#stützräderab
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Wie ich auf einem dynamisch geformten Stein einen Gletscher runtergeschlittert bin. Nicht.
Es ist der 15. August 2018. Eine für die Christen wichtige Person, ist an diesem Tag gestorben, geboren, wurde verprügelt, gekreuzigt, ist wieder auferstanden oder gerade erst zu Himmel gefahren. Als ich selbst noch Katholik war, habe ich mich an solchen Feiertagen immer besonders christlich gefühlt. Seit ich ausgetreten bin, fehlt mir dieses Gefühl und ich kompensiere das damit, dass ich jetzt in die Berge fahre, anstatt wie früher den ganzen Tag in der Kirche zu beten. Vorräte für drei Tage habe ich besorgt und meinen Trekkingrucksack gepackt. Die Abenteuerlust ist gross, draussen übernachten will ich, mit Schlangen kämpfen, Insekten essen, über Pässe laufen, Pferde zähmen, Flüsse durchwaten und die Amöbenruhr niederringen. Voller Elan breche ich also auf zum Luzerner Bahnhof. Auf dem Weg begegne ich einem tanzenden Penner und frage mich kurz, ob er wohl jeden Tag bzw. jeden Morgen hier tanzt und ich das noch nie mitgekriegt habe, weil ich normalerweise um die Zeit entweder arbeite, oder noch im Bett bin. Ein Mädchen auf dem Fahrrad holt mich in die Realität zurück. Kurz bin ich versucht meinen Wanderplan aufzugeben und stattdessen mit ihr mit zu gehen. Laufe dann doch an den Bahnhof. Die folgenden Passagen geben wieder, was im Verlauf des Tages passierte:
08:25: Gedankenverloren komme ich am Bahnhof an und treffe Elia.
08:50: Treffen mit Markus in Stans, Autofahrt nach Engelberg.
09:30: Ankunft in Engelberg, Seilbahnfahrt aufs Brunni.
09:50: Abmarsch Richtung Rugghubelhütte. Mein Schlafmanko macht sich bemerkbar und ich bin gar nicht so fest in Wanderlaune. Der Rucksack ist verdammt schwer.
12:00: Ankunft Rugghubelhütte. Endlich Wasser trinken. Mir ist immer noch schlecht von dem abgelaufenen Zeug, dass ich gestern aus Anti-Foodwaste-Überlegungen getrunken habe (1 Monat lang abgestandener Schwarztee und vergorener Holunderblütensirup). Essen. Wetter ist mässig. Krähen ziehen Kreise über uns. Naturwunder.
13:00: Rückmarsch zur Seilbahn. Rucksack kommt mir vor wie ein schwerer Stein, den mir jemand extra unbequem mit einem Strick auf den Rücken gebunden hat.
14:30: Rückfahrt nach Engelberg.
15:00: Elia und Markus laden mich bei der Fürenalp-Seilbahn aus. Marschiere von dort los Richtung Surenenpass und möchte unterwegs biwakieren. Sehe mich mit einem Schaf als Kopfkissen an einem Lagerfeuer die Sterne begutachten. Abenteuer, yes!
17:00: Keine Stelle zum Biwakieren gefunden, die meinen Erwartungen entspricht. Finde die Idee zu biwakieren auch gar nicht mehr so toll. Leerstehende Alphütten hat es keine. Ein Hügel mit Tannen obendrauf sieht vielversprechend aus. Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen ebenen, mit weichen, trockenen Tannennadeln ausgelegten Waldboden. Die Aussicht ist überwältigend und es hätte auch eine windgeschützte Senke zum drin schlafen. Überlege kurz, bei der Alphütte in der Nähe Holz zu klauen fürs Lagerfeuer. Sehe dann vor meinem geistigen Auge zahllose trockene Äste rumliegen. Der Platz ist bulletproof, klettere hoch.
17:05: Steiler Aufstieg. Unwegsam. Ankunft oben. Keine senkrechte Fläche zum schlafen. Keine Tannennadeln. Keine Tannen. Kein Feuerholz. Wind. Egal. Biwakiere jetzt. Falle erschöpft hin.
17:20: Komme zu mir. Sonne brennt. Fliegen überall. Bis es Nacht wird noch 4 Stunden. Danke T. Coraghessan Boyle, der mir mit seinem Afrika-Buch diese Abenteuerflausen ins Hirn gerieselt hat. Und natürlich all den Dokumentarfilmen die in mir Sehnsüchte weckten wie: «ich will unbedingt mal in einem Einbaum den Amazonas langschippern». Ein spezieller Dank geht an mich selbst, der ich das alles unreflektiert genommen und sehr romantisch angeschaut habe und dann dachte, «das kann ich auch, von 0 auf 100, das wird geil». Klar, Entbehrungen gehören dazu, no pain no gain, das Leben will erkämpft sein. Also biwakieren.
17:23: Scheiss drauf, ich bin kein Alexander Supertramp und gerade sind mir zwei Wanderer in 3 Metern Entfernung vorbeigelaufen und haben mich schief angekuckt. Offenbar führt ein gemütlicher Weg auf die Kuppe. Warum mache ich das eigentlich? Für mich? Ja, dann soll es aber auch etwas Spass machen. Wollte mich treiben lassen, auf mein Herz hören. Packe mein Zeug.
