#novelle-kurzeerzählung
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blog-aventin-de · 6 years ago
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Du fährst zu oft nach Heidelberg
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Novelle von Heinrich Böll - Reise nach Heidelberg
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Heidelberg - Novelle von Heinrich Böll - Du fährst zu oft nach Heidelberg Vorgeschichte: Die berufliche Karriere des in jeder Hinsicht mustergültigen Helden wäre unaufhaltsam, wenn er nicht einen Makel hätte. Er fährt zu oft nach Heidelberg und betreut dort an der Uni Exil-Chilenen. Der Geschichte basiert auf Mitteilungen des Heidelberger Grafikers Klaus Staeck, dem Böll die Geschichte gewidmet hat. Die Erzählung handelt von einem jungen Mann, sein Name bleibt uns unbekannt, der mit dem Abendgymnasium gerade fertig geworden ist und auf eine Lehrstelle hofft. Sonntagabend sitzt er auf seinem Bett und schaut «im Rückblick» auf den gerade verbrachten Tag zurück. Am nächsten Morgen muss er zu einem Gespräch bei Herrn Kronsorgeler erscheinen, einem wichtigen Beamten im Kulturamt, der die Entscheidung trifft, wer eine Lehrstelle bekommt. Der junge Mann hat seine Prüfungen gut bestanden, und Herr Kronsorgeler, der ihn schon kennt, ist ihm freundlich gesinnt. Es gibt nur ein einziges Problem: er fährt zu oft nach Heidelberg. Abends, als er im Schlafanzug auf der Bettkante saß, auf die Zwölf-Uhr Nachrichten wartete und noch eine Zigarette rauchte, versuchte er im Rückblick den Punkt zu finden, an dem ihm dieser schöne Sonntag weggerutscht war. Der Morgen war sonnig gewesen, frisch, maikühl noch im Juni, und doch war die Wärme, die gegen Mittag kommen würde, schon spürbar. Licht und Temperatur erinnerten an vergangene Trainigstage, an denen er zwischen sechs und acht, vor der Arbeit, trainiert hatte. Eineinhalbstunden lang war er Rad gefahren am Morgen, auf Nebenwegen zwischen den Vororten, zwischen Schräbergärten und Industriegelände, an grünen Feldern, Lauben, Gärten, am großen Friedhof vorbei bis zu den Waldrändern hin, die schon weit jenseits der Stadtgrenze lagen; auf asphaltierten Strecken hatte er Tempo gegeben, Beschleunigung, Geschwindigkeit getestet, Spurts eingelegt und gefunden, dass er immer noch gut in Form war und vielleicht doch wieder einen Start bei den Amateuren riskieren konnte; in den Beinen die Freude übers bestandene Examen und der Vorsatz, wieder regelmäßig zu trainieren. Beruf, Abendgymnasium, Geldverdienen, Studium. er hatte wenig dran tun können in den vergangenen drei Jahren; er würde nur einen neuen Schlitten brauchen; kein Problem, wenn er morgen mit Kronsorgeler zurechtkam, und es bestand kein Zweifel, dass er mit Kronsorgeler zurechtkommen würde. Nach dem Training Gymnastik auf dem Teppichboden in seiner Bude, Dusche, frische Wäsche, und dann war er mit dem Auto zum Frühstück zu den Eltern hinausgefahren: Kaffee und Toast, Butter, frische Eier und Honig auf der Terrasse, die Vater ans Häuschen angebaut hatte; die hübsche Jalousie ein Geschenk von Karl, und im wärmer werdenden Morgen der beruhigende, stereotype Spruch der Eltern: «Nun hast du's ja fast geschafft; nun hast du's ja bald geschafft». Die Mutter hatte «bald», der Vater «fast» gesagt, und immer wieder der wohlige Rückgriff auf die Angst der vergangenen Jahre, die sie einander nicht vorgeworfen, die sie miteinander geteilt hatten: über den Amateurbezirksmeister und Elektriker zum gestern bestandenen Examen, überstandene Angst, die anfing, Veteranenstolz zu werden; und immer wieder wollten sie von ihm wissen, was dies oder jenes auf spanisch hieß: Mohrrübe und Auto, Himmelskönigin, Biene und Fleiß, Frühstück, Abendbrot und Abendrot, und wie glücklich sie waren, als er auch zum Essen blieb und sie zur Examensfeier am Dienstag in seine Bude einlud: Vater fuhrweg, um zum Nachtisch Eis zu holen, und er nahm auch noch den Kaffee, obwohl er eine Stunde