm - meine Großmutter, obwohl protestantisch, bestand darauf.
Wenn ich von multikulturellen Deutschen rede, spreche ich übrigens nicht davon, dass wir seit Jahrzehnten Menschen aus aller Welt zu uns zum Arbeiten holen und mehr schlecht als recht integrieren, sondern Deutschland selbst ist schon im Ursprung ein Gebilde aus unterschiedlichen regionalen Kulturen und Identitäten. Nur wer geschichtsvergessen ist und keinen Respekt für die Vielfalt der Traditionen und Kulturen der deutschen Lande hat, kann ein Problem mit der Idee eines vielfältigen, multikulturellen und sich stetig verändernden und offenen Deutschlands haben. Den Weihnachtsbaum zu einer “Leitkultur” zu verklären ist für mich Ausdruck einer dieser Vielfalt gegenüber respektlosen, kleinbürgerlich verengten Idee von Monokultur.
Aber egal ob unter dem Weihnachtsbaum, dem Christbaum oder keinem von beidem, in gemütlicher Familienrunde oder kuschelig auf der Couch, Hauptsache es sind friedfertige Tage, zumindest dort wo wir sie noch haben können. Anderen kann ich nur wünschen, dass sie trotz allem wenigstens einen friedlichen Moment der Ruhe finden können.
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Aus-Ruhen
Am Dienstagnachmittag im Leipziger Zoo saß ich eine Weile im Pongoland und schaute in Ruhe der großen Schimpansengruppe zu. Sie hatten gerade Snacks erhalten und nach etwas Aufregung waren sie wieder zur Ruhe gekommen. Einige waren noch dabei, die Reste der Snacks zu genießen, andere hatten es sich wieder bequem gemacht und ruhten, und die Jungtiere waren mit kleinen Spielereien weitestgehend mit sich selbst beschäftigt. Ich genoss es einfach, die vielen kleinen sozialen Interaktionen zu beobachten und hatte meine Kamera zur Seite gelegt. Da kam eine menschliche Mutter vorbei, ihr Kind auf dem Arm. Sie schaute unruhig über das Gehege und sagte dann zu ihrem Kind: “Da passiert ja nichts, die schlafen alle, die liegen nur faul rum.” Das Kind war noch neugierig am Schauen, aber die Mutter entschied, es sei sofort Zeit, weiterzugehen. Spontan dachte ich: “Gee, wer Actionkino habe will, sollte woanders hingehen”. Und dann fragte ich mich: Was bringen wir eigentlich unseren Kindern bei, wenn wir Ruhen und Schlafen gleichsetzen mit “faul rumliegen”?
Wie es der Zufall wollte, war in meiner E-Mail-Box nun dieser interessante Newsletter “Rest is Resistance”. Leseempfehlung. Und wer es nicht mag, die Reflektion über Ruhe mit Critical Race Theory und Afrofuturismus zu verbinden, kann ja einfach mal wieder Heinrich Bölls “Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral” lesen. Es gibt beim Hanser Verlag dazu übrigens auch eine nette Bilderbuch-Version: “Der kluge Fischer” (gezeichnet von Émile Bravo)
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Netiquette
Leseempfehlung - nicht nur für Neulinge im Netz:
"Netiquette" von Virginia Shea, 1994.
Verhalten im Internet, in Social Media (damals hieß das eher Cyberspace) ist nicht erst seit ein paar Monaten Thema, es wurde immer diskutiert. Es gibt quasi schon einen Kodex, auch wenn es sich sicherlich lohnt, zu schauen, ob das eine oder andere nach 20 Jahren (!!!) angepasst werden müsste, um der Entwicklung des Internets zu einem Massenmedium gerechter werden zu können.
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Facebook-Newsfeed: Beliebtes von gestern
Ach, Facebook und die Algorithmen. Heute Morgen waren von den ersten 30 Beiträgen in meinem Newsfeed (sic!) mehr als die Hälfte von gestern, darunter die Wetterkarte von gestern Morgen, jedenfalls in der mobilen Facebook-App*.
