Tag 1585 / Jetzt bloß keinen drauf kippen
Ich habe Urlaub.
Der erste Urlaub in der Festanstellung, auf die ich seit März 2014 hingearbeitet habe.
Der März, in dem ich mein Ändern noch nicht leben, mein Leben noch nicht ändern konnte.
Der März mit dem ersten professionellen Alkoholentzug.
Vier Tage alkoholfrei. Dann nochmal vier ohne. Dann weiter getrunken.
Das Trinken befristet einstellen, eine neue Arbeit, ein paar Kilos weniger, einen Freund.
Ich habe Urlaub und ich freue mich nicht.
Ich bin nicht super jut druff.
Meine Glieder tun mir weh. Jeden Tag. Ich habe Gliederschmerzen oder Muskelkater.
Von dem Marathon.
Das war nicht nur ein Vorstellungsgesprächmarathon.
Das war eine ganz zähe Langstrecke.
Durststrecke
"Trocken auf Strecke"
Und jetzt bloß keinen drauf kippen.
Gestern Impulsgedanke am Alex:
Ich trink jetzt auch mal wieder einen.
Das ist noch nicht mal Saufduck wie zu Tagen 481, 602, 849.
Das ist ein Anders-fühlen-wollen-Bedürfnis.
Das ist ein im-Urlaub-macht-man-Dinge-die-man-sonst-nicht-macht-Gedanke.
Ich wär wirklich gern fitter.
So wie Mutti.
Oder der Student.
Dabei gähnt der viel öfter als ich beim Arbeiten.
0 notes
Tag 436 / Karneval der Trinkkulturen
Es ging los in der M10 mit dem vollbärtigen Mann, der eine Efes-Bierdose festhielt. An der nächsten Haltestelle stiegen Sternburg-Bierflaschenträger ein. Ich war spät dran.
Die U1 dann war auch voll. Auf jeden Fall sitzen wollte ich. Die Frau auf der Bank gegenüber hatte ein 0,5-Berliner Pilsener in der rechten Hand.
Als drei Senioren am Schlesischen Tor in den Wagon kamen, stand sie auf und machte Platz.
Die linke, untere Ecke ihres offen getragenen Wollmantels berührte ständig meine Tasche, die ich auf dem Schoss hatte. Ich will nicht berührt werden. Auch nicht von Mantelecken. Und schon gar nicht von Mantelecken von Trinkerinnen.
Bier stinkt vor allem dann, wenn man es zum Mund führt, trinkt und anschließend den Arm mit der Flasche wieder hängen lässt. So kommt Bewegung in die Alkoholmasse. So strömt frisch durchgerührter Geruch zum Einen aus dem Trinkbehältnis, zum Anderen aus der neu benetzten Oralzone.
Bis zum Kottbusser Tor malte ich meine Lippen mit dem Erdbeer-Banane-Pflegestift an, setzte immer mal ab und führte ihn mir zur Nase.
Aus falscher Verklemmtheit und falscher Scham brach ich diesen Vorgang ab. Es waren noch mehr Menschen mit Alkoholfahnen und -flaschen eingestiegen. Bis zum Halleschen Tor hielt ich mir die Nase zu.
Verkrampfung, Anspannung, Scham, Selbstvorwürfe, Ekel, Neid, Verzweiflung, Überforderung, Wut, Erschöpfung.
Ich hätte gerne Rücksicht und Respekt wie bisweilen gehbehinderten Menschen entgegengebracht wird. Ich hätte gerne Rücksicht und Respekt wegen meiner Alkoholabhängigkeit, obwohl ich trinkend dies auch kaum jemandem entgegengebracht habe. Immerhin sehe ich jetzt ein wie arschig und asi ich war.
An das 14jährige Flüchtlingsmädchen musste ich denken, die mir vor einigen Wochen eines ihrer auf Deutsch verfassten Gedichte gezeigt hat. Ein Gedicht an ihre beste Freundin gerichtet, die noch in Syrien lebt. Die 14jährige thematisiert darin, was alles anders ist in diesem neuen Land. Eine Zeile lautet so oder so ähnlich: "Es gibt viele Betrunkene hier."
