Don't wanna be here? Send us removal request.
Text
Wie mir Tadeusz Różewicz das Lesen beibrachte…
Im Jahr 1979, als ich zehn Jahr alt war, bekam ich von Tadeusz Różewicz ein Buch mit einer polnisch verfassten Widmung geschenkt, die lautete: „Maciejowi z prośbą, żeby nie zaczął pisać wierszy przed 60. rokiem życia“. Mit zehn Jahren hielt sich meine Begeisterung für polnische Lyrik, selbst wenn sie mir in einer geheimnisvoll aussehenden Fremdsprache gewidmet war, freilich in Grenzen, sodass ich mich, ohne weiter nachzufragen, artig bei „Herrn Tadeusz“ für das Geschenk bedankte und es auf kürzestem Wege in die zweite Reihe eines Bücherregals beförderte. Erst 20 Jahre nach dieser Geschenk, als ich selber schon mehrere Gedichtbände veröffentlicht hatte, kramte ich das Buch wieder hervor und mein Entsetzen war groß, als ich die Widmung von damals nun verstand. Als ich ihn fragte, warum er mir damals diese Widmung geschrieben hatte, meinte er mit einer Anspielung auf ein Märchen von Hans Christian Andersson, dass ein großer Dichter großes Zahnweh hat, und ein kleiner kleines. Er wollte mich davor schützen.
Ich bin mit Tadeusz Różewicz seit meiner Kindheit aufgewachsen, weil er eng mit meinem Vater befreundet war. Er kam fast jedes Jahr mehrere Tage, manchmal auch Wochen zu uns zu Besuch ins bayerische Regensburg und meine Brüder und ich verbrachten viel Zeit mit ihm. Einmal spielten wir zusammen mit ihm Fußball, ein anderes Mal machten wir mit ihm Armdrücken und schauten, wer der der Stärkste von uns allen war, einmal setzte er sich sogar auf das große Motorrad, das sich mein Bruder gekauft hatte. Dass Tadeusz Różewicz ein berühmter polnischer Dichter war, wussten wir als Kinder nicht. Und als wir es irgendwann erfahren haben, war es nicht wichtig. Nicht für „Herrn Tadeusz“ (so nannten wir ihn bis zu seinem Tod im Jahr 2014), nicht für uns. Wir mochten ihn, weil er deutsch sprach und wir uns mit ihm unterhalten konnten. Und weil er einen lustigen Humor hatte.
Różewicz sprach nicht viel, Small Talk war ihm gänzlich fremd. Häufig saß er bei uns zu Hause am Frühstückstisch und las schweigend die Zeitung. Irgendwann las er dann plötzlich einen einzigen Satz aus irgendeinem Artikel vor und lachte schelmisch zu uns herüber. Und dieser Satz hatte es dann meist in sich. Ein banaler, aus der Alltagsberichterstattung herausgegriffener Satz wurde durch das Vorlesen durch „Herrn Tadeusz“ ein Stück Philosophie, bekam Gewicht, wuchs irgendwie über sich selbst hinaus und hätte als Gedicht funktioniert. Oft auch als urkomisches. Von „Herrn Tadeusz“ habe ich schon als Kind viel über Polen erfahren, vor allem aber das Lesen gelernt. Das langsame Lesen, das jedem einzelnen Wort gleich viel Aufmerksamkeit zukommen lässt, den Präpositionen wie den Substantiven, und das nichts mit dem Überfliegen von Bahnhofsromanen gemein hat. Seitdem brauche ich länger für jedes Buch, jeden Artikel, doch auf diese Weise begriff ich die Kunst des Schreibens.
Różewicz lebte zurückgezogen in Breslau, mied weitestgehend mediale Kontakte, und auch zu Auftritten war er meist nur schwer zu bewegen. Einmal, während eines meiner Besuche bei „Herrn Tadeusz“ in Breslau, rief ein Redakteur der renommierten Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ an, um ein Interview mit ihm zu machen. „Der Spiegel“ am Telefon! Ich war schwer beeindruckt. Doch mein „Herr Tadeusz“ sagte dem Reporter nur, dass er gerade Besuch habe und deswegen keine Zeit hätte. Er solle ein andermal wieder anrufen. Das war´s. Und „Herr Tadeusz“ lachte mir zu und sagte: “Wieder so ein Reporter, der irgendwelche Fragen zu meinem Werk stellen will, weil er zu faul ist, es zu lesen!“ So war er.
Im hohen Altern von 93 Jahren starb Różewicz in Wrocław. Er ließ sich in Karpacz beerdigen, wohin er Zeit seines Lebens gerne und häufig zusammen mit seinem Freund, dem Regisseur Henryk Tomaszewski gefahren ist, um am Fuße der Schneekoppe spazieren zu gehen. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof vor der Wang-Kirche, direkt neben dem Grab von Henryk Tomaszewski. Sein Grabstein besteht aus einem steinernen Buch. Ich weiß nicht, ob ihm der Grabstein gefallen hätte. Ein Buch, das man nicht lesen kann, erschiene ihm wahrscheinlich sinnlos. Am 9. Oktober 2021 wäre Tadeusz Różewicz 100 Jahre alt geworden.
1 note
·
View note
Text
“Danke, ich bin nicht hungrig…“. Gastfreundschaft auf Deutsch und Polnisch
Obwohl meine Eltern, die aus Oberschlesien stammen, zweisprachig sind, haben sie uns als Kinder die polnische Sprache nicht beigebracht. Zu Zeiten des Kalten Kriegs hielten sie es für besser, wenn ihre Kinder in Bayern ohne polnische Prägung aufwuchsen. Außerdem war Polnisch ja auch nicht ihre Muttersprache. Ich habe die polnische Sprache erst später gelernt, meine Brüder gar nicht. Mein jüngerer Bruder kann bis heute nur einen einzigen Satz auf Polnisch, und der lautet: „Dziękuje, nie jestem głodny!“. Er hat ihn gelernt, als unsere Eltern mit uns Anfang der 1980er Jahre mal in den Urlaub nach Polen reisten, um uns ihre Heimat Oberschlesien zu zeigen. Mehrmals am Tag waren wir dort bei Freunden und Bekannten meiner Eltern eingeladen und immer gab es etwas zu essen. Als Kinder wurde uns beigebracht, den Teller grundsätzlich leer zu essen, was sich in Polen schnell als großer Fehler herausstellte. Immer, wenn unser Teller endlich leer war, kam automatisch wieder eine neue Portion drauf. Mein Bruder, der damals 10 Jahre alt war, war am Verzweifeln und fürchtete, diese Reise nicht zu überleben. „Wenn das so weitergeht“, sagte er damals, „kannst du mich gleich neben unserer Urgroßmutter auf dem alten Oppelner Friedhof beerdigen“. Also bat er meine Mutter, ihm beizubringen, was auf Polnisch heißt „Danke, ich bin nicht hungrig!“, um sich mit diesem Satz gegen den Nachschlag auf dem Teller zu verteidigen. Er lernte ihn, und hatte Erfolg… Bis heute glaubt mein Bruder, dass dieser Satz der einzige ist, den man als Ausländer in Polen wirklich braucht, um eine Reise dorthin zu überleben. Jahrelang begrüßte er so auch jeden Gast aus Polen, der zu uns nach Regensburg kam. Mehr konnte er ja auf Polnisch auch nicht sagen.
Jeder Deutsche, der einmal bei Polen zu Gast war, weiß, wie gastfreundlich die Polen sind und dass Essen ein wichtiger Bestandteil polnischer Gastfreundschaft ist. Da darf – infolge von Kapitulation des Gastes - auch schon mal was auf dem Teller übrig bleiben. In Deutschland sind wir auch gastfreundlich. Aber auf andere Weise. Gäste, die zu uns kommen und vielleicht sogar ein paar Tage bei uns verbringen, werden durchaus auch gut behandelt nach dem Prinzip „Fühl dich wie zu Hause!“. Was im Falle von Essen übersetzt heißt: „Nimm dir so viel du möchtest! (aber pass auf, dass nichts auf dem Teller übrig bleibt, was man dann wegschmeißen muss)“. Der Gast ist eher Familienmitglied, als König. Die deutsche Sparsamkeit und rationale Interpretation von Gastfreundschaft wirkt auf Polen manchmal etwas zurückhaltend. Irgendwie herzlich, aber mit angezogener Handbremse. Doch das täuscht. Wir behandeln eben Gäste nur so wie uns selbst auch. Umweltbewusst, ökonomisch. Diese Gleichbehandlung gilt in Deutschland als das größte Kompliment. Für Polen ist das manchmal gewöhnungsbedürftig. Irgendwo habe ich sogar mal folgenden Witz gelesen, den sich Polen über die deutsche Gastfreundlichkeit und Sparsamkeit erzählen: „Kommt ein Deutscher zu einem anderen Deutschen zu Besuch. Als beide gemütlich im Wohnzimmer sitzen, fällt dem Gast ein Glas auf dem Tisch auf, in dem drei Salzstangen stecken. Nach einer kurzen Zeit des Überlegens fragt er den Gastgeber: Sag mal, erwartest du noch jemanden?“. In Deutschland lacht an dieser Stelle niemand. Die Pointe wird nicht erkannt, weil sie uns nicht bewusst ist. Der sparsame Umgang mit Essen ist für die meisten Deutschen selbstverständlich, und keineswegs mit geizig zu verwechseln. Man will einfach nichts wegwerfen müssen. In Polen dagegen gibt es das Sprichwort „Ist ein Gast im Haus, hast du Gott im Haus“ Und da gilt es, ihm die Ehre zu erweisen und ihm so viel zu Essen zu geben, bis er satt ist. Und letzteres weiß man erst, wenn er auf dem Teller etwas übrig lässt. Mein Bruder hat das übrigens damals auch schnell kapiert. Er hat sich gleich zu Beginn des Essens immer eine kleine Portion an den Tellerrand gelegt, die er am Ende übrig ließ. Eine ganz kleine. Damit der polnische Hund nicht zu dick wird oder nur gaaaanz wenig weggeworfen werden muss…
0 notes
Text
Depolka - Eine neue deutsch-polnische Landkarte
Wer, so wie ich, die meiste Zeit seines Lebens viel im eigenen Land herumgereist ist, glaubt in der Regel, sein Land gut zu kennen. Ich weiß, wo welche Stadt auf der Landkarte ungefähr zu finden ist, zu welchem Bundesland sie gehört und, so ungefähr, wie viele Einwohner sie hat. Es passiert aber doch immer wieder, dass man von seinem eigenen Land überrascht wird. So habe ich vor kurzem mal geprüft, mit welchem Nachbarland Deutschland die längste Grenze hat. So, wie wohl die meisten Deutschen, die man auf der Straße danach fragen würde, hätte ich Polen an erster Stelle vermutet, vielleicht auch Frankreich. Große Nachbarländer, lange Grenzen. Dachte ich. Zu meinem großen Erstaunen stellte ich fest, das uns mit unserem kleinen Nachbarn im Süden, Österreich, mit 801 km die längste Grenze verbindet. Nur ein wenig kürzer – und das war die zweite Überraschung – ist unsere Grenze mit Tschechien mit 704 km. Dann folgen die Niederlande (wieder so ein scheinbar kleiner Nachbar!) mit 575 km und dann erst Polen (467 km) und Frankreich (418 km). Ich gebe zu, ich hätte bei dieser Frage in jeder Quizshow peinlich verloren. Wahrscheinlich wäre ich auch an Polens längster Grenze gescheitert, die sich über 796 km mit Tschechien zieht. Dann folgen die Slowakei mit 541 km und die Ukraine mit 535 km. Deutschland folgt – wie umgekehrt auch – auf Platz vier der Rangliste.