Gut heute daran erinnert zu werden, dass wir gestern einen warmen Frühlingstag zu erwarten hatten. Hey, ich bin gerne ab und zu mal ein bisschen sentimental, bevorzugt allerdings am Abend bei einem Glas Wein oder einem gepflegten Bier, aber bestimmt nicht morgens zum Frühstück. Da bin ich auch noch überhaupt nicht interessiert an Star- und Sternchengerüchten, niedlichen Haustiervideos oder albernen Personality-Tests. Ja, ich bin so gräulich nüchtern oder altmodisch, jedenfalls unter der Woche, an Arbeitstagen. Nein, ich erwarte nicht, dass Facebook Tageszeitung und Radio-/Fernsehnachrichten ersetzt, ich bevorzuge Twitter als Nachrichtenticker und einen guten RSS Reader als Sammelplatz meiner verschiedenen Nachrichtenquellen. Aber Facebook möchte gerne DAS Informationsportal in allen Bereichen, DAS Sprungbrett für uns ins Internet sein, oder nicht? Da müssen sie sich aber noch anstrengen und um einiges smarter werden. Wenn der Feed-Algorithmus für jemanden wie mich wirklich hilfreich sein soll (und mir dann dezent angepasst Werbung unterjubeln kann) muss er noch einiges lernen, z.B. dass zu verschiedenen Zeiten verschiedene Informationen unterschiedlich interessieren könnten. Und das Nachrichten von gestern eben Nachrichten von gestern sind, selbst wenn meine Freunde auf Facebook die irgendwie beliebt erscheinen lassen. Ansonsten verlasse ich mich eben doch lieber auf andere Wege, um mir einen Nachrichtenüberblick für den jeweiligen Moment zu verschaffen.
* Erklärung: Während im Browser bei mir der Newsfeed darauf eingestellt ist, "Neueste Meldungen" anzuzeigen, also eher einem Realtime Feed nahe kommt, ertrage ich in der App die Beschränkung auf "Hauptmeldungen". Das nutze ich aus Neugier, um zu sehen, was der Facebook-Algorithmus so meint, was die beliebtesten Meldungen von Freunden, Seiten und Gruppen seien.
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Facebook Emotionen
Kleine Hoffnung: Vielleicht wird die Möglichkeit, jetzt statt Like auch z.B. Ärger/Wut mit einem Klick kundtun zu können, mehr Leute dazu bringen, ihre dummen, überflüssigen wutentbrannten oder gar hasserfüllten Kommentare doch einmal nicht schnaufend rauszuposaunen. Schnell einmal Wut-Knopf gedrückt, weiter zum nächsten tollen Ärgerniss. Okay, das ist nur eine sehr kleine Hoffnung...
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Nicht nur die Gene - mein Kommentar
In Kurz: (╯ಠ‿ಠ)╯︵┻━┻
Längere Version:
1. Lange Schlafen mögen und Morgenmuffel sind nicht ein und dasselbe. Es ist egal, zu welcher Tageszeit ich aufstehe, ob vom Wecker aufgeschreckt oder nicht, ich gehöre zu jenen, die dann nicht gleich offen dafür sind, freudigst vom Geplapper anderer Menschen angesprungen zu werden und schon gar nicht freudig selbst in sinnfreies Geschnatter verfallen. Das ist auch nicht damit zu verwechseln, dass manche nicht in voller Energie sofort aus dem Bett springen können, weil ihr Körper einfach etwas Anlauf benötigt, um in Schwung zu kommen. Mein Körper hat weniger das Problem gleich anzuspringen, meine Seele oder mein Verstand auf gewisse Art dagegen schon.
Ich bin ein klassischer Morgenmuffel, mürrisch, wenn ich nicht in Ruhe gelassen werde. Das bin ich um 6 Uhr morgens ebenso wie um 10 Uhr morgens. Allenfalls ist es bei mir wahrscheinlicher, dass ich um 10 Uhr auch genug Schlaf bekommen habe, und deshalb dann nicht mehr gleich die Zähne fletsche und zubeiße, sondern nur höflich aber bestimmt knurre und jede Plaudertasche dann ignoriere, wenn es sein muss demonstrativ mit Kopfhörer aufsetzen. Hat vermutlich mit meinem eher introvertierten Wesen zu tun: Ich bevorzuge es ganz besonders zu Beginn des Tages erst einmal meiner eigenen, inneren Welt überlassen zu sein, die ist turbulent und prall angefüllt. Die Ideen und Gedanken, die ich in diesen ruhigen Morgenmomenten habe, sind es öfter wert, mich in Ruhe zu lassen, da ist schon der eine oder andere auch für andere nützliche Gedankenstrang dabei herausgekommen.