Nicht nur für Süchtige, die clean leben wollen, ist das also widerlich, abstoßend, angsterregend, befremdlich, sondern auch für Menschen, die gar keinen Alkohol trinken. Und vielleicht ja auch für welche, die selten konsumieren.
Weil ich beim Einfahren in meine eigentliche Ziel-Haltestelle aus dem Fenster schauend realisierte, dass das Schlimmste noch kommen wird - noch mehr Menschen, Buden, Musik, noch mehr Alkohol - setzte ich mich so blitzartig wieder hin wie ich aufgesprungen war.
An der nächsten Haltestelle, Möckernbrücke, schien es etwas weniger drängelig. Eine junge Frau wies mich darauf hin, dass mein Rucksack offen ist. So durch war ich, dass ich darauf gar nicht mehr achtete.
Ich überlegte heulend, mich selbst einzuweisen.
Was ist das für eine scheiß Krankheit, die ich habe, diese scheiß Sucht?!
Noch erheblich mehr als Rücksicht und Respekt möchte ich klarkommen. Klarkommen mit der Sucht, mit der trinkenden Außenwelt, mit mir.
Mit Kopfhörern auf den Ohren ging ich den Mehringdamm entlang.
Das Meeting der Anonymen und zumeist trockenen Alkoholiker, welches ich seit zwei Monaten halbwegs regelmäßig sonntags besuche, lag mitten drin in all dem Trubel, Lärm, all dem Suchtmittelkonsum. Durch mindestens zwei Haschwolken schlug ich mich auch noch durch.
Und es war verdammt gut, dass ich genau an dem Tag dort war, weil sehr vieles, das ich hörte, wichtig für mich war.
Selbst lachen konnte ich wieder, zum Beispiel in der Pause. Ein junger Volksfestbesucher wollte in den Hof pinkeln und einige rechtschaffende Anonyme Alkoholiker wiesen ihn darauf hin, er solle das woanders erledigen. Dann beschimpfte der Betrunkene uns alle. Er brüllte: "Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir. Ihr sterbt eher als ich." Und darauf musste selbst ich erheitert was zurückrufen: "Das werden wir ja noch sehen."
Weil ich später unter Tränen vor der Gruppe sprach, bot mir Marlies an, mich im Anschluss an das Meeting nach Hause zu fahren, damit ich nicht wieder in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein muss, die nach Kneipe stinken.
Wir fuhren erst noch kurz in ihren Schrebergarten, wo sich zeigte, dass das Paradies gleich neben der Hölle liegt. Denn die Anlage war nur drei, vier Autominuten entfernt von der närrischen, lauten, saufenden Meute. "Kampf der Kulturen" nannte es ein anderer.
0 notes
Tag 426 / Es gibt immer einen Grund zum Trinken // Es gibt keinen Grund zum Trinken
Es gibt immer einen Grund zum Trinken
Ich habe getrunken, weil ich traurig war
Ich habe getrunken, weil ich glücklich war
Ich habe getrunken, weil ich einen Scheißtag hatte
Ich habe getrunken, weil ich einen tollen Tag hatte
Ich habe getrunken zur Belohnung
Ich habe getrunken zum Trost
Ich habe getrunken, um mich hoch zu pushen
Ich habe getrunken, um mich zu beruhigen
Ich habe getrunken, wenn es sehr heiß war
Ich habe getrunken, wenn es gegossen hat
Ich habe getrunken, wenn ich etwas geschafft hatte
Ich habe getrunken, wenn ich nichts geschafft hatte
Ich habe getrunken, weil die Wohnung so chaotisch war
Ich habe getrunken, weil ich so viel aufgeräumt und geputzt hatte
Ich habe getrunken, weil mich die vertrockneten Blumen auf meinem Balkon so ankotzten
Ich habe getrunken, als ich meinen Balkon endlich bepflanzt hatte
Ich habe getrunken, als ich Arbeit hatte
Ich habe getrunken, als ich arbeitslos war
Ich habe getrunken, als ich einen Freund hatte
Ich habe getrunken, als ich Single war
Ich habe getrunken, als ich viele Freunde hatte