Aber Deutschland und Polen verbindet geografisch nicht nur die Tatsache, dass sie beide jeweils auf Platz vier der jeweiligen längsten Landesgrenze liegen. Eigentlich sind sich beide Länder geographisch sogar ziemlich ähnlich. Beide Länder trennen von der Größe gerade mal 45.000 km², also ungefähr das Bundesland Niedersachsen. Beide Länder haben mit neun (Deutschland) und sieben (Polen) die meisten Nachbarländer in Europa. Außerdem im Norden ein Meer als Grenze, im Süden mit der Hohen Tatra und den Alpen ein Hochgebirge. In Polen gibt es die Masurische Seenplatte, in Deutschland die Mecklenburgische Seenplatte. In Deutschland das Ruhrgebiet, in Polen das Oberschlesische Industriegebiet. Beide Länder haben 16 Bundesländer bzw. 16 Wojewodschaften und mit dem Rhein und der Weichsel jeweils einen Fluss, der historisch und national aufgeladen ist mit vielen Geschichten, Anekdoten und Liedern. Und beide Länder haben mit der Oder einen gemeinsamen Fluss, der ihre Grenze darstellt. Die mentale (und politische) Teilung in einen Ost- und einen Westteil des Landes spielte zu unterschiedlichen Zeiten in beiden Ländern wirtschaftlich wie historisch eine nicht unerhebliche Rolle. Die jährliche Durchschnittstemperatur (13,2 Grad in Polen und 13,7 Grad in Deutschland) ist ebenso fast identisch wie die Anzahl der Regentage im Jahr (8,7 bzw. 9,9). Wenn ich diese und andere Ähnlichkeiten deutschen Schülerinnen und Schülern erzähle, sind die meisten davon überrascht. Und gleichzeitig froh, wie gut man sich die Geografie Polens mit Hilfe der Geografie Deutschlands merken kann. Der Adler als Wappentier in der Fahne beider Länder tut dann sein Übriges, um auch bei Länderspielen die Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern auf der Brust der Spieler hervorzuheben. Aber auch die Unterschiede zwischen beiden Ländern kann man gut im Kopf behalten. So hat Deutschland mit 82 Millionen Einwohnern ungefähr doppelt so viele wie Polen. Und auch die Hauptstadt Berlin ist von der Einwohnerzahl ungefähr doppelt so groß wie das polnische Warschau. Deutschland hat vier Millionenstädte, Polen nur eine. In Polen gehören über 90% der katholischen Kirche an, in Deutschland nicht mal 30%. Außerdem kann sich die große Mehrheit der Polen im ganzen Land in der Regel untereinander sprachlich verständigen. Die unendliche Vielzahl deutscher Dialekte macht es den Deutschen da schwieriger. Das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt hat vor wenigen Wochen unter www.depolka.de eine neue, zweisprachige digitale deutsch-polnische Landkarte veröffentlicht, auf der sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Länder spielerisch entdecken lassen. Beim virtuellen Reisen durch beide Länder stoßen dort nicht nur Schülerinnen und Schüler auf viele Überraschungen. Über das Nachbarland. Aber auch über ihr eigenes...!
0 notes
Text
Wenn Literatur Brücken baut - Karl Dedecius zum 100. Geburtstag
„Die Literatur ist ein Fenster, durch welches ein Volk einem anderen in die Augen schauen kann“, so beschrieb einmal der bekannteste Übersetzer polnischer Literatur ins Deutsche, Karl Dedecius die Bedeutung von Literatur. Er selbst hat dieses Fenster zu Polen weit geöffnet, indem er unermüdlich und sein Leben lang die wichtigsten Dichter der polnischen Literatur des 20 .Jahrhunderts in Deutsche übersetzte. Wisława Szymborska, Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, Tadeusz Różewicz und viele andere mehr. Anfangs als reine Nebenbeschäftigung, im Feierabend, denn seinen Lebensunterhalt verdiente er durch seine Anstellung bei einem großen deutschen Versicherungskonzern. Später initiierte er die Gründung des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, das im Jahr 1980 entstand und im vergangenen Jahr 40 Jahre alt geworden ist. Dedecius war bis 1997 sein erster Direktor.
Ich lernte Karl Dedecius schon als Kind kennen, weil er mit meinem Vater, der Polonist war, befreundet war und ab und an zu uns nach Hause kam. Ein großgewachsener, schlanker Herr, der auf uns Kinder Eindruck machte mit seiner sonorigen Stimme und seinen auffallend höflichen Umgangsformen. Er machte vor allem meiner Mutter immer wieder Komplimente, weil sie so gut kochte. Dass Dedecius schon damals eine bedeutende Persönlichkeit der deutsch-polnischen Verständigung war, wussten wir nicht. Erst später, als ich selbst an seinem Institut unter dem nachfolgenden Direktor Prof. Dieter Bingen arbeitete und ich Dedecius ab und zu in seinem Haus in Frankfurt/Main besuchte, wurde mir bewusst, welch unglaubliches Lebenswerk er mit seinen Übersetzungen geschaffen hatte. Die Nobelpreise für Czesław Miłosz und Wisława Szymborska wären ohne seine vermittelnde Tätigkeit nicht zu stande gekommen. Seine 50 Bände umfassende polnische Bibliothek, die Jahrzehnte auf dem Schrankregal meines Vaters stand, gilt bis heute als Standardedition polnischer Literatur in Deutschland. Aber nicht nur die Fähigkeit von Dedecius, sowohl Form als auch Inhalt polnischer Poesie kongenial ins Deutsche zu übertragen, machten ihn zu einer – wenn nicht der - tragenden Säule der deutsch-polnischen Literaturbeziehungen des 20. Jahrhunderts. Durch sein Charisma und seine perfekte Zweisprachigkeit gelang es ihm, in Deutschland wie in Polen seine Zuhörer bei Lesungen derart in den Bann zu ziehen, dass sie selbst begannen, sich die Poesie polnischen Autoren zu erschließen. Karl Dedecius kam am 20. Mai 1921 als Sohn deutscher Eltern in der damaligen Vielvölkerstadt Łódź zur Welt, die zu jenem Zeitpunkt seit kurzem wieder Teil eines polnischen Staates war. Mit seiner Mutter sprach er deutsch, mit seinem Vater polnisch. Die Schulbank im Żeromski-Gynasium drückte er zusammen mit polnischen, deutschen, jüdischen, und französischen Mitschülern. Dem humanistischen Zweig angehörend übersetzte er damals schon die Lyrik Jan Kochanowskis aus dem Lateinischen. Im Zweiten Weltkrieg nahm er an der Schlacht von Stalingrad teil, in der er schwer verletzt wurde und in russische Gefangenschaft geriet. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ging Dedecius zunächst nach Weimar, flüchtete aber zwei Jahre später in die Bundesrepublik Deutschland, wo er neben seiner Tätigkeit bei einer Versicherung sich der Übersetzung polnischer Literatur annahm. „Erst als ich mich so eingerichtet hatte, und eine gewisse Stabilität im Leben erreichte, konnte ich anfangen, mich endlich auch mit Literatur zu beschäftigen, ausdauernd und systematisch, obwohl mein Beruf nebenbei gesagt gar nichts mit Schriftstellerei zu tun hatte.“, schrieb er später über diese Zeit. Der Dichter Tadeusz Różwewicz, mit dem Dedecius befreundet war, widmete ihm eigens ein Gedicht, in dem es heißt: „An den Übersetzer K.D. / Du übersetzt / mein gedächtnis / in dein gedächtnis / mein schweigen / in dein schweigen / […] verpflanzt / meine zunge / in eine fremde / dann/ tragen mein gedanken/ früchte / in deiner Sprache / T.R.“ Karl Dedecius, der „Europäer aus Łódź“, wie er seine Erinnerungen betitelte, starb 20216 in Frankfurt am Main. Am 20. Mai 2021 wäre er hundert Jahre alt geworden.
0 notes
Text
Wenn Politik sich korrupt anfühlt...