2. Immer wieder lächerlich, wie wir glauben, mit dem Argument "Natürlichkeit", hier Genetik, einer Wertung oder Wertediskussion aus dem Wege gehen zu können. Das in Zeiten von Gentechnik. Ich kann verstehen, dass es wie ein Schutzschild von manchen missverstanden wird, voller Hoffnung, dass endlich die anderen, die Gesellschaft damit aufhören würden, sie als Menschen, ihren Wert und ihre Existenzberechtigung infrage zu stellen. Aber das ist eine, in meinen Augen sogar gefährliche, Illusion. Für eine Weile mag das funktionieren, aber wird nicht davon abhalten, manches Sein gegebenenfalls als zwar natürlich, aber dennoch krankhaft oder unerwünscht zu befinden, und im besten Fall (?) als etwas zu werten, das mit allen Mitteln geheilt werden müsste. Man muss nur die richtigen Genschalter finden, und dann können wir z.B. den "Defekt" "Spätaufstehen" verhindern oder gar aufheben, die Individuen oder zumindest die Menschheit vor dieser unerwünschten Variante schützen und heilen. Zu erklären, etwas sei Natur, hat Menschen noch nie davon abgehalten, es dennoch als Krankheit oder gar Bedrohung anzusehen und aus der Welt schaffen zu wollen.
3. Es ist rein rechnerisch völlig belanglos, ob ich den Arbeitstag um 6 Uhr, um 8 Uhr, oder erst um 11 Uhr beginne - wenn ich dann 8 Stunden arbeite, arbeite ich 8 Stunden. Der Arbeitstag ist nicht länger oder kürzer. Inwieweit unterschiedliche Tageszeiten die Produktivität beeinflussen ist eine andere Frage, die auf gesellschaftlicher Ebene andere Kriterien umfasst als auf individueller. Je flexibler allerdings die technischen Produktionsgegebenheiten sind (Unabhängigkeit von Lichtverhältnissen, gleichmäßige Stromversorgung, gleichmäßige Anlieferung, keine Stoßzeiten von Kunden, keine saisonalen Abhängigkeiten usw.) desto individueller könnte Arbeitszeit gestaltet werden. Zuerst hat die Mechanisierung und Maschinisierung eine Uniformierung des Menschen zur Integration in die Arbeitsabläufe der maschinellen Prozesse erfordert (Industrielle Revolution, Fordismus, Taylorismus). Jetzt könnten wir vielleicht eine andere Entwicklung erleben, zumindest in einigen Bereichen: Weitere Technisierung, die Digitalisierung, könnte eben jene Uniformierung wieder auflösen, weil mechanische Uniformität jetzt der Produktivität sogar abträglich sein mag. Bisherige Arbeitsethik wird infrage gestellt.
4. Es spricht für sich, dass von "Langschläfern" die Rede ist, was unterstellt, dass Menschen, die später am Tage aufstehen, mehr, länger schlafen, also faul sind. Sind sie nicht. Wobei "Spätaufsteher" auch nicht schmeichelnd wäre bei unserer derzeitigen Arbeitsethik, denn wer zu spät kommt... Es ist überhaupt nicht verwunderlich, wenn Frühaufsteher als gesünder, klüger und glücklicher gelten. Es wäre nicht einmal verwunderlich, wenn sogar die eine oder andere wissenschaftlich oberflächliche Studie dafür Belege erbringen könnte. Unsere Gesellschaft bewertet Frühaufstehen als positiv, produktiv, gutes Verhalten, wertvoll, lobenswert - selbstredend werden Menschen, die diesem Ideal entsprechen, sich entsprechend positiv, produktiv, gut fühlen und von anderen darin auch unterstützt werden. Daher gibt es auch genügend wohlmeinende Ratschläge, wie man sich zu einem Frühaufsteher machen kann. Nicht alle haben die Wahl, ob sie das eine oder andere sind oder sein dürfen. Verfügung über die eigene Zeit, Freiheit der eigenen Zeitgestaltung ist immer noch vielfach ein Privileg.
5. Keine Frage, medizinisch ist es überfällig, mehr Fragen der Einflüsse von Zeit, Zeitpunkten und zeitlichen Rhythmen nachzugehen und auf individuelle Unterschiede dabei einzugehen. Ein und dasselbe Medikament in derselben Dosierung unterschiedlichen Menschen zu unterschiedlichen Zeiten verabreicht könnte unterschiedliche Wirkungen haben, für den einen mag es effektiver sein gleich nach dem Aufstehen, für andere eine Stunde später - auf solche Feineinstellung wird noch zu wenig eingegangen. Aus der richtigen Zeit fallen, aus dem Rhythmus fallen, mag eine Rolle spielen bei einigen Krankheiten, und dann können unterschiedliche Chronotypen Einfluss haben. Da gibt es viel zu erforschen.
Wer die Frage, "Eule" oder "Lerche", nachtaktiv, Spätaufsteher oder morgenaktiv, Frühaufsteher aber nur als individuelle und genetische, natürliche Frage sieht, hat einen beschränkten Blick, dem entswichtiges cheidendes entgeht.
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Mehr Bedenken
Wäre es nicht an der Zeit, etwas weniger zu fühlen, weniger rasch zu lieben und zu empören, und stattdessen unser Denken zu fordern?
So kompliziert Gefühle sind, so einfach machen wir es uns mit ihnen. Die großen Kinderkulleraugen auf dem Bild rühren, die geschwollen Lippen und blutigen Striemen im Gesicht empören, der tanzende Hund erregt ein Lächeln. Medien spielen immer mit Erregung, mit Gefühlen, Social Media sind keine Ausnahme. Es wäre doch so wichtig, den kleinen extra Schritt zu machen, Distanz zu finden und aus den eigenen und den Gefühlen anderer herauszutreten, das Geschehen mit Abstand zu bedenken, noch bevor wir auch nur die Stimme erheben, geschweigen denn zu Taten schreiten. Hass ist die Kehrseite der Liebe.
Mehr Zeit zum Bedenken statt sich von Gefühlen hinreißen zu lassen.
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Klarnamenzwang schützt Opfer nicht
Bullies und Stalker wollen bemerkt werden, sie wollen sichtbar sein. In einer Gesellschaft, in der Geschichten, wie sie in 50 Shades of Grey erzählt wird, von vielen als romantische Erotik und "ist doch nur Fiktion und Unterhaltung" verharmlost werden, in der Daterape immer noch als Kavalierdelikt verniedlicht wird, in der das Opfer mitschuldig erklärt wird, weil sie/er hätte sich ja anderes verhalten können, in der müssen sich Täter wenig um Anonymität kümmern. Mit Klarnamenzwang in sozialen Netzwerken werden viele Opfer von Gewalt und Schikane in die Isolation gezwungen, während ihre Täter sich munter austauschen können.
Zu sagen, dann geht doch woanders hin oder hört auf soziale Netzwerke zu nutzen ist keine Lösung!
Facebook ist ein Netzwerk mit großer Reichweite und eine Selbstverständlichkeit geworden. Sich auf Facebook zu bewegen und zu vernetzen tun (fast) alle. Sicher, es gibt andere Netzwerke, auch spezielle Netzwerke, aber es ist enorm wichtig eben genau aus diesen Nischen herauskommen zu können.
Sicher, eine kommerzielle Plattform wie FB, die sich zunehmend weniger als Netzwerk denn als Marktplatz versteht und gestaltet, ist es für den Betreiber wichtig, eine Seriösität anzustreben, die in Geschäften nutzbar ist - aber nicht alle wollen FB als Marktplatz und Einkaufshop nutzen. Es sollte aber dennoch möglich sein, hier verschiedene Identifizierungslevels anzubieten. Wer will, wer Geschäfte hier machen will, sollte sich mit Klarnamen identifizieren und sein/ihr Profil betreiben können. Wer sich aber vor allem einfach mit Freunden, Familie und anderen vernetzen will ohne eventuell Schikanen und Gewalt ausgeliefert zu werden, oder einfach auch sich nicht mit seinem/ihrem aktuellen Namen auf offiziellen Dokumenten identifiziert, sollte dazu ebenso noch die Möglichkeit hier haben können.
Diversity bedeutet eben Lösungen zu finden, die unterschiedlichen Ansprüchen und Notwendigkeiten gerecht werden können.
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