später bei Carolas Eltern wieder würde Kaffee trinken müssen; sogar einen Kirsch nahm er und plauderte mit ihnen über seinen Bruder Karl, die Schwägerin Hilda, Elke und Klaus, die beiden Kinder, von denen sie einmütig glaubten, sie würden verwöhnt mit all dem Hosen und Fransen und Rekorderkram, und immer wieder dazwischen die wohligen Seufzer: «Nun hast du's ja bald, nun hast du's ja fast geschafft». Diese «fast», diese «bald» hatten ihn unruhig gemacht. Er hatte es geschafft! Blieb nur noch die Unterredung mit Kronsorgeler, der ihm von Anfang an freundlich gesinnt gewesen war. Er hatte doch an der Volkshochschule mit seinen Spanisch-, am spanischen Abendgymnasium mit seinen Deutschkursen, Erfolg gehabt. Später half er dem Vater beim Autowaschen, der Mutter beim Unkrautjäten, und als er sich verabschiedete, holte sie noch Mohrrüben, Blattspinat und einen Beutel Kirschen in Frischhaltepackungen aus ihrem Tiefkühler, packte es ihm in eine Kühltasche und zwang ihn, zu warten, bis sie für Carolas Mutter Tulpen aus dem Garten geholt hatte; inzwischen prüfte der Vater die Bereifung, ließ sich den heruntergekurbelte Fenster und fragte: «Fährst du immer noch so oft nach Heidelberg und über die Autobahn?» Das sollte so klingen, als gelte die Frage der Leistungsfähigkeit seines alten, ziemlich klapprigen Autos, das zweimal-, manchmal dreimal in der Woche diese insgesamt achtzig Kilometer schaffen musste. «Heidelberg? Ja, da fahr' ich noch zwei-, dreimal die Woche hin, es wird noch eine Weile dauern, bis ich mir einen Mercedes leisten kann». «Ach, ja, Mercedes», sagte der Vater, «da ist doch dieser Mensch von der Regierung, Kultur, glaube ich, der hat mir gestern wieder seinen Mercedes zur Inspektion gebracht. Will nur von mir bedient werden. Wie heißt er doch noch?» «Kronsorgeler?» «Ja, der. Ein sehr netter Mensch, ich würde ihn sogar ohne Ironie vornehm nennen». Dann kam die Mutter mit dem Blumenstrauß und sagte: «Grüß Carola von uns, und die Herrschaften natürlich. Wir sehen uns ja am Dienstag». Der Vater trat, kurz bevor er startete, noch einmal näher und sagte: «Fahr nicht zu oft nach Heidelberg mit dieser Karre!» Carola war noch nicht da, als er zu Schulte-Bebrungs kam. Sie hatte angerufen und ließ ausrichten, dass sie mit ihren Berichten noch nicht fertig war, sich aber beeilen würde; man sollte mit dem Kaffee schon anfangen. Die Terrasse war größer, die Jalousie, wenn auch verblasst, großzügiger, eleganter das Ganze, und sogar in der kaum merklichen Verkommenheit der Gartenmöbel, dem Gras, das zwischen den Fugen der roten Fliesen wuchs, war etwas, das ihn ebenso reizte wie manches Gerede bei Studentendemonstrationen; solches und Kleidung, das waren ärgerliche Gegenstände zwischen Carola und ihm, die ihm immer vorwarf, zu korrekt, zu bürgerlich gekleidet zu sein. Er sprach mit Carolas Mutter über Gemüsegärten, mit ihrem Vater über Radsport, fand den Kaffee schlechter als zu Hause und versuchte, seine Nervosität nicht zu Gereiztheit werden zu lassen. Es waren doch wirklich nette, progressive Leute, die ihn völlig vorurteilslos, sogar offiziell, per Verlobungsanzeige akzeptiert hatten; inzwischen mochte er sie regelrecht, auch Carolas Mutter, deren häufiges «entzückend» ihm anfangs auf die Nerven gegangen war. Schließlich bat ihn Dr. Schulte-Bebrung ein bisschen verlegen, wie ihm schien, in die Garage und führte ihm sein neu erworbenes Fahrrad vor, mit dem er morgens regelmäßig ein «paar Runden» drehte, um den Park, den Alten Friedhof herum; ein Prachtschlitten von einem Rad; er lobte es begeistert, ganz ohne Neid, bestieg es zu einer Probefahrt rund um den Garten, erklärte Schulte-Bebrung die Beinmuskelarbeit (er erinnerte sich, dass die alten Herren im Verein immer Krämpfe bekommen hatten!), und als er wieder abgestiegen war und das Rad in der Garage an die Wand lehnte, fragte Schulte-Bebrung ihn: «Was denkst du, wie lange würde ich mit diesem Prachtschlitten, wie du ihn