Eigentlich sollte ich mit meinem Land zufrieden sein. Zumindest was die Verbreitung von Korruption angeht. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International, der das wahrgenommene – nicht das tatsächliche - Korruptionsniveau im öffentlichen Sektor von 180 Staaten vergleicht, lag Deutschland 2020 stabil auf Platz 9. Dänemark führt die Statistik seit Jahren an, vor Deutschland liegen knapp die Niederlange und Norwegen. Damit könnte ich eigentlich leben. Polen liegt hinter Staaten wie Botswana, Costa Rica und Georgien auf Platz 45. Eher durchschnittlich, da ist noch Luft nach oben, sollte man meinen. Doch meine Zweifel an dieser Art Statistik wachsen immer mehr. Vor allem, wenn ich in meinem eigenen Land beobachten muss, dass immer häufiger korruptes Verhalten von Politikern aufgedeckt wird und politische Skandale mehr und mehr die Schlagzeilen der Medien prägen. In Deutschland rücken immer häufiger Abgeordnete des Deutschen Bundestags in den Fokus, weil sie ihre politische Macht mit finanziell lukrativer Lobbyarbeit für Firmen verknüpfen. Zuletzt legte ein Abgeordneter des Deutschen Bundestags sein Mandat nieder, weil er einen Menge Geld verdient hat mit der Vermittlung von Atemschutzmasken. Ein weiterer, der ebenfalls auf diese Weise sein Konto aufgebessert hat, trat lediglich aus der Fraktion aus, blieb aber im Bundestag. Rauswerfen kann man ihn nicht. Er muss das schon selbst veranlassen. Aber wer ist schon so gewissenhaft. Zu wenige, wir mir scheint. Leider sind das keine Einzelfälle. Eine andere, kürzlich verstorbene Abgeordnete erhielt vor einigen Jahren eine bestimmte Summe von einer aserbaidschanischen Firma für Lobbyarbeit, gleichzeitig stimmte sie als einzige Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gegen eine Forderung zur Freilassung politischer Gefangener in Aserbaidschan. Ein weiterer aufstrebender junger Abgeordneter stieg trotz lukrativer Lobbyarbeit für eine amerikanische Firma zum Spitzenkandidaten seiner Partei im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern auf. Und so richtig bestraft wird am Ende selten jemand. Und wenn doch, bestenfalls mit selbst auferlegtem Machtverzicht, weil der öffentliche Druck zu groß wurde. Aber was bedeutet schon Verlust von politischer Macht im Vergleich zu ein paar Millionen auf dem Konto? Auch der deutsche Verkehrsminister steht seit Monaten im Kreuzfeuer. Allerdings weniger wegen Korruption, als vielmehr wegen unterstellter Unfähigkeit. Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist. Unfähigkeit oder Korruption. Der Fairness halber muss man aber einräumen, dass es sich bei den ihre Macht missbrauchenden Politikerinnen und Politikern, – zumindest gefühlt – noch um eine Minderheit handelt, deren schlechter Ruf aber leider auf die Mehrheit abfärbt. Für Polen hoffe ich, dass es ähnlich ist, auch wenn sein Ranking im Korruptionsindex wesentlich schlechter ist als in Deutschland. Aber vielleicht sind wir auch nur einen Tick geschickter im Vertuschen. Oder, noch wahrscheinlicher, wir sind einfach größere Optimisten als die Polen. Wir glauben einfach mehr an das Gute in der Politik und sträuben uns, das Böse zu pauschalisieren. Sowas macht man einfach nicht. Die politische Correctness hat in Deutschland noch einen hohen Stellenwert. Das gilt für die Vergehen von Flüchtlingen, für die Verbrechen katholischer Würdenträger, und eben auch für das Fehlverhalten von Politikern. Wir halten den Ball flach. Aus Rücksicht gegenüber der Mehrheit der Ehrlichen, die es zweifelsohne gibt. Das würde das Ranking im Index von Deutschland und Polen erklären. Immerhin listet der Index Länder nach dem Grad auf, in dem dort Korruption bei Amtsträgern und Politikern wahrgenommen wird. Es geht also um die Wahrnehmung von Korruption. Nicht um das tatsächliche Vorhandensein. Da sind Optimisten klar im Vorteil. Vielleicht sollten die Polen einfach ihre Haltung ändern. Think positiv! Alles nicht so schlimm, das Gute wird siegen! Und Schwupps, zieht man im Korruptionsranking an Botswana und Costa Rica vorbei. Zugegeben, an den Realitäten ändert das gar nichts. Diese sind in Deutschland und Polen im Hinblick auf die herrschende Korruption auf politischer Ebene zunehmend unerfreulich, egal, wie man sie betrachtet.
0 notes
Text
Lasst uns nicht über Politik sprechen...
Als Deutscher, der nach Polen reist und dort häufig seine polnischen Freunde besucht (im Moment nur virtuell!), habe ich eine Sache schon früh und ganz schnell gelernt: Politik als Gesprächsthema unter Freunden ist in Polen kein gutes Thema. Es reicht eine kleine Bemerkung, eine unbedachte politische Positionierung, und schon kann es passieren, dass der gemütliche Abend völlig unbeabsichtigt aus den Fugen gerät. Gräben tun sich plötzlich auf zwischen Freunden, Familienmitgliedern, Verwandten, die man so nicht für möglich gehalten hat. Man selbst wird plötzlich zum staunenden Zuschauer einer Auseinandersetzung, die ganz schnell in emotional geführte Schlachten ausartet, die meistens keinen Gewinner hervorbringen, sondern nur frustrierte Verlierer.
Die Politik überlässt man lieber den Nachrichten und Talkshows im Fernsehen. Letztere haben in Polen übrigens einen anderen Charakter als in Deutschland. In Polen können sich Politiker vor laufenden Kameras noch so richtig streiten, sich in die Haare geraten, persönlich beleidigen. Man mag das gut finden oder nicht, auf jeden Fall ist was los auf dem Bildschirm und als Zuschauer weiß man am Ende jeder Diskussion ziemlich genau, welcher Teilnehmer welche Meinung hat. In Deutschland geschieht das meistens etwas langweiliger, oder, wie man in Deutschland sagen würde, sachlicher. Da sitzen vier Menschen im Halbkreis, grüßen sich höflich, tauschen Meinungen aus, beleidigen sich nur, wenn sie sich vorher sicherheitshalber schon mal für die gleich folgende Beleidigung entschuldigt haben. Die politische Landschaft in Deutschland ist nicht so sauber in zwei Hälften gespalten wie im Polen der vergangenen Jahre. Im Gegenteil, unsere bürgerlichen Parteien haben teilweise so ähnliche Standpunkte, dass man oft gar nicht richtig weiß, welcher Partei welcher Politiker angehört. Da vertritt die bayerische CSU (Schwesterpartei der CDU) mal den Umweltschutzgedanken (kein Atommüll in Bayern!), die Grünen flirten mit der Wirtschaft und die SPD… naja, die SPD sucht seit Jahren irgendwie nach Themen, die für sie übrig bleiben. Nur nach ganz rechts und ganz links hatten wir mal ziemlich klare Abgrenzungen in Bezug auf politische Standpunkte - aber auch die werden immer unsichtbarer. In Thüringen regiert bereits die Linke mit der SPD und den Grünen. Im Land Sachsen gelang es zuletzt nur mit Mühe und Not, die rechtspopulistische AfD-Partei von der Regierung fernzuhalten, indem sich CDU, SPD und Grüne zusammenschlossen. Kein Problem, so unüberbrückbar sind die Unterschiede ja nicht. Jeder kann also irgendwie mit (fast) jedem. Und da wäre es folglich ziemlich ungeschickt, sich in Talkshows zu beleidigen und Gräben aufzubauen, die einem später mal Leidtun könnten. Man weiß ja nie, wie die nächste Wahl ausgeht und wer mit wem dann doch am Tisch sitzen muss. Theoretisch ist das in Polen auch so. Doch eine große Koalition der regierenden PiS mit der KO kann ich mir irgendwie nicht so richtig vorstellen. Der Graben zwischen den Parteien ist nicht nur zu tief, sondern scheinbar unüberwindbar gefüllt mit jeder Menge Hass und Zorn.
Manchmal beneide ich die Polen um ihre klar aufgeteilten Lager. Der Wähler weiß, was und wen er wählt und muss sich nur entscheiden. In Deutschland fällt es selbst politisch interessierten Wählern häufig schwer, die wesentlichen Unterschiede in den Parteigrammen der sogenannten Volksparteien zu evaluieren. Und weil das so ist, kann man sich auch nicht so leicht streiten und aufeinander losgehen. Man muss die Unterschiede, die oft im Detail verborgen liegen, immer erstmal ausführlich erklären und herausarbeiten. Und das ist in Talkshows für den Zuschauer meist wenig unterhaltsam. Andererseits – man kann in Deutschland bei Freunde und Bekannten ziemlich risikolos über Politik sprechen. Am Ende weiß sowieso keiner, wer welche Partei wählt, sofern die Grenze nach ganz rechts und ganz links nicht allzu demonstrativ überschritten wird. So gesehen ist das politische Gespräch unter Freunden in Deutschland also gefahrloser als in Polen, aber auch nicht so spannend. Meine Freunde in Polen würden sagen: viel langweiliger, dafür ohne persönliche Konsequenzen…
0 notes
Text
Ein Leben für die Versöhnung
Das vergangene Jahr war ein trauriges Jahr für mich und meine Familie. Nicht nur, weil Covid unseren Alltag dominiert hat. Auch deshalb, weil mein Vater Heinz kurz vor Weihnachten verstorben ist. Der Tod eines Angehörigen ist immer traurig und für jeden ein Verlust, auch wenn der Tod zum Leben dazu gehört. Mein Vater war schon sehr krank und ist am Ende friedlich im Kreis der Familie eingeschlafen. Doch unserer Trauer folgte schon bald eine große Zufriedenheit und ein gewisser Stolz. Wir erhielten aus so vielen Ländern Ostmitteleuropas, insbesondere aus Polen, Beileidsbekundungen von Freunden und Bekannten meines Vaters, dass es uns schon erstaunte. Diese Briefe erinnerten uns daran, dass mein Vater – obwohl er als Deutscher in Oberschlesien nach dem Zweite Weltkrieg auch viel Unrecht erfahren hatte – sein ganzes Leben der Versöhnung und Verständigung zwischen Deutschland und Ostmitteleuropa, insbesondere mit Polen, gewidmet hat. Obwohl die ihm in Oberschlesien auferlegte Polonisierung und das Erlernen der polnischen Sprache nach 1945 in seiner Familie nicht freiwillig geschah, akzeptierte er schon als Jugendlicher den Lauf der Geschichte und suchte im Unglück seine Chance. Mit Begeisterung studierte er noch als Schüler die polnischen Klassiker und erlernte die neue Sprache mit einer Perfektion, die ihm 1951 eine Einladung des polnischen Premierministers Cyrankiewicz nach Warschau anlässlich des „Tags des Kindes“ einbrachte. Mein Vater wurde zum „Vorzeigepole“, dem es gelungen war, die neue Sprache und Kultur nicht nur als notwendiges Übel zu betrachten, sondern als Chance, seine Zukunft darauf aufzubauen. Gleich nach seiner Übersiedlung 1957 aus dem oberschlesischen Leschnitz ins damals westdeutsche Göttingen begann er an der dortigen Universität, seine Polnischkenntnisse an deutsche Studierende weiterzugeben. Neben der russischen Sprache lerne er später in Göttingen noch Serbokroatisch, ein wenig Ukrainisch und Türkisch. Als 1967 die Universität in Regensburg gegründet wurde, wechselte er an die dortige Slawistik und baute den Studentenaustausch mit Universitäten in der Ukraine, der Slowakei, Russland und Polen auf. Er verstand es, den jungen Menschen in Deutschland diese Länder in einer Art und Weise näher zu bringen, dass sie sich von seiner Begeisterung für die slawischen Sprachen und Kulturen anstecken ließen und häufig später selbst zu deren Vermittlern wurden. In Zeiten des Kalten Kriegs war dieses Engagement für Verständigung mit dem Osten keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, es sorgte bei vielen Deutschen auch für Unverständnis und Kopfschütteln. Die wenigsten interessierten sich für das, was hinter dem Eisernen Vorhang geschah, geschweige denn, was es dort zu sehen gab. Meinem Vater war das egal. Er ließ sich auch nicht von Visapflichten und anderen bürokratischen Schikanen davon abhalten, diese Länder mit Reisegruppen zu erkunden und aus dem Unbekannten Bekanntes werden zu lassen. Nicht zuletzt war es die Begeisterung meines Vaters für den Osten, die mich später selbst die russische und die polnische Sprache erlernen ließen und mich das Land Polen literarisch und publizistisch entdecken ließen. Freilich unter anderen, einfacheren Bedingungen. Heute gehört es schon fast zur Political Correctness, für Versöhnung und Verständigung zu werben. Umso mehr bewundere ich meinen Vater dafür, dass er gerade in so schwierigen politischen Zeiten etwas geleistet hat, was heutzutage fast schon zu Selbstverständlichkeit geworden ist. Er wurde zum Pionier einer Idee, die viel Weitblick und Optimismus erforderte. Die vielen Beileidskarten aus Polen und anderen Ländern Ostmitteleuropas zu seiner Beerdigung legen Zeugnis davon ab, wie sehr seine Arbeit Frucht getragen hat. Wie viele Menschen er zwischen den Ländern zusammengebracht, in manchen Fällen sogar wirklich versöhnt hat. Und ich fühle mich bestärkt in der Hoffnung, dass die Zukunft dieses Werk vorantreibt, in die richtige Richtung, und dass Deutsche und Polen sich irgendwann mal so selbstverständlich in die Augen blicken werden, wie es mein Vater sich gewünscht hat. Ein schöner Wunsch als Vorsatz, auch für das neue Jahr.