17: 30: Ankunft bei einer Gabelung. Auf dem Wegweiser ist eine SAC-Hütte ausgeschildert in 1.5 Stunden Entfernung. Rufe dort an und reserviere ein Bett. Laufe los. Sehe mich in einer Stunde oben bei einem kühlen Getränk aufs Tal runterschauen.
18:00: Strengster Aufstieg ever. Verfluchte Höhenmeter sind hart zu überwinden. Warum stand auf dem Wegweiser «1.5 Stunden» und nicht «600 verfickte Höhenmeter, überlegst dir besser zwei Mal». Der Rucksack fühlt sich wie ein Amboss an, der mit Stacheldraht an meinem Rücken befestigt ist.
18:25: Gehe auf allen Vieren. Kraft geht zur Neige. Wanderer werden bald ein ausgetrocknetes Skelett am Wegrand finden. Sie werden es mit Steinen begraben, ein Holzkreuz einschlagen (obwohl ich nicht Katholik bin) und mir hoffentlich das extra weiche Toilettenpapier da lassen, das ich mitgeschleppt hatte. Für auf den Weg.
18:30: Hütte in Sicht. Ein Schrei der Freude entweicht meiner ausgezehrten Kehle.
18:45: Essen. Zone out.
21:30: Komme zu mir. Liege im Bett. Gehe hoch auf die Terasse. Idyllische Stimmung. Leute spielen Karten. Lege mich draussen hin und beobachte die Sterne. Das Rauschen des Bergbachs erinnert mich an das gleichmässige Surren der Klimaanlagen Griechenlands. Der Bach reisst störende Gedanken aus meinem Kopf. Geniesse den Moment. Warmes Gefühl im Bauch. Sternschnuppen sind wie Feuerwerk am Himmel.
21:55: Hüttenwart kommt mit Stirnlampe raus um die Wolldecken einzusammeln. Rufe ihm zu, dass ich «hier» liege und die Decke, auf der ich liege, runterbringe, sobald ich selber zu Bett gehe. Er bejaht und kommt dann trotzdem noch zu mir und blendet mich mit seiner 2 Millionen Lumen Stirnlampe. Hurensohn.
22:15: Beschliesse noch solange zu bleiben, bis ich eine letzte Sternschnuppe gesehen habe.
22:30: Keine Sternschnuppe mehr gesehen. Geduldsfaden gerissen. Gehe schlafen. Fühle mich wie nach der Streckbank.
Nächster Tag:
08:00: Aufstehen. Essen. Trübe Laune. Prächtiger Tag, doch was anfangen mit so vielen Stunden und ohne Plan? Rucksack immer noch schwer + fühle mich, als hätte mich jemand an einer Kette den Berg hochgeschleift und dann eine Herde Schafe über mich rüberlaufen lassen.
08:15: Wegweiser. Nächste SAC Hütte in 3:45 Stunden Entfernung. Alpine Wanderung. Abenteuerlust keimt auf. Sehe mich auf dem Gletscher stehen, die Sonne im Rücken und dann auf einem dynamisch geformten Schieferstein den vereisten Hang runter gleiten. Yaks ziehen an mir vorbei. Helfe einem alten Hirten seine Schafe in den Stall treiben und kriege 12 Kilo Schafskäse geschenkt.
08:20: Keinen dynamischen geformten Stein gefunden + habe Blasen an den Füssen. Beginne Abstieg Richtung Surenenpass. Rucksack trägt mehr mich als ich ihn.
09:00: Komme im Tal an. Surenenpass ist 3 Stunden entfernt und 1000 Höhenmeter. Attinghausen 6 Stunden. Bin hundemüde. Entscheide mich für den 3-Stunden-Marsch nach Engelberg.
09:15: Rast im Stäfeli. Ein Helikopter fliegt vorbei. An der Unterseite ist ein Seil angemacht, an dem eine tote Kuh hängt.
12:02: Ankunft in Engelberg am Bahnhof. Zug fährt um 12:02. Mir vor der Nase weg.
12:05: Essen am Bahnhof und Chinesen beobachten.
12:30: Espresso.
13:02: Erwische Zug nach Luzern.
14:00: Ankunft daheim. Weiss das grad sehr zu schätzen, dass es hier ein Sofa hat und eine Dusche und sowieso Dach über dem Kopf und so.
14:05: Beschliesse, weitere Abenteuer erleben zu wollen.
Da sitze ich nun und frage mich, warum ich mich solchen Strapazen aussetze, wo ich doch auch einfach daheim sitzen und meinen Urlaub geniessen könnte, ein gutes Buch lesen, schwimmen gehen, etwas leckeres essen, einfach mal Nichtstun. Die Antwort bleibe ich mir schuldig. Und doch weiss ich, dass dies für mich Leben bedeutet, dass dies Teil meines Menschseins ist. Ich mache das der Sache wegen, weil ich herausfinden will, was mir im Leben wirklich wichtig ist.
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