nennst, brauchen, um von hier nach sagen wir Heidelberg zu fahren?» Es klang wie zufällig, harmlos, zumal Schulte-Bebrung fortfuhr: «Ich habe nämlich in Heidelberg studiert, hab' auch damals ein Rad gehabt, und von dort bis hier habe ich damals noch bei jugendlichen Kräften zweieinhalb Stunden gebraucht». Er lächelte wirklich ohne Hintergedanken, sprach von Ampeln, Stauungen, dem Autoverkehr, den es damals so nicht gegeben habe; mit dem Auto, das habe er schon ausprobiert, brauche er ins Büro fünfunddreißig, mit dem Rad nur dreißig Minuten. «Und wie lange brauchst du mit dem Auto nach Heidelberg?». «Eine halbe Stunde». Dass er das Auto erwähnte, nahm der Nennung Heidelbergs ein bisschen das Zufällige, aber dann kam gerade Carola, und sie war nett wie immer, hübsch wie immer, ein bisschen zerzaust, und man sah ihr an, dass sie tatsächlich todmüde war, und er wusste eben nicht, als er jetzt auf der Bettkante saß, eine zweite Zigarette noch unangezündet in der Hand, er wusste eben nicht, ob seine Nervosität schon Gereiztheit gewesen, von ihm auf sie übergesprungen war oder ob sie nervös und gereizt gewesen war und es von ihr auf ihn übergesprungen war. Sie küsste ihn natürlich, flüsterte ihm aber zu, dass sie heute nicht mit ihm gehen würde. Dann sprachen sie über Kronsorgeler, der ihn so sehr gelobt hatte, sprachen über Planstellen, die Grenzen des Regierungsbezirks, über Radfahren, Tennis und Spanisch. Als er eingeladen wurde, zum Abendessen zu bleiben, schützte er Müdigkeit und Arbeit vor, und niemand hatte ihn besonders gedrängt, doch zu bleiben; rasch wurde es auf der Terrasse wieder kühl; er half, Stühle und Geschirr ins Haus tragen, und als Carola ihn zum Auto brachte, hatte sie ihn überraschend heftig geküsst, ihn umarmt, sich an ihn gelehnt und gesagt: «Du weißt, dass ich dich sehr, sehr gern habe, und ich weiß, dass du ein prima Kerl bist, du hast nur einen kleinen Fehler: Du fährst zu oft nach Heidelberg». Sie war rasch ins Haus gelaufen, hatte gewinkt, gelächelt, Kusshände geworfen, und er konnte noch im Rückspiegel sehen, wie sie immer noch da stand und heftig winkte. Es konnte doch nicht Eifersucht sein. Sie wusste doch, dass er dort zu Diego und Teresa fuhr, ihnen beim Übersetzen von Anträgen half, beim Ausfüllen von Formularen und Fragebögen; dass er Gesuche aufsetzte, ins reine tippte; für die Ausländerpolizei, das Sozialamt, die Gewerkschaft, die Universität, das Arbeitsamt; dass es um Schul- und Kindergartenplätze ging, Stipendien, Zuschüsse, Kleider, Erholungsheime; sie wusste doch, was er in Heidelberg machte, war ein paar Mal mitgefahren, hatte eifrig getippt und eine erstaunliche Kenntnis von Amtsdeutsch bewiesen; ein paarmal hatte sie sogar Teresa mit ins Kino und ins Cafe genommen und von ihrem Vater Geld für einen Chilenen Fonds bekommen. Er war statt nach Hause nach Heidelberg gefahren, hatte Diego und Teresa nicht angetroffen, auch Raoul nicht, Diegos Freund; war auf der Rückfahrt in eine Autoschlange geraten, gegen neun bei seinem Bruder Karl vorbeigefahren, der ihm Bier aus dem Eisschrank holte, während Hilde ihm Spiegeleier briet; sie sahen gemeinsam im Fernsehen eine Reportage über die Tour de Suisse, bei der Eddy Merckx keine gute Figur machte, und als er wegging, hatte Hilde ihm einen Papiersack voll abgelegter Kinderkleider gegeben für «diesen spirrigen netten Chilenen und seine Frau». Nun kamen endlich die Nachrichten, die er mit halbem Ohr nur hörte: Er dachte an die Mohrrüben, den Spinat und die Kirschen, die er noch ins Tiefkühlfach packen musste; er zündete die zweite Zigarette doch an: Irgendwo, war es Irland?, waren Wahlen gewesen: Erdrutsch; irgendeiner, war es wirklich der Bundespräsident?, hatte irgendwas sehr Positives über Krawatten gesagt; irgendeiner ließ irgendwas dementieren; die Kurse stiegen; Idi Amin blieb verschwunden. Er rauchte die zweite Zigarette nicht zu Ende, drückte sie in einem halb leer gegessenen Yoghurtbecher aus; er war wirklich todmüde und schlief bald ein, obwohl das Wort Heidelberg in seinem Kopf rumorte. Er frühstückte frugal: nur Brot und Milch, räumte auf, duschte und zog sich sorgfältig an; als er die Krawatte umband, dachte er an den Bundespräsidenten, oder war's der Bundeskanzler gewesen? Eine Viertelstunde vor der Zeit saß er auf der Bank vor Kronsorgelers Vorzimmer, neben ihm saß ein Dicker, der modisch und salopp gekleidet war; er kannte ihn von den Pädagogikvorlesungen her, seinen Namen wusste er nicht. Der Dicke flüsterte ihm zu: «Ich bin Kommunist, du auch?» «Nein», sagte er, «nein, wirklich nicht, nimm's mir nicht übel». Der Dicke blieb nicht lange bei Kronsorgeler, machte, als er herauskam eine Geste, die wohl «aus» bedeuten sollte. Dann wurde er von der Sekretärin hinein gebeten; sie war nett, nicht mehr ganz so jung, hatte ihn immer freundlich behandelt, es überraschte ihn, dass sie ihm einen aufmunternden Stubs gab, er hatte sie für zu spröde, für so etwas gehalten. Kronsorgeler empfing ihn freundlich; er war nett, konservativ, aber nett; objektiv; nicht alt, höchstens Anfang vierzig. Radsportanhänger, hatte ihn sehr gefördert, und sie sprachen erst über die Tour de Suisse; ob Merckx geblufft habe, um bei der Tour de France unterschätzt zu werden, oder ob er wirklich abgesunken sei; Kronsorgeler meinte, Merckx habe geblufft; er nicht, er meinte, Merckx sei wohl wirklich fast am Ende, gewisse Erschöpfungsmerkmale könne man nicht bluffen. Dann über die Prüfung; dass sie lange überlegt hätten, ob sie ihm doch eine Eins geben könnten; es sei an der Philosophie gescheitert; aber sonst: die vorzügliche Arbeit an der VHS, am Abendgymnasium; keinerlei Teilnahme an Demonstrationen, nur gäbe es, Kronsorgeler lächelte wirklich liebenswürdig, einen einzigen, einen kleinen Fehler. «Ja, ich weiß», sagte er, «ich fahre zu oft nach Heidelberg». Kronsorgeler wurde fast rot, jedenfalls war seine Verlegenheit deutlich; er war ein zartfühlender, zurückhaltender Mensch, fast schüchtern, Direktheiten lagen ihm nicht. «Woher wissen Sie?» «Ich höre es von allen Seiten. Wohin ich auch komme, mit wem ich auch spreche. Mein Vater, Carola, deren Vater, ich höre nur immer: Heidelberg. Deutlich höre ich's, und ich frage mich: Wenn ich die Zeitansage anrufe oder die Bahnhofs Auskunft, ob ich nicht hören werde: Heidelberg». Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob Kronsorgeler aufstehen und ihm beruhigend die Hände auf die Schulter legen würde, erhoben hatte er sie schon, senkte die Hände wieder, legte sie flach auf seinen Schreibtisch und sagte: «Ich kann Ihnen nicht sagen, wie peinlich mir das ist. Ich habe Ihren Weg, einen schweren Weg, mit Sympathie verfolgt, aber es liegt da ein Bericht über diesen Chilenen vor, der nicht sehr günstig ist. Ich darf diesen Bericht nicht ignorieren, ich darf nicht. Ich habe nicht nur Vorschriften, auch Anweisungen, ich habe nicht nur Richtlinien, ich bekomme auch telefonische Ratschläge. Ihr Freund, ich nehme an, er ist Ihr Freund?» «Ja». «Sie haben jetzt einige Wochen lang viel freie Zeit. Was werden Sie tun?» «Ich werde viel trainieren, wieder Radfahren, und ich werde oft nach Heidelberg fahren». «Mit dem Rad?» «Nein, mit dem Auto». Kronsorgeler seufzte. Es war offensichtlich, dass er litt, echt litt. Als er ihm die Hand gab, flüsterte er: «Fahren Sie nicht nach Heidelberg, mehr kann ich nicht sagen». Dann lächelte er und sagte: «Denken Sie an Eddy Merckx». Schon als er die Tür hinter sich schloss und durchs Vorzimmer ging, dachte er an Alternativen: Übersetzer, Dolmetscher, Reiseleiter, Spanischkorrespondent bei einer Maklerfirma. Um Profi zu werden, war er zu alt, und Elektriker gab's inzwischen genug. Er hatte vergessen, sich von der Sekretärin zu verabschieden, ging noch einmal zurück und winkte ihr zu. Du fährst zu oft nach Heidelberg - Novelle von Heinrich Böll Read the full article
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