0 notes
Text
Das Jahr im Rückspiegel
Jedes Mal, wenn wieder ein Jahr zu Ende geht, überfällt mich eine eigenartige Form der Melancholie. Nicht, weil ich wieder ein Jahr älter geworden bin, eine Falte hinzugekommen ist, oder ein graues Haar. Nein, vielmehr denke ich über die Frage nach, ob dieses eine Jahr mich, aber auch mein Umfeld, meine Stadt, mein Land, ja vielleicht sogar die ganze Welt, ein bisschen besser gemacht hat - oder eher schlechter. Welche Erwartungen hatte ich am Anfang des Jahres? Welche haben sich erfüllt, welche nicht? Am Jahresende versuche ich einen Moment innezuhalten, zurückzublicken, Bilanz zu ziehen, um dann mit neuen Zielen ins neue Jahr aufzubrechen. 2020 Jahr lässt sich für mich mit zwei Verszeilen aus einem Gedicht von Wisława Szymborska zusammenfassen: „Zu viel ist geschehen, was nicht hätte geschehen sollen / und das, was hat kommen sollen, kam leider nicht“. Abgesehen vielleicht davon, dass ich mich gefreut habe, dass Amerika einen neuen Präsidenten bekommen hat. Dass sich ein Virus wie Corona über die ganze Welt verbreiten und sie in Angst und Schrecken versetzen kann, hätte ich bis vor einem Jahr nicht für möglich gehalten. Zu sicher, zu behütet vergingen die letzten Jahre. Es gab Kriege, unschöne politische Entwicklungen, grausame Verbrechen. Aber niemals hat ein Ereignis uns alle so direkt angefasst und in die Schranken gewiesen wie Corona. Niemals haben uns die Nachrichten so sehr persönlich betroffen wie im letzten Jahr. Und niemals waren die Folgen so grenzüberschreitend fatal für die Menschen. Beruflich, finanziell. Und gesundheitlich. Nur wenige haben von der Krise profitiert. Viele werden noch lange unter den Folgen leiden. Hoffnung hatten wir immer wieder, doch ihre Erfüllung lässt weiter auf sich warten. Bei uns in Deutschland hat die Krise eines deutlich gemacht: Im Krisenfall kann der Föderalismus Segen sein und Fluch zugleich. Die Verwirrung war groß, wenn Menschen von einem Bundesland ins andere gereist sind, und sich plötzlich anderen Corona-Regelungen ausgesetzt waren. „Entschuldigung, wie ist das hier mit der Maskenpflicht?“ Fast konnte man meinen, wer aus Niedersachsen nach Bayern reiste, reiste ins Ausland. Und umgekehrt. Auch jene Menschen, die zwischen Deutschland und Polen beruflich pendelten, wurden in den Strudel von Corona gezogen. Wer darf wann wohin reisen? Und wie kommt man gegebenenfalls wieder zurück? Ich glaube, das einzig beruhigende an Corona ist, dass alle Menschen von diesem Phänomen - mal mehr, mal weniger – irgendwie betroffen sind. Corona macht uns bewusst, dass Ländergrenzen, Politik, Sprachen, nur eine Ebene des Zusammenlebens bilden und für ein Virus ziemlich unerhebliche Kategorien sind. Ob man Reich oder Arm ist, dick oder dünn, gebildet oder ungebildet, homo oder hetero ist. Dem Virus ist es egal. Es greift den Menschen an. Und der Mensch muss reagieren. Als Individuum hat er keine Chance. Auch nicht als Teil einer einzelnen Nation. Corona hat uns als Weltgemeinschaft herausgefordert. Nicht als Deutsche, Polen, Amerikaner oder Australier. Vielleicht rücken wir dadurch wieder ein wenig zusammen, machen uns bewusst, dass wir globale Probleme nicht in Alleingängen lösen können. Das gilt für Corona ebenso wie für den Klimaschutz. Als ich im Herbst dieses Jahres mit einer deutschen Reisegruppe nach Polen fuhr, merkten wir plötzlich alle, dass es vor allem die Gesichtsmasken waren, die unsere beiden Nationen in diesem Moment so sichtbar verbunden haben. Dadurch, dass wir alle den Abstand wahren mussten, rückten wir irgendwie zusammen. Wir verstanden die Hinweisschilder und Hygienehinweise in Polen, ohne die Sprache zu verstehen. Und wir begegneten uns mit Verständnis und Toleranz, wenn mal etwas nicht so ablief, wie man es sich wünschte. Es war eine schöne Reise, und meine Gruppe kehrte mit Begeisterung aus Polen zurück. Trotz Corona. Vielleicht auch ein wenig wegen Corona. Wegen eines Virus, der uns alle ins gleiche Boot gesetzt hat. Und uns darüber nachdenken lässt, was wirklich wichtig ist im gegenseitigen Miteinander. Im eigenen Land. Aber auch über die Grenze hinweg. Diese Gedanken werde ich ins nächste Jahr mitnehmen. Und dem alten Jahr dafür dankbar sein.
0 notes
Text
Deutschland blickt auf Polen
Zugegeben, nicht alle Deutschen blicken jeden Tag auf das politische Geschehen in unserem Nachbarland Polen. Obwohl fast jede Woche in den Hauptnachrichten über die Demonstrationen gegen das neue Abtreibungsrecht oder auch das Veto Polens und Ungarns gegen den EU-Haushalt berichtet wird, nehmen manche Deutsche diese Nachrichten nicht anders zur Kenntnis als Nachrichten über einen Wirbelsturm in Mittelamerika. Die Mehrheit der Deutschen verfolgt das Geschehen in Polen aber mit großer Sorge, blickt ratlos auf die Politik der polnischen Regierung, die immer noch bei einem erstaunlich großen Teil der polnischen Bevölkerung auf Unterstützung stößt. Wir haben natürlich mitbekommen, dass die polnische Gesellschaft tief gespalten ist und dass der Widerstand und die Proteste gegen die Regierung von einem fast ebenso großen Lager mitgetragen werden. Vielen Deutschen ist auch bewusst, dass die Beurteilung politischen Geschehens in einem anderen Land – und sei es unser Nachbarland –von Außenstehenden zumindest schwierig ist. Wir leben nicht in dem Land, und wir kennen im besten Fall nur Ausschnitte gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Zurückhaltung ist also angesagt, nicht Besserwisserei. Und dennoch: Es fällt vielen Deutschen schwer zu verstehen, warum eine Regierung es überhaupt soweit kommen lassen kann, im 21. Jahrhundert die Rechte der Frauen in Bezug auf Abtreibung derart stark zu beschneiden, dass es zu Massenprotesten kommt. Oder ein Veto gegen die Forderung der EU einzulegen, den EU-Haushalt mit der Einhaltung von rechtstaatlichen Prinzipien zu verknüpfen. Sind diese Werte nicht eine Selbstverständlichkeit? Sollte die Rechtsstaatlichkeit nicht schon so weit politischer europäischer Konsens sein, dass ihre Verknüpfung mit dem Haushalt eigentlich gar nicht erst nötig sein sollte? Gerade im einen Land, dessen Kampf um freiheilich-demokratische Werte noch gar nicht so lange her ist, sollte man doch nicht nach so wenigen Jahren zu dem Schluss kommen, dass es früher besser war, als die Ablehnung der Rechtstaatlichkeit politische Doktrin war. Was ist aus jenem freiheitsliebenden Volk geworden, dem man hierzulande zwar nicht immer den gebührenden Respekt entgegengebracht hat, dessen historischem Kampf gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft und insbesondere dessen Beitrag zum Fall des Kommunismus man doch ehrliche Bewunderung und Anerkennung zollt? Ist Ungarn, der treue Komplize und Vorreiter bei der Umgestaltung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wirklich ein gutes Vorbild? Die polnische Regierung mag einiges geleistet habe, was besonders im Ausland wenig oder gar nicht wahrgenommen wurde. Viele ihrer Bemühungen, das alltägliche Leben der Menschen konkret zu verbessern, waren sicher anerkennenswert und wurden gerade von jenem Ausland nicht immer gewürdigt, das jetzt so erstaunt nach Polen schaut. Doch rechtfertigen diese Maßnahmen den mehr oder weniger offen gestalteten Umbau eines politischen Systems, dass sich die Bevölkerung des Landes – damals noch in großer Eintracht - erkämpft hat? Ich hoffe, diejenigen Polen, die das politische Vorgehen der polnischen Regierung gutheißen, wissen wirklich genau, was sie tun. Auch im Hinblick auf ihre Kinder und Kindeskinder. Doch als Außenstehendem überkommen einen Zweifel. Politische Deals zwischen Kirche und Regierung sind keine angemessenen Mittel zur Durchsetzung von Entscheidungen. Noch dazu, wenn es um so fundamentale und existentielle Fragen geht wie die Abtreibung oder die Rechtsstaatlichkeit, deren Unterwanderung solche Entscheidungen erst möglich macht. Kirche als politisches Instrument bedient am Ende nur diejenigen, die diese Politik teilen. Und grenzt jene aus, die anderer Meinung sind. Die politische Spaltung führt dann unweigerlich auch zur einer Spaltung der Glaubensgemeinschaft. Und damit zu einer Abspaltung und Distanzierung jener von der Kirche, die diese kirchliche Wertepolitik nicht mehr mittragen. Was bleibt am Ende übrig? Ein Scherbenhaufen wäre keine gute Grundlage, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Es braucht – ähnlich wie in den USA – in Zukunft eine Politik, die wieder eint. Eine Kirche, die Menschen unterschiedlicher politischer Ansicht - wieder zusammenführt. Ich bin mir sich, das würden sich die meisten Deutschen für Polen wünschen. Und vielleicht die meisten Polen ja sich selbst auch.
0 notes
Text
Die Geschichte meiner deutsch-polnischen Grenze
So ziemlich jeder Deutsche, der älter als 40 Jahre ist, weiß, wo er sich befand, als am 9. November 1989 die deutsche Mauer fiel. Im Auto, zu Hause, auf Dienstreise. Die Bilder von vor Glück weinenden DDR-Bürgern, die – vorsichtig und ungläubig – die innerdeutsche Grenze kurz vor Mitternacht überschritten und die ebenfalls überrascht schauenden Grenzsoldaten umarmten und küssten, haben sich eingebrannt in das kollektive Gedächtnis unserer Nation. Ich war damals 20 Jahre alt und verfolgte die Bilder im Fernsehen. Was habe ich damals gefühlt? Die historische Bedeutung dieses Ereignisses war mir nicht sofort bewusst. Aber ich hatte das Gefühl, bei etwas ganz Großem dabei zu sein. Vielleicht war das Gefühl am ehesten vergleichbar mit dem Stolz, als wir Fußballweltmeister wurden. Die ganze Welt schaute auf unser Land. Wir befanden uns alle in einer Art positiver Schock-Starre, voller Erwartung, was da noch kommen würde. Erst im Laufe eines Jahres wurde den Deutschen klar, was in dieser historischen Nacht geschehen war. Ein Nachbar, der sich bislang hinter einer unüberwindlichen Mauer versteckte, würde plötzlich gemeinsam mit uns in einem Haus wohnen. Ein Land, ein Volk. Und jetzt erst wurde einem bewusst, dass dieser Nachbar eigentlich nie ein richtiger Nachbar war, sondern schon immer ein Familienmitglied. Nur eben hinter einer Mauer wohnend. Und noch etwas war für uns ehemalige Westdeutsche geschehen: wir hatten mit Polen plötzlich einen neuen Nachbarn. Einen, der bislang doch ziemlich weit im Osten von uns gewohnt hatte, durch zwei Grenzen von uns getrennt, und den wir mal als Kinder einige Jahre vor dem Mauerfall nur mit ziemlich großen Mühen besuchen konnten. Als wir damals die Grenze zur DDR und kurz darauf die nach Polen passierten, erhielten wir immer klare Anweisungen von unseren Eltern: den Grenzbeamten der DDR ruhig ins Gesicht schauen, Pass an die Scheibe halten und: auf keinen Fall lachen! Das war das schwierigste. Nicht lachen. Immer, wenn man nicht lachen durfte, mussten wir als Kinder lachen. Aber an der Nervosität unserer Eltern merkten wir, dass es kein Spiel war. Und sicherheitshalber hatten meine Eltern immer auch ein paar Bierflaschen aus Bayern für die polnischen Grenzer im Gepäck. Das hat tatsächlich funktioniert. Zumindest bei den Polen. In dieser Zeit habe ich wirklich geglaubt, dass Bier wichtig sei, um nach Polen einreisen zu können. Obwohl sich Polen geografisch nicht bewegt hatte, rückte es durch die deutsche Wiedervereinigung spürbar näher an uns heran. Oder besser gesagt: wir an Polen. Am 14. November 1990, also fast genau vor 30 Jahren, wurde die Grenze zwischen beiden Ländern endgültig in einem Vertrag bestätigt. In den folgenden Jahren brauchten wir nur noch an der deutsch-polnischen Grenze den Pass vorzeigen und konnten ohne größere Hürden ein- und ausreisen. Klar, ein bisschen spannend war es immer noch. Würden sie unser Auto an der Grenze rausholen und kontrollieren? Oder uns lässig durchwinken? Und als Polen 2004 der Europäischen Union beitrat, war auch dieser letzte Nervenkitzel des Grenzübertritts verschwunden. Ich konnte laut lachend über die Grenze spazieren und niemanden hat es mehr interessiert. Die physische Grenze nach Polen verschwand nach und nach aus meinem Bewusstsein. Heute muss ich mir schon richtig Mühe geben, den genauen Grenzübertritt von Deutschland nach Polen überhaupt noch zu erkennen. Nur wenn ich das Schild „Rzeczpospolita Polska“ sehe, registriere ich den Eintritt ins Nachbarland. Oder ich merke es an den Benzinpreisen in Złoty. Aber sonst gibt es nicht mehr viel, was unsere Länder an der Oberfläche unterscheidet. Die Optik hat sich sehr angeglichen, die spezifischen Erkennungsmerkmale werden immer weniger. Nur im Kopf befindet sich bei manchen Menschen noch ein Grenzbalken. In Deutschland. Und in Polen. Die vollständige Öffnung dieser Grenze wird noch etwas dauern. Aber ich bin zuversichtlich, dass auch diese Barriere irgendwann der Vergangenheit angehört und wir auch im Kopf lachend diese Grenze passieren können.
0 notes
Text
Umweltschutz? Umweltschutz!
Es besteht wohl kein Zweifel, dass der Coronavirus unserer Erde im Hinblick auf den Umweltschutz gut tut. Delfine schwimmen wieder im Bosporus, und in Venedig ist die Lagune wieder klar. Doch wir werden uns wohl auch nach Corona verstärkt um unsere Erde kümmern müssen, wenn wir sie noch eine Zeit lang unser Zuhause nennen wollen. Wir sind uns aber uneinig darüber, welche Maßnahmen es braucht, die Zukunft unseres Planeten zu retten. Ein Virus, der die Welt lahm legt, ist sicher keine Lösung. Freitags einfach nicht in die Schule gehen, wie viele deutsche Jugendliche es letztes Jahr praktiziert haben, wird wohl nicht reichen. Und in Polen ist Umweltschutz auch kein Thema, das alle und jeden täglich beschäftigt. Laut Umfragen spricht in Polen nur jeder zehnte Befragte über Umweltschutz. Die Verschlechterung der ökonomischen Situation im Land ist – insbesondere durch Corona - Vielen ein viel wichtigeres Thema. Und dann gibt es ja noch die Sorge um das Bildungssystem, die Staatssicherheit, die Innenpolitik. Ja, Umweltschutz ist den Polen schon wichtig. Aber vieles andere ist, so scheint es mir, den Polen eben mindestens genauso wichtig.
Und wie sieht es aus, wenn es um den eigenen, persönlichen Beitrag zum Umweltschutz geht? Grundsätzlich spüre ich in Deutschland schon eine Tendenz dazu, dass viele, vor allem auch junge Leute, in gewissem Maße sogar bereit sind, persönliche Einschränkungen hinzunehmen. Im Augenblick sind die Einschränkungen ja verordnet. Aber was passiert, wenn Corona nicht mehr den Alltag diktiert?
In den Urlaub fahren mit einem Kreuzfahrtschiff? Ganz ehrlich, das ist mittlerweile ziemlich uncool in Deutschland und man sagt es besser nicht zu laut. Mit dem Flugzeug von Frankfurt nach Berlin fliegen? Wer es macht, fügt fast schon selbstverständlich eine entschuldigende Begründung hinzu. Häufig praktiziert man den Umweltschutz in Deutschland aber auch nur zur Gewissensberuhigung. Wer den ökologischen Fußabdruck gering halten möchte, und trotzdem fliegen will, leistet beispielsweise sogenannte Ausgleichszahlungen an Unternehmen, die dieses Geld in Umweltprojekte anlegen. Geht alles. Man muss halt nur etwas mehr bezahlen für den Dreck, den man verursacht. Auch in Polen hat die Fluggesellschaft LOT diese Art der Gewissensberuhigung im vergangenen Jahr eingeführt.
Manchmal bekommt der Umweltschutz in Deutschland auch kuriose Züge: so kann man beispielsweise Biogurken in Plastikverpackung kaufen. Das ist aber kein Hindernis, denn wir Deutsche vertrauen nahezu blind der Mülltrennung. Die Gurke wird gegessen, das Plastik kommt in die Mülltrennung. Alles bestens! Und wir trennen so ziemlich alles, was sich trennen lässt: Plastik, Papier, Glas, Biomüll, Batterien, Korken, Elektromüll und so weiter. Zurück bleibt ein gutes Gefühl. Dass Hundertausende von Tonnen unseres Plastikmülls alljährlich nach Südostasien verschifft werden, interessiert dabei kaum jemanden (und das Südostasien auch ein Teil unsere Planeten ist, hat sich irgendwie auch noch nicht herumgesprochen). Man hat sein Bestes getan, für den Rest ist die Politik verantwortlich.
Ich musste lachen, als ich auf dem Titelblatt dieser Zeitung vor einigen Monaten eine polnische Karikatur fand, auf der ein Mann seinem Nachbar zurief: „Ich trenne auch! Dieser Haufen Müll kommt in den Ofen, der andere in den Wald…“. Im Vergleich zu Deutschland ist die Mülltrennung in Polen noch im Anfangsstadium und sicher noch ausbaufähig. Während in Deutschland seit dem Jahr 2015 die Mülltrennung Pflicht ist, geben in Polen immerhin 45% an, ihren Müll zu trennen. „Wir haben so viele andere Probleme“, entgegnen mir viele Polen. „Mülltrennung muss man sich leisten können!“ Doch während in Deutschland die Politik vorangegangen ist und aus der Atomenergie ausgestiegen ist, sucht man in Polen noch nach den großen Lösungen. Viele Polen fragen sich jedoch, wie viel Sinn die private Mülltrennung denn macht, wenn landauf landab noch mit Kohle geheizt wird und Polen selbst beim Madrider Klimagipfel Mitte Dezember 2019 noch weitreichende Sonderregelungen in Bezug auf das Erreichen gemeinsamer Klimaziele erstritt. Doch es bleibt die Hoffnung, dass das sichtbar wachsende Bewusstsein der Polen für das Umweltproblem auch eine Chance ist, am Ende vielleicht bessere Lösungen zu finden als in Deutschland. Bei der Ausstattung mit öffentlichem WLAN hat Polen Deutschland ja am Ende auch überholt. Obwohl es viel später mit dessen Ausbau angefangen hat….
0 notes
Text
Denken oder Wissen
Viele Jahre lang veröffentlichte das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt eine Reihe mit Texten herausragender polnischer Wissenschaftler unter dem Titel „Denken und Wissen“. Der Titel dieser Reihe stand stellvertretend für die beiden wichtigsten Voraussetzungen von Bildung. Wer denken will, benötigt dafür Wissen. Wissen allein befähigt aber noch lange nicht zum Denken. Im Idealfall vermittelt die Schul- und Universitätsausbildung eines Landes den Schülerinnen und Schülern bzw. den Studierenden also beides. Denken. Und Wissen.
Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen und habe dort auch studiert. Später habe ich an einer Universität in Polen als Dozent gearbeitet. In den vergangenen Jahren habe ich viel über die methodischen Unterschiede an deutschen und polnischen Schulen und Universitäten gelernt. Und am Ende stehe ich immer wieder vor der Frage: was ist wertvoller? Denken? Oder Wissen?
Es ist beiden Ländern nicht gelungen, die Vermittlung von Denken und Wissen in einem Maße zu kombinieren, das als optimal zu bezeichnen wäre. In Deutschland habe ich immer sehr darunter gelitten, das unsere Ausbildung den Fokus auf das Denken setzte – ohne darauf zu achten, das nötige Wissen dafür zu vermitteln. Auswendiglernen ist im Deutschen Bildungssystem ebenso ungern gesehen wie Frontalunterricht. Die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Studierenden sollen Zusammenhänge herstellen können und literarische Werke interpretieren lernen. Ob sie diese Werke, über die sie reden sollen, auch tatsächlich gelesen haben, scheint manchmal Nebensache. Die wichtigste Vokabel deutscher Schulbildung ist aktuell der Begriff „Kompetenzorientierung“. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, Lösungen für Probleme zu finden, die sie im Kern aber nicht verstehen, weil ihnen häufig das notwendige Wissen dafür fehlt. Sie sollen den Charakter von Goethes Werk beschreiben können, ohne wissen zu müssen, in welcher Epoche der Autor gelebt hat.
In Polen dagegen habe ich die umgekehrte Erfahrung gemacht. Sowohl in der Schule, als auch an der Universität steht bis heute die Vermittlung von Wissen im Vordergrund. Polnische Schüler und Studenten sind den Deutschen meistens überlegen, wenn es darum geht, angeeignete Kenntnisse wiederzugeben. Das gilt für historisches Wissen ebenso wie in Bezug auf die Kenntnisse von Inhalten literarischer Werke. Man könnte es so auf den Punkt bringen: Deutsche Schüler denken viel und wissen wenig. Polnische Schüler wissen viel, können dieses Wissen aber häufig nicht für problemorientierte Lösungen einsetzen.
Ich gebe mal folgendes Beispiel: In einer Kurzgeschichte des deutschen Schriftstellers Wolfgang Borchert über den Zweiten Weltkrieg kann das „grüne Kaninchenfutter“ für die Hoffnung – Grün ist die Farbe der Hoffnung - eines kleinen Jungen gedeutet werden, nach dem Tod seines Bruders durch einen Bombenangriff neuen Lebensmut zu schöpfen. Während in Polen bei einer Prüfung eher nach der Farbe des Futters gefragt wird – um zu testen, ob der Student oder die Studentin den Text gelesen hat -, fragt man in Deutschland lieber, warum das Futter grün ist. Ein deutscher Student bzw. Studentin lernt, eine solche Frage beantworten zu können, ohne den Text womöglich gelesen zu haben.
Ich bin unschlüssig, welche Variante ich für die bessere halte. Allerdings habe ich mit Anerkennung zur Kenntnis genommen, dass die polnischen Schülerinnen und Schüler nicht nur bei der Lesekompetenz, sondern auch in den Naturwissenschaften und in Mathematik bei der letzten Pisa-Studie an den deutschen Schülerinnen und Schüler vorbeigezogen sind. So schlecht scheint das alte Schulsystem in Polen also nicht gewesen zu sein. Ob die Wiedereinführung der achtjährigen Grundschule hier eine weitere Verbesserung schafft, wird sich erst langfristig zeigen. Es wird am Ende darauf ankommen, einen guten Kompromiss zu finden zwischen zentralgesteuerten, ideologiefreien Lehrplanvorgaben und gleichzeitig kreativen, modernen Lernmethoden der Lehrerinnen und Lehrer. Wenn Schülerinnen und Schüler aber zu Lernsoldaten in diesem System degradiert werden, wird der Mangel an Denkpotential später einmal schwerwiegende Folgen haben.
0 notes
Text
Kleiner Berg mit großer Geschichte
Schon von weitem sichtbar erhebt sich der Sankt Annaberg aus der oberschlesischen Ebene in der Nähe von Oppeln. Mit seinen gerade mal 400 Metern Höhe ist er eigentlich kein richtiger Berg, eher ein Hügel. Doch seine symbolische Bedeutung für die Region reicht weit über seine reale Größe hinaus. Der St. Annaberg steht im Zentrum oberschlesischer Identität, er thront geradezu majestätisch über den Feldern des Oppelner Landes. Und so ist es nicht verwunderlich, dass er vor fast 100 Jahren auch im Zentrum jener Kämpfe stand, in denen deutsche und polnische Oberschlesier im dritten Schlesischen Aufstand – der zweite fand vor genau 100 Jahren statt - um die Aufteilung des Gebietes nach dem Versailler Vertrag stritten. Wer den Annaberg in Besitz nahm, nahm Oberschlesien in Besitz.
Damals endeten die Schlachten allerdings ohne Sieger. Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission für Oberschlesien beendete den Dritten Schlesischen Aufstand am 5. Juli 1921 mit einem Waffenstillstandsabkommen und das Oppelner Land blieb bis 1945 beim Deutschen Reich, während der größte Teil des Kattowitzer Industriegebietes an Polen fiel. In den 1930er Jahren schlugen die Nationalsozialisten ein 27.000 Menschen fassendes Amphitheater in den Berg. Außerdem erbauten sie ein prachtvoll mit Mosaiken ausgestaltetes Mausoleum, in dem Sarkophage von 51 deutschen Gefallenen in der Schlacht um den Annaberg aufbewahrt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Mausoleum gesprengt, und die Polen bauten ein neues Denkmal zur Erinnerung an ihre Aufständischen. Das Amphitheater wurde dem Verfall preisgegeben. Sowohl im Dritten Reich, als auch im kommunistischen Polen wurde der St. Annaberg zum Symbol des heldenhaften Kampfes für das jeweilige Vaterland verklärt.
Wenn ich heute den St. Annaberg besuche, trage ich seine Geschichte in mir. Nicht nur seine politische Geschichte. Auch ein Stück meiner Familiengeschichte, die eng mit dem Berg verbunden ist. Mein Vater wurde 1936 unweit des Berges geboren und wuchs bis zu seiner Übersiedlung nach Deutschland 1957 in Leschnitz (Leśnica) auf, das am Fuße des Berges liegt. Die Not nach dem Krieg war groß und die ländliche Bevölkerung meist arm. Als das deutsche Mausoleum 1945 gesprengt wurde, sammelte er die Mosaiksteine auf, welche die Sprengung hinterlassen hatte, um sie gegen etwas Essbares im Dorf einzutauschen. Dabei war es ihm egal, ob diese Steine deutscher oder polnischer Herkunft waren. Es ging ums Überleben. So wie die meisten Oberschlesier sich in der Geschichte der Region schwer taten, sich für die eine oder andere Nationalität zu entscheiden. Aber entscheiden mussten sie sich immer. Einige Oberschlesier sollen vor der Abstimmung 1921 sogar noch Briefe an den Internationalen Gerichtshof geschrieben haben mit der Bitte, dass man ihnen doch mitteilen möge, welcher Nationalität sie denn nun eigentlich zuzuordnen seien.
Heute, fast 100 Jahre nach dem Dritten Schlesischen Aufstand, braucht es diese Entscheidung nicht mehr. Die meisten Menschen in der Region um Oppeln betrachten sich als Oberschlesier und erinnern sich der nationalen Kämpfe von damals mit gemischten Gefühlen. Es zieht sie weder zum dem polnischen Heldendenkmal auf dem Berg, noch ins alte deutsche Amphitheater. Sie pilgern vielmehr über den Kreuzweg auf dem Berg zur Heiligen Anna Selbdritt in der berühmten Wallfahrtskapelle, die Pilger aus ganz Schlesien anzieht. Der Glaube fragt nicht nach der Nationalität. Er vereint deutsche, polnische und oberschlesische Gebete in einer gemeinsamen Sprache des Herzens.
Ich besuche die Wallfahrtskirche auf dem St. Annaberg manchmal mehrmals im Jahr. Wenn ich in der Bank sitze, schließe ich die Augen und lasse im Rückblick die Geschichte des Berges und die Biografie meines Vaters eins werden. Spüre eine besondere Bindung in mir zu diesem Ort, dieser Region. Überlege, ob sich die Wallfahrtskirche, das Amphitheater und das polnische Heldendenkmal etwas zu sagen haben auf diesem kleinen Berg, der sie auf engem Raum zur Dreisamkeit zwingt. Vielleicht schweigen sie. Vielleicht aber haben sie sich abgefunden mit ihrem Schicksal und ihren Rollen in der Geschichte. Atmen in Frieden deutsche, polnische, oberschlesische, und auch katholische um den Berg wehende Luft.
0 notes
Text
Als Künstler einmal online und zurück
Das Wort „Online“ könnte zum Wort des Jahres 2020 gewählt werden. Irgendwie hat Corona die ganze Welt „online“ geschickt. Konferenzen, Parteitage, Gottesdienste, Einkaufen, alles online. Sogar die Pornofilme haben Hochkonjunktur, weil der analogen Liebe enge Grenzen gesetzt sind. Nur schauen, nicht anfassen, sozusagen. Sicher ist sicher.
Die digitale Welt ist wie ein Tsunami über die analoge hinweggerauscht, und manch einer findet sich ziemlich ratlos in dieser neuen Welt wieder, vor allem, wenn er jetzt „online“ statt „offline“ sein Geld verdienen muss, wie viele Künstlerinnen und Künstler. Mit großem Interesse habe ich von dem ersten Online-Theater gelesen, das kürzlich in Łódż gegründet wurde mit dem Namen 1*Teatr Online. Auch viele Opern werden in Polen inszeniert und im Fernsehen ausgestrahlt. In Deutschland haben ebenfalls viele Theater Online-Vorstellungen im Angebot, sogar mit Live-Chat. Die Überwindung von Grenzen „online“ ist übrigens eine großer Vorteil, mal abgesehen von der Sprache. Aber die ist in der Oper vielleicht auch nicht so wichtig…
Aber wie gut ist dieser Ersatz tatsächlich? Ist es eine Notlösung, bis die Zeiten wieder normal werden? Oder werden wir uns alle daran gewöhnen, und uns irgendwann nicht mehr vorstellen können, wie es war, als wir alle zusammen, Stuhl an Stuhl gereiht, nebeneinander im Theater saßen und dem Spiel lauschten? Ein polnischer Journalist hat die Wirkung dieser „Online-Kunst“ mal als „Kunstgenuss mit Kondom“ bezeichnet. Ich fand das originell, obwohl es zugegeben eine arg männliche Sicht auf das Problem ist. Da hinkt sein Vergleich. Aber irgendwie hat er auch Recht. Ein Theaterstück oder eine Oper im Fernsehen anzuschauen ist wirklich ziemlich unsexy. Es fehlt der direkte Kontakt zwischen Publikum und Künstler, also genau jene Verbindung, die über Jahrhunderte jene einzigartige Energie kreierte, die die Faszination von Kunst ausmachte.
Die Verlockung, während eines Theaterstücks im Fernsehen mal kurz um- oder schlimmstenfalls auszuschalten, wenn es mal langweilig wird, ist groß. Oder die Pausetaste zu drücken, um was essen zu gehen, oder auf die Toilette. Online-Kunst bietet allzu viele Fluchtmöglichkeiten, die der analoge Kunstgenießer nicht hat. Und nicht braucht. Weil er sich auf das Gesamtkunstwerk einlassen muss, von Anfang bis Ende, um sich dann eine Meinung zu bilden.
Auch als Schriftsteller muss ich mir Gedanken machen über die Zukunft. Wann werde ich wieder vor einem Publikum in Deutschland stehen können, um es mit meinen Lesungen für Polen zu begeistern? Wann werde ich wieder in neugierige Augenblicken können, die jede Nuance meiner Texte in ihrer Mimik widerspiegeln? Wann wieder das Lachen des Publikums hören, seinen Applaus (sorry, wer klatscht schon vor dem Fernseher?), seine Live-Kommentare? Wann werde ich wieder aus Gesprächen nach der Lesung erfahren können, was besonders gut war, was weniger? Und kann ich überhaupt in die schale Linse einer Kamera lesen und mir dabei vorstellen, es sei ein echtes Auge? Fragen über Fragen, und ich fürchte, die Antwort macht mir Angst. Ich kann es nicht. Und noch schlimmer: ich will es nicht. Ich will nicht online gehen mit meiner Kunst, mich in einem leeren Zimmer zur Schau stellen für ein paar Liebhaber, die vielleicht nur aus Mitleid ein Ticket lösen – und nach zwei Minuten mit gutem Gewissen zu einem packenden Krimi wechseln. Zumindest will ich das nicht für immer, weil ich so Vieles vermisse würde. Und ich hoffe, es wird dem Publikum nicht anders gehen. Ich hoffe, es wird auf uns Künstler ebenso warten wir wie wir auf das Publikum. Hoffe, dass es erkennt, dass das Neue nicht immer das Bessere sein muss. Das dass Modernere nicht immer das Attraktivere ist.
Ich hoffe, dass, wenn die Zeit es wieder zu lässt, wir uns alle wieder in den Theatern, Musikhallen und Literaturhäusern dieser Welt wiedertreffen werden, erleichtert darüber, dass wir wieder offline gegangen sind. Dass wir unsere Häuser wieder verlassen konnten, um Kunst zu erfahren, physisch, mit allen Sinnen, eleganter angezogen als sonst, und in Vorfreude auf das, was uns erwartet. Künstler wie Publikum. Vielleicht brauchte es das Online, um uns bewusst zu machen, wie schön es ist, offline zu sein. Egal, ob in Deutschland oder Polen.
0 notes
Text
Ein Stimmungsbarometer für die Nachbarschaft
Eigentlich ist ein Barometer ein Messgerät zur Bestimmung des Luftdrucks. Der Begriff leitet sich von den griechischen Begriffen für „Schwere, Gewicht“ und „messen“ ab. Vor wenigen Wochen erschien das „Deutsch-Polnische Barometer 2020“, das freilich weniger den Luftdruck über Deutschland und Polen misst, als vielmehr die Stimmung zwischen den Menschen beider Nachbarländern - und das schon seit 20 Jahren. Was verbinden die Polen mit Deutschland und die Deutschen mit Polen? Empfinden sie Sympathie oder Abneigung für einander? Oder welche Probleme gibt es zwischen den Nachbarn, was belastet sie? Zugegeben, ich hielte ein Fieberthermometer für das bessere Gerät, um die gesellschaftliche Temperatur zwischen beiden Nachbarländern zu messen, aber Fieberthermometer klingt vielleicht allzu sehr nach Krankheit. Dann doch besser ein Gerät aus der Wettervorhersage.
Die Herausgeber des deutsch-polnischen Barometers sind das Instituts für Öffentliche Angelegenheiten, das Deutsche Polen-Institut, die Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. Seit nunmehr 20 Jahren untersuchen sie die gesellschaftliche Wetterlage zwischen beiden Ländern. Und es hat sich viel verändert. Zum Guten. Wie zum weniger Guten. So hat es mich doch sehr überrascht, dass 30% aller Assoziationen der befragten Polen mit Deutschland Begriffe sind wie Aggressor, Faschismus oder dem Zweiten Weltkrieg. Sind diese Assoziationen wirklich diejenigen, die wir als Deutsche ins Nachbarland ausstrahlen? Oder malt unser Nachbarland sich selbst dieses Bild von uns, aus welchen Gründen auch immer? Ehrlich gesagt hat mich das traurig gemacht. Umso mehr, als sich das Bild der Deutschen von Polen zunehmend zum Positiven gewendet hat. Musste ich in Deutschland vor einigen Jahren noch mit Vorurteilen gegenüber Polen kämpfen, die sich nicht zuletzt in gar nicht lustigen Polenwitzen widerspiegelten, zeigen nun erstmals seit Erscheinen des Deutsch-Polnischen Barometers mehr Deutsche Sympathie für die Polen (55%) als umgekehrt Polen Sympathie für die Deutschen (42%). Das scheint doch erstaunlich. Kriminalität und Unordnung verbinden lediglich noch 4% der Deutschen mit Polen, stattdessen verbinden 29% der Deutschen Polen mit Kultur, Tourismus und Sprache. Wer hätte das gedacht? Man mag kein Fan von Statistik sein, aber in der Praxis werden einige der Zahlen des Barometers bestätigt. So bezeichnete das Polnische Fremdenverkehrsamt das Jahr 2019 als Rekordjahr, was den Besuch deutscher Touristen in Polen angeht. 6,7 Millionen Deutsche sind im vergangenen Jahr nach Polen gereist! Es hat sich also in Deutschland herumgesprochen, welch großartige touristische Attraktionen sich in unserem Nachbarland befinden und manch einer mag sich denken: „Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Gute ist so nah!“. Überraschend war für mich auch, dass die Polen bei den Beliebtheitswerten in Deutschland gleichauf mit den Briten liegen (55%) und noch vor den Amerikanern (50%) rangieren. Das Image der Deutschen hingegen hat in Polen etwas gelitten. Mit 42% liegen sie weit hinter den US-Amerikanern (56%) , Briten (50%) und auch hinter den Franzosen 46%. Da tröstet es nur wenig, wenn viele der befragten Polen Deutschland eher neutral als ablehnend gegenüberstehen.
Wie dem auch sei. Irgendwie hat es den Anschein, dass von Osten nach Westen ein Hochdruckgebiet herüberzieht, das den Deutschen Lust auf Polen macht, während die Polen zunehmend Wolken aus Deutschland heraufziehen sehen. Noch ist es kein Unwetter, und die Zahlen mögen nur eine Momentaufnahme sein. Immerhin sehen 72% der Polen die deutsch-polnische politische Wetterlage als positiv. In Deutschland sind es hingegen nur 55 Prozent, wobei in beiden Ländern die Debatte um die Reparationszahlungen als eines der am meisten belastenden bilateralen Probleme angesehen wird.
