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H&M LOVES MEXICO
Doch liebt Mexico auch H&M?
Überall in der Altstadt von Mexiko Stadt sind sie zu sehen: Große Billboards bewerben nicht wie sonst üblich mit hellhäutigen Menschen Waren, sondern mit Models, deren Haut in Oliv- und Bronzetönen schimmert und deren zeitgeistige, Fast-Fashion Outfits nur so gespickt sind mit Mode-Referenzen aus den Barrios Bravos, den Vierteln der ‚kleinen Leute’ von Mexiko. In diesen als gefährlich geltenden Vierteln, wohin sich nur die wagen, die entweder dort geboren wurden oder aber Künstler und Freaks sind, entstehen viele von Kreativität und leiser Ironie sprudelnde Trends. Mal sind es mit viel Strass und Glasklunkern gefertigte Heiligenaufnäher, mal gigantische Sombreros ganz besonders ambitionierter Mariachis, mal ein Mädchenunterhemd, was die Jungs sich einen Sommer lang anziehen. Diese Trends verbreiten sich im ‚Barrio’ wie Lauffeuer. Dazu kommen die Chicano Looks von den Verwandten in den USA oder ein Look aus dem Norden, wo die Guarachero Tribal Musiker die Idee hatten, sich Cowboystiefel anfertigen zu lassen, deren Spitzen bis zum Knie aufragen. Tribal-Boots heißen die Dinger jetzt und sind irgendwas zwischen einem Scherz und einem ernsthaftem Fashionstatement. Auf einem der Plakatwände wird eine am Boden posierende Ghetto-Schönheit von Männern, die diese Stiefel tragen, umringt. Am unteren Rand prangt die Signatur des aus Stockholm stammenden Klamottengroßfabrikanten Hennes&Mauritz. Über das Bild läuft ein Banner, auf rotem Grund steht „H&M LOVES MADERO“. „Die Großkonzerne der Modewelt haben also Mexikos Herz entdeckt“ denke ich und grinse leicht unwohl.
Das Zentrum und geheime Herz der Stadt, mit ihrer einst prächtigsten Straße, die Avenida Madero, ist seit Jahren eine offene Wunde. Der White Flight, der kollektive Abzug der Oberschicht aus den Zentren hin zu den Vorstädten, fand ähnlich wie in Detroit, New York und Los Angeles auch in der Ciudad de México statt. Ohne das Kapital der Reichen verarmte der 1535 von den spanischen Konquistadoren auf den Ruinen der Aztekenstadt Tenochtitlán aufgebaute Stadtkern. Prachtbauten standen leer oder wurden besetzt, Parkanlagen verkamen und Räuberbanden machten sich breit. Das große Erdbeben von 1985 gab dem Zentrum den letzten Todesstoß. Doch während sich die Oberschicht in den Gartenstädten am südlichen und westlichen Rand der Stadt einrichtete, sich eine Hochstraße bauen ließ, die ganze Stadtviertel zerschnitt damit die Herrschaften trockenen Fußes an jedes Ende der Stadt kamen, erblühte dort, unter den Vergessen rund um die Avenida Madero eine populäre Kultur, die seinesgleichen sucht. Doch als Konterreaktion auf Trump und die anderen ethnopluralistisch-kulturrassistische Ideen befürwortenden Spießer, ist Ethno-Marketing wieder einmal sehr angesagt. Hollywoodfilme werden mit Afro- und Latino-Amerikanern besetzt, Museen setzten Schwerpunkte auf Kunst von Menschen mit Migrationshintergrund, die aufgrund jahrelanger Exklusion erst einmal mühselig aufgetrieben werden müssen und auch die Mode setzt, so wie es der italienische Konzern Benetton während der neunziger Jahre bereits tat, auf Gesichter in deren Hautfarbe und Physiognomie sich die ganze Welt spiegelt.
Nun haben die Scouts von H&M also die Protagonisten dieses einsamen Herzes von Mexiko Stadt und ihre Art sich zu kleiden für sich entdeckt und eröffnen ihren Flagshipstore mitten auf der Avenida Madero. Eine weitere Eroberung dieses Megakonzerns, dessen Schachzug sicher viele Nachahmer finden wird, steht also an. Diesmal ist es die Erschließung einer neuen Käuferschaft, deren Potential von den Industriellen des Landes, aus Ignoranz oder aber Angst vor deren möglichen, politischen Macht, über Jahrhunderte übergangen wurde. Eine Tugend der ersten Phase des Kapitalismus ist es, so sagt man, einen Demokratisierungsprozess herbeizuführen. Dieses Klientel der kleinen Leute, welche die Hälfte der Bevölkerung des Landes ausmacht, hat nach China, das bereits seit Jahren billigen Trash aller Art nach Mexiko importiert, nun auch der mehr als 204 Mrd. Euro schwere Konzern aus Stockholm sowie sein spanischer Rivale Zara, für sich entdeckt. Hier bestätigt sich eine einfache Wahrheit über den Kapitalismus: das Kapital kennt keine Klassen und Hautfarben, keine Klassenkämpfe und soziokulturellen Unterschiede – es kennt nur Konsumenten, Produzenten und die Suche nach neuen Märkten.
So war es damals, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, ein cleverer Zug von Henry Ford, seinen Fließbandarbeitern einen besseren Lohn zu zahlen als andere Industrielle jener Zeit es taten. Dadurch hatten die Arbeiter die Möglichkeit, das Produkt, welches sie zusammenbauten, auch selber zu kaufen – die Tin Lizzy und vieles mehr. Auch eine Arbeiterin in China verdient heute einiges mehr als ihre Vorgängerinnen in den chinesischen Sweatshops der neunziger Jahre – was zu einem stärkerem Konsum dieser Menschen der aufstrebenden Mittelschicht führte und was sie nach der Logik des Kapitalismus freier und gleicher machte... mit wem? Mit uns Westlern, die wir uns über die Produkte, die wir kaufen, definieren.
Die Kids, die in diesem nagelneuen H&M arbeiten, rufen die Erinnerung an die ersten H&M Filialen in Deutschland wach und die Attitüde der dort arbeitenden Pionierverkäufer dieses neuen Konzeptes von Mode, welches wir heute als Fast-Fashion kennen. Viele junge Menschen konnten es sich nun leisten von ihrem Taschengeld Klamotten zu kaufen und hatten so die Chance, ihrer sich entwickelnden Identität die passenden Hüllen zu verleihen. Die jungen Verkäufer dieser Tage schienen allesamt lokale Starlets zu sein und mit dem Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ihre Arbeit verrichteten. Als wären die mit Neonlicht beschienen H&M Filialen die Warhol’sche Factory, in der statt kaufwütiger Teenager, Models und Freaks, Künstler und Musiker sich die Klinke in die Hand gaben. Es scheint als lebten diese ersten H&M Pioniere von Mexiko Stadt ein ähnliches Gefühl, wie ihre Kollegen in Deutschland vor drei Dekaden.
Die dunkle Wahrheit und die Scham bei derlei Ketten shoppen zu gehen, