Don't wanna be here? Send us removal request.
Text
An meinen Psychiater
Sie sind die erste Person, die mir das Gefühl gab, verstanden zu werden. Nein, nicht nur das Gefühl. Sie haben mich verstanden. Mehr als ich selbst sogar.
Als ich zu Ihnen kam, war ich gebrochen. Ich konnte nichts mehr machen, außer zu weinen, mich selbst zu hassen und mein ganzes Leben schien an mir vorbeizufliegen. Ich konnte einfach nicht mehr so weitermachen. Deswegen habe ich auch zwei Wochen zuvor bei der Notrufhotline angerufen. Wieder angerufen. Beim ersten Mal habe ich all meine Gefühle nicht ernst genug genommen, um mir tatsächlich Hilfe zu suchen. Diesmal sollte es anders werden. Ich konnte nicht mehr. Es machte nichts mehr Sinn. Ich war dieses kluge, hoch-intelligente Kind, diejenige, die als Klassenbeste - sogar Jahresbeste ihren Abschluss machte. Einser nach Einser einbrachte. Doch niemand wusste, wie schwer all das war. Wie viele schlaflose Nächte ich damit verbrachte zu weinen, mich selbst zu hassen und Unmengen an Kaffee, Coca Cola und Wasser zu trinken, um mich zu konzentrieren. Niemand wusste, dass ich mein Gehirn nicht dazu bringen konnte zu denken. Zu funktionieren. Dass ich nie zuhörte. Keine Ahnung hatte, worüber unsere Professoren gerade redeten. Ich redete zur selben Zeit über alles und nichts. War in meinen Gedanken versunken. Lenkte andere ab. War eine Versagerin. In meinen Augen. In den Augen anderer tat ich nur so. Ich spielte vor, dumm zu sein, nicht aufzupassen, Angst zu haben, eine Prüfung nicht zu bestehen. Nein, sogar sie eifersüchtig machen zu wollen. Ich wollte das nie. Ich hatte Angst. Angst zu versagen, mehr als alle von ihnen zusammen. Ich weinte Tag und Nacht. Konnte nachts kein Auge zudrücken. Habe unn��tig viel Zeit damit verschwendet, Videos, Serien und Filme zu schauen, die ich nicht einmal mochte. Alles war langweilig. Ich spulte so lange vor bis ich am Ende nur 2 Minuten eines 10 minütigen Videos gesehen hatte. Ich war immer nur müde. Müde von meinem Leben, von all den unerledigten Aufgaben, all der “Ablenkung”, mir selber...
Ich wollte einfach nicht mehr. Als mein Freund mich verlassen hatte, um alleine mit seinen Freunden wegzufahren, riss der letzte Strang. Ich war verloren. Konnte nicht mehr. Für niemanden war ich gut genug. Immer musste ich nur vorspielen, dass alles okay war. Damals, in der Schule, vor meinen Freunden und meiner Familie und jetzt bei der Arbeit, an der Uni, vor meinen Freunden, meiner Familie und meinem Freund. Letzteres ging irgendwann nicht mehr. Ich war zu gebrochen. Er zu nah. Alles kam heraus und er sah es. Es wurde ihm zu viel. Was er tat wurde mir zu viel. Es war toxisch. Viel zu toxisch. Wir machten trotzdem weiter. Ich übernahm alle Aufgaben, bis ich noch mehr brach. Bis ich zusammenbrach. Nun war ich auch noch alleine.
Ich war verloren.
Es tat einfach nur weh. So wie immer. Dann tat es nicht mehr weh. So wie immer. Ich war es gewohnt, mich so zu fühlen.
Bei unserem ersten Treffen und Gespräch ließen Sie mich 2 Stunden lang nur reden. Ich redete über alles und nichts. Es machte Sinn, aber dann wieder auch nicht. So wie immer. Aber Sie ließen mich reden. Obwohl ich sehr viel für diesen Besuch bezahlte, bedeutete das nicht, dass alles so gut laufen würde. Immerhin sind nicht alle Ärzte so. Sie hörten aber zu. Hörten sogar wirklich zu. Wenn etwas keinen Sinn machte, fragten Sie nach. Versuchten aber nicht, mir das Gefühl zu geben, dass ich verrückt oder gar dumm bin. Es war eine ernstgemeinte Frage. Eine neutrale Frage. Ohne mich zu verurteilen. Ich fühlte mich verstanden. Egal wie unangenehm ein Thema war, ich konnte offen darüber reden. Sie sagten mir, dass ich mich nicht schlecht deswegen fühlen muss, dass ich keinen Grund dazu hätte, mich zu entschuldigen und, dass es okay ist. Endlich war, was ich sagte und dachte “okay”. Das bedeutete mir mehr als man sich vorstellen mag. Irgendwann wusste ich nicht mehr worüber ich reden sollte, also hörte ich auf. Sie fragten mich einige Dinge, die Ihnen unklar waren. Ich antwortete. Wir gingen zum nächsten Teil über. Ihre Analyse.
Was Sie dann sagten verstand ich anfangs, es machte immerhin Sinn, doch, sobald Sie ADHS erwähnten. Als Sie meinten, ich hätte ADHS, dachte ich zuerst, es sei ein Witz, um mich aufzumuntern. Das war es jedoch nicht. Sie meinten es ernst. An dem Tag erfuhr ich, dass ich ADHS habe und, dass mein Leben nicht nur ein riesen Durcheinander ist, das davon kommt, dass ich verrückt bin und nicht weiß, was ich mache. Es gab einen Grund. Zwar waren viele Dinge einfach nur meine Schuld bzw. sind passiert und haben dazu geführt, dass es mir irgendwann einfach so verdammt scheiße ging, dass ich nicht mehr konnte. Dass ich eine verdammte Versagerin wurde. Dass ich tiefer als je zuvor fiel - hart fiel.
Also nahm ich ein Medikament ein, dass mir helfen sollte. Die Depression ging langsam weg. Das ADHS blieb. Wichtig war es aber nicht. Es ging mir gut und ich genoss meinen Urlaub, meine Beziehung war besser denn je. Ich war glücklich. Dann kam ich zurück. Alles kam wieder zurück. Ich musste funktionieren - und genau das tat ich nicht. Ich arbeitete, leichter fiel es mir jedoch nicht. Der Semesterstart rückte näher und ich merkte, wie ich mit jedem Tag immer mehr Angst hatte und einfach nur weg wollte. Alles fühlte sich einfach nur unglaublich kompliziert und schwer an. So wie immer. So wie all die Jahre davor.
Nächster Termin mit Ihnen. Sie redeten von einem neuen Medikament. Keine Ahnung, was sie sagten. Ich hörte zwar, dass Sie redeten. Nicht aber, was Sie sagten. All diese Wörter machten keinen Sinn. Ich fragte nach. Keine Ahnung. Also nickte ich. Fragte allgemeine Fragen, damit ich nicht nur dasaß und nichts sagte. Nach dem Termin sah ich auf das Rezept. Ritalin. Ah, das war das Medikament. Schon mal gehört. Wird schon helfen. Also nahm ich es am nächsten Tag ein, um es auszuprobieren. Nach einen halben Stunde saß ich vor dem Computer und lernte zum ersten Mal in meinem Leben. Wow. So konnte sich das also anfühlen. Es machte alles endlich Sinn.
Am nächsten Tag spürte ich dann aber keine Wirkung mehr. Toll. Dritter Tag. Wieder nichts. Ich rief Sie an. Meine Dosis wurde verdoppelt. Die ersten zwei Tage ging es. Dann fühlte ich nichts mehr. Wieder wurde die Dosis verdoppelt. Nach nur kurzer Zeit war das “legale Kokain”, wie mein Freund es nannte, nichts besonderes mehr. Ich dachte, dass Sie mir absichtlich ein Placebo Produkt verschrieben haben, um zu sehen, ob ich nur so tue, als würde eine normale Dosis nicht funktionieren. Sie erhöhten meine Dosis wieder. Diesmal kam ein länger wirkendes dazu. Das funktionierte richtig gut. Zwei Wochen lang. Dann nicht mehr. In der Zwischenzeit schrieb ich eine Prüfung und bekam eine gute Note. Wenigstens etwas gutes. Die nächste Prüfung schaffte ich “natürlich” nicht. Die dritte keine Ahnung, ich habe nicht gelernt. Die nächste habe ich abgesagt. Die danach ... ich weiß nicht, ob ich sie auch absagen soll. Heute ist der letzte Tag, an dem ich das noch kann.
Ich nehme schon mehr als die normale Dosis ein und keine Ahnung, was ich denken soll. Funktioniert es? Das hat es nicht. Mein Herz raste aber. Ich machte eine Pause. Konnte aber nicht aus dem Bett kommen, überhörte alle meine Wecker. Sie riefen an und ich hörte mein Telefon nicht. Toll. Es war Freitag. Ich musste warten bis Sie wieder anriefen. Ich kam wieder nicht aus dem Bett. Drei Mal musste ich meinen Wecker, der auf der lautesten Stufe war snoozen, bis ich mich aus dem quälte. Ich nahm meine Morgendosis ein. Nach einer halben Stunde fühlte ich mich halbwach. Wenigstens etwas. Dann ging ich an meinen Computer, ich hatte so viel zu tun. Ich konnte es aber noch immer nicht. Nichts brachte ich zusammen.
Ich weinte alleine im Badezimmer. Eine Stunde lang. Mein Freund schlief immerhin. Er war da für mich am Abend zuvor, als ich am Fester stand und einfach nur weinte. Mein Leben machte keinen Sinn. Er war da für mich und brachte mich zum Lachen. Ich brauchte das wirklich. Ich schlief also ein und ... ja ... ich schweife ab. Zurück zu Heute. Ich sitze jetzt hier und spüre die Wirkung endlich. Will ich etwas machen. Ich weiß es nicht. Ich werde es aber machen. Nur spürte ich jetzt die Wirkung 5 Minuten lang. Mein Kopf fängt an wehzutun. Die Wirkung schwindet wieder. Toll. Was soll ich jetzt machen? Die ganze Dosis einnehmen und Herzprobleme bekommen, nur um am Ende zu merken, dass die Wirkung dieselbe ist? Oder nach nur einem Tag verschwindet?
....
6 notes
·
View notes