Auch wenn die Zahlen implizieren, dass die Deutschen keineswegs mehr auf die Polen herabschauen, im Gegenteil, die Augenhöhe längst erreicht ist und man sogar ein wenig bewundernd auf die touristische Schönheit des Landes blickt, während Polen die Deutschen zunehmend kritischer sehen, sind es eben doch nur Zahlen. Ich habe mich als Deutscher in Polen immer wohl gefühlt, und obwohl ich die Geschichte zwischen beiden Ländern immer im Gepäck trage, habe ich sie in Polen nie als Belastung empfunden. Der Blick in den Rückspiegel ist wichtig, für Deutsche und für Polen, und wer ihn vergisst, fährt gefährlich. Ebenso, wer nur nach hinten schaut. Der Blick durch die Frontscheibe nach vorne ist aber der wichtigere. Er weist in die Zukunft. Und im Gegensatz zum Wetter können wir selbige beeinflussen.
0 notes
Text
Die Fremde zu Gast
In einem kleinen Park in der Innenstadt von Lublin machte ich kürzlich eine erstaunliche Entdeckung. In einem der Bäume dort hing ein vollbesetztes Storchennest mit eigenartigen Bewohnern aus Plastik. Neben einem schönen polnischen Storch saßen dort ein Pelikan, ein Wellensittig, ein Papagei und ein Tukan. Alle schienen in Eintracht die Aussicht von dem hohen Baum auf die Stadt zu genießen. Die Installation wurde von Anna und Irena Nawrot im Jahr 2019 im Rahmen des Kunstfestivals „Otwarte Miasto“ errichtet, welches das Motto trug: „gość-inności“. Der Storch hatte also Gäste, wahrscheinlich aus Asien, denen er sein Nest anbot als Raststätte und Unterkunft. Und er hatte keine Angst vor den grellen Farben der Federn seiner Gäste, ihren ungewohnten Ernährungsgewohnheiten, und er fürchtete sich scheinbar auch nicht, sich mit Krankheiten anzustecken. Ob seine Gäste allerdings aus Asien geflohen sind, oder nur sich nur auf Urlaubsreise befinden, ging aus der Installation nicht hervor. Vielleicht ist es auch nicht wichtig, warum man jemandem eine Zuflucht anbietet. Hauptsache, man bietet sie an. Ehrlich gesagt würde ich lügen, wenn ich beim Anblick dieses Nestes nicht sofort an die Flüchtlingspolitik in Polen gedacht hätte. Und sicher war dieser Bezug auch Hintergedanke der Installation. Fremde als Gäste aufnehmen - eigentlich ein schöner Brauch. Zum Problem wird er nur, wenn die Fremden plötzlich doch etwas zu fremd sind und man Angst hat, mit ihrem Anderssein zu Hause nicht klar zu kommen. Die polnische Regierung hat immer wieder betont, dass man ja Ukrainer bei sich aufnehme, weil sie eben nicht ganz so fremd seien wie beispielsweise dunkelhäutige Flüchtlinge aus Asien oder Afrika. Diese ins Nest aufzunehmen weigert sich die Regierungspartei beharrlich, und die Meinungen darüber gehen in Polen weit auseinander. Noch jedenfalls sitzen in den polnischen Nestern nur Störche, und das wird vermutlich noch eine Zeit lang so bleiben. Umso interessierter schauen viele Polen auf die vielen, mittlerweile bunt besetzten, Nester in Deutschland. Mir persönlich gefällt diese Vielfalt, denn sie gibt die Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch, zum Kennenlernen, zur geistigen Horizonterweiterung. Allerdings wird dieses Idealbild von Gastfreundschaft zum Problem, wenn es eng wird in den Nestern, und der Storch plötzlich bedrohlich an den Rand des Nestes gedrängt wird und in seinem eigenen Zuhause seine Federn mangels Platz und Rücksicht nicht mehr zur Geltung bringen kann. Ich glaube, viele Ausländer schauen im Moment auf die deutschen Störche, wie es ihnen ergeht mit ihren Gästen. Und manch ein regierungstreuer Pole würde vermutlich seine Schadenfreude kaum verbergen, wenn die ersten deutschen Störche aus ihren Nestern fallen. Ich gebe zu, dass auch ich mir manchmal Sorgen mache um mein Land. Darüber, wann unsere Gastfreundschaft an ihre Grenzen gelangt. Viele Deutsche teilen mit mir diese innere Zerrissenheit zwischen dem Gebot der Gastfreundschaft und der Gefahr des Verlustes der heimischen Atmosphäre. Doch keine Flüchtlinge bei sich aufnehmen, weil man gleich Angst vor Überfremdung hat? Das scheint mir keine Lösung, vor allem nicht für ein Land wie Polen, welches berühmt dafür ist, Gastfreundschaft zu gewähren – und zwar allen, nicht nur bestimmten Gästen (was wäre, wenn an Weihnachten ein dunkelhäutiger Obdachloser in Polen um Einlass bäte? Würde man das überzählige Gedeck verleugnen?) Für Polen wünsche ich mir im Sinne der Installation von Anna und Irena Nawrot mehr Mut zum Fremden, weil das Fremde immer auch eine Bereicherung für das eigene Zuhause sein kann – selbst wenn es manchmal ungewohnt und neu ist. In Deutschland dagegen ist es an der Zeit, sich die Gäste sorgfältiger anzuschauen. Wer braucht wirklich einen Platz im Nest, wem muss wirklich geholfen werden? Wer nur kommt, um die schöne Aussicht aus einem deutschen Nest zu genießen, missbraucht das Recht der Gastfreundschaft für eigene Zwecke. Das ist gefährlich. Für den einheimischen Storch. Und für das Land an sich. Gastfreundschaft jedem zu gewähren, hilft weder dem Gast, noch dem Gastgeber, wenn am Ende das ganze Nest herunterfällt. Sie aber keinem zu gewähren, führt zur Stagnation im eigenen Heim. Vielleicht sollten Deutsche und Polen sich in dieser Frage einfach mal gegenseitig beraten.
0 notes
Text
Fußballnostalgie statt Euphorie
Eigentlich sollte ich längst vor dem Fernseher sitzen und die Fußball-Europameisterschaft 2020 anschauen. Mit Chips auf dem Tisch, Fähnchen und Schwarz-Rot-Goldener Schminke im Gesicht (und ich sollte sicherheitshalber auch weiß-rote Schminkstifte in der Schublade haben, falls Deutschland in der Vorrunde scheitert und Polen weiterkommt…) Es hätte so schön werde können, wenn am 12. Juni Anpfiff gewesen wäre! Aber das Fußballfest wurde abgesagt und jetzt werden im deutschen Fernsehen stattdessen Länderspiele aus alten Zeiten übertragen. In einem Programm habe ich sogar Ausschnitte aus der berühmten Wasserschlacht zwischen Deutschland und Polen 1974 gesehen, als Polen aufgrund eines Wolkenbruches sehr unglücklich mit 1:0 gegen Deutschland im Halbfinale ausgeschieden ist und Deutschland im Finale gegen Holland Weltmeister wurde. Der deutsche Fußballstar Paul Breitner hat später mal gesagt, Polen sei die beste Mannschaft des Turniers gewesen. Sowohl bei der Olympiade 1972, als auch bei der Fußballweltmeisterschaft 1974 arbeitete mein Vater als Übersetzer für die polnische Fußballnationalmannschaft. Als Deutscher vor dem Krieg in Oberschlesien geboren, musste nach dem Krieg die polnische Sprache erlernen. Und er lernte sie so gut, dass der Deutsche Fußballbund ihn Anfang der 1970er Jahre, als er schon in Regensburg wohnte, als Übersetzer anfragte. So begleitete er einige Spiele der polnischen Mannschaft sowohl 1972, als Polen Olympiasieger wurde, als auch bei der WM 1974, bei der Polen den dritten Platz gewann (lange Zeit habe ich mich gewundert, warum Polen damals für den dritten Platz eine Silbermedaille erhielt, bis ich herausfand, dass der Drittplatzierte tatsächliche eine versilberte Medaille erhielt – im Gegensatz zur reinen Silbermedaille des Zweitplatzierten). Als Dankeschön für seine Übersetzerdienste erhielt mein Vater damals vom polnischen Trainer Kazimierz Górski wertvolle Trikots und Hosen der polnischen Weltstars, die ich noch heute zu Hause habe. So zum Beispiel ein Originaltrikot der polnischen Stürmerikone Wlodzimierz Lubański, das mir Lubański im Jahr 2006 nochmal höchstpersönlich bei einem Besuch bei ihm in Belgien signiert hat. Außerdem eine Originalhose des polnischen Jahrhundertfußballers Kazimierz Deyna, sowie zahlreiche von den Spielern signierte Wimpel und Anstecker von der Olympiade 1972 und der WM 1974.
Als die WM 1974 in Deutschland stattfand, war ich gerade fünf Jahre alt und noch im Kindergarten. Als mein Vater das Trikot von Lubański und die Hose von Deyna voller Stolz nach Hause brachte, war ich sehr enttäuscht. Lubański? Deyna? Die Namen sagten mir nichts. Ich brauchte Trikots von Franz Beckenbauer oder Sepp Maier. Damit hätte ich angeben können im Kindergarten. Aber die Polen kannte in meinem Kindergarten keiner.
Heute bin ich mächtig stolz auf diese Utensilien. Die Spieler von damals haben längst Kultstatus in Polen. Wenn ich das Trikot oder die Hose in Polen vorzeige, spüre ich förmlich, wie sehr sich polnische Fußballfans diese glorreiche Zeit ihrer Mannschaft zurücksehnen. Während in Deutschland fast jede Generation ihre eigenen Weltmeister hatte, gibt es in der polnischen Fußballgeschichte nur eine Mannschaft mit Kultstatus. Das macht sie so einzigartig. Allerdings muss ich feststellen, dass die jüngere Generation in Polen die meisten Spieler von damals kaum noch kennt. Heute träumen sie von einer Karriere á la Lewandowski. Letzterer hat mir auch ein Trikot mit Widmung geschenkt. Darum beneiden mich die deutschen Jugendlichen wesentlich mehr als um das Trikot von Lubański.
Mein Vater hat übrigens noch Jahre lang in dem Trikot von Lubański selbst Fußball gespielt. Manchmal spielte er gemeinsam mit dem polnischen Dichter Tadeusz Różewicz, der mit unserer Familie eng befreundet war, gegen meinen Bruder und mich. Für uns Kinder waren das echte Länderspiele. Papa im polnischen Trikots mit dem polnischen Gast gegen uns zwei deutsche Kinder. Auf ein echtes Länderspiel zwischen beiden Deutschland und Polen werde ich wohl noch etwas warten müssen. Daran ist aber nicht der Regen schuld, sondern Corona.
0 notes