Ich habe getrunken, als ich einsam war
Ich habe getrunken, wenn ich mit anderen in einer Bar war
Ich habe getrunken, als ich alleine in einer Bar war
Ich habe getrunken, als ich mit anderen getanzt habe
Ich habe getrunken, wenn ich alleine getanzt habe
Ich habe getrunken, weil ich jemanden anmachen wollte
Ich habe getrunken, weil ich abgeschleppt werden wollte
Ich habe unterwegs, in der U-Bahn, in der S-Bahn, in der Straßenbahn, im Park, auf der Wiese, im Garten, am See, am Meer, auf dem Hof getrunken
Ich habe zu Hause getrunken
Ich habe getrunken, wenn meine Mannschaft schlecht gespielt hat
Ich habe getrunken, wenn meine Mannschaft hervorragend gespielt hat
Ich habe getrunken, als ich bei einem Konzert war
Ich habe getrunken, als ich im Theater war
Ich habe getrunken, um Appetit zu bekommen
Ich habe getrunken, um den Hunger zu bekämpfen
Ich habe an Geburtstagen, an Weihnachten und an Ostern getrunken
Ich habe an allen anderen, gewöhnlichen Tagen getrunken
Ich habe getrunken, wenn es ein besonderer Wein, ein gratis Longdrink, ein edler Champagner war
Ich habe getrunken, wenn es ein dünner, saurer Wein, ein scharfer Korn, ein lauwarmes Bier war
Ich habe getrunken, weil ich einen Termin beim Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit hatte
Ich habe getrunken, als ich Kleidergröße 38 hatte
Ich habe getrunken, als ich Kleidergröße 54 hatte
Ich habe getrunken, als ich in der einen Landeshauptstadt wohnte
Ich habe getrunken, als ich in der anderen Landeshauptstadt wohnte
Ich habe getrunken, weil ich Urlaub hatte
Ich habe getrunken, weil ich arbeiten gehen musste
Ich habe getrunken, weil der Urlaub all-inclusive war
Ich habe getrunken, wenn ich für jedes Getränk bezahlen musste
Ich habe getrunken, weil ich beim Sport war
Ich habe getrunken, weil ich nicht beim Sport war
Ich habe getrunken, weil ich unzufrieden war mit meiner Frisur nach dem Friseurbesuch
Ich habe getrunken, weil ich happy war mit meiner Frisur nach dem Friseurbesuch
Ich habe getrunken, weil mir eine OP beim Kieferchirurgen bevorstand
Ich habe getrunken, weil ich eine OP beim Kieferchirurgen überstanden hatte
Ich habe getrunken, weil ich etwas nicht bekommen hatte, das ich kaufen wollte
Ich habe getrunken, weil ich so schön Shoppen war
Ich habe getrunken, wenn ich eine Absage auf meine Bewerbung bekam
Ich habe getrunken, wenn ich eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhielt
Ich habe getrunken, weil ich mit einer Clique im Urlaub war
Ich habe getrunken, weil ich so alleine verreist bin
Ich habe getrunken, wenn ich am nächsten Morgen ausschlafen konnte
Ich habe getrunken, wenn ich am nächsten Morgen früh aufstehen musste
Ich habe getrunken, weil Alkohol überall verfügbar war
Ich habe getrunken, weil alle tranken
Es gibt immer einen Grund zu trinken
//
Es gibt keinen Grund zum Trinken
Ich habe nicht getrunken, als ich Stress mit der Arbeitsvermittlerin hatte
Ich habe nicht getrunken, als ich eine Mieterhöhung bekam
Ich habe nicht getrunken, als der Sporttherapeut mich beleidigte
Ich habe nicht getrunken, als ich Streit mit einem Mitpatienten hatte
Ich habe nicht getrunken, als sich herausstellte, dass mir meine Mutter sehr lange den Zustand meines Vaters verschwiegen hat
Ich habe nicht getrunken, als meine Katze operiert werden musste
Ich habe nicht getrunken, als ich auf den Nachsorge-Platz warten musste
Ich habe nicht getrunken, als sich meine Mitpatientin-Freundin nicht mehr meldete
Ich habe nicht getrunken, als mein Vater mich schwer psychotisch anbrüllte
Ich habe nicht getrunken, als ich auf die Bewilligung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben warten musste
Ich habe nicht getrunken, als ich dreimal Ablehnungen auf den Antrag auf Rehasport erhielt
Ich habe nicht getrunken, als der Antrag auf Rehasport im vierten Anlauf bewilligt wurde
Ich habe nicht getrunken, als ich bei einem Konzert war
Ich habe nicht getrunken, als ich im Fußballstadion war
Ich habe nicht getrunken, als ich an Weihnachtsmarktbuden vorbeiging
Ich habe nicht getrunken, als ich mit mehrheitlich Trinkenden und Betrunkenen in Straßenbahn saß
Ich habe nicht getrunken, als meine Katze Brechdurchfall hatte
Ich habe nicht getrunken, als ich Trinkwünsche, Konsumverlangen, Suchtdruck hatte
Ich habe nicht getrunken, als es mir sehr, sehr schlecht ging, ich viel heulen musste, ich keine Kraft hatte zum Duschen, Kauen, Gehen, Sprechen
Ich habe nicht getrunken, wenn ich mich unverstanden und fehl am Platz, sinnlos und verzweifelt fühlte
Ich habe nicht getrunken, wenn ich beschwingt, fröhlich, zufrieden einen Ausflug machte
Ich habe nicht getrunken, wenn ich mich Eins mit mir fühlte, den Frieden mit mir spürte, mich in meiner Mitte befand
Ich habe nicht getrunken, wenn ich meinte, gleich zu Platzen vor Wut, wenn ich mich kolossal ärgerte, wenn ich zutiefst enttäuscht war
Ich habe nicht getrunken, als ich meinen Balkon bepflanzt habe
Ich habe nicht getrunken, als ich meinen Wohnzimmertisch aufgeräumt habe
Ich habe nicht getrunken, als mir eine unangenehme Untersuchung beim Arzt bevorstand
Ich habe nicht getrunken, als ich eine unangenehme Untersuchung beim Arzt überstanden hatte
Ich hab nicht getrunken als ich erfuhr, dass sich Nepomuk in eine Kollegin verliebt hat
Ich habe nicht getrunken, als ich hörte wie Christophorus von seiner neuen Schnalle berichtete
Ich habe nicht getrunken, als Tomasz meine Flirtversuche nicht erwiderte
Ich habe nicht getrunken, als ich den Geruch von Alkohol in der Nase hatte
Ich habe nicht getrunken, als ich Werbung für neue alkoholische Getränke sah
Ich habe nicht getrunken, als ich in Fernsehserien und Filmen Konsumzeuge wurde
Ich habe nicht getrunken, als ich einen Infekt nach dem anderen hatte
Ich habe nicht getrunken, als Leute gelacht haben über etwas, das ich in der Gruppe erzählte, selbst aber gar nicht lustig fand
Ich habe nicht getrunken, als mich mehrere Frauen bedrängten, mit einer Sponsorin die Schritte zu arbeiten
Ich habe nicht getrunken, als mein Gewicht stagnierte
Ich habe nicht getrunken, als das Jobcenter eine Aufforderung zur Anhörung schickte und Sanktionen androhte
Ich habe nicht getrunken, als es einen Terroranschlag gab in einer Stadt, in der ich auch schon war
Ich habe nicht getrunken, als fest stand, dass meine Mannschaft absteigen wird
Ich habe nicht getrunken, als ich für nicht Vollzeit arbeitsfähig eingestuft wurde
Ich habe nicht getrunken, weil Trinken nichts an den Sachlagen und den Zuständen ändert
Ich habe nicht getrunken, weil Trinken vieles verschlimmert hat
Ich habe nicht getrunken, weil ich handlungsfähig, klar, mit meiner uneingeschränkten Kompetenz Schwierigkeiten begegnen und Zufriedenheit, Freude, glückliche Momente unbetäubt, mit der vollen Kraft all meiner Sinne genießen will
Ich habe nicht getrunken und trinke nicht, weil alle trinken, viele, die meisten
Ich habe nicht getrunken und trinke nicht, weil ich einen neuen Weg gehe
Es gibt keinen Grund zum Trinken
2 notes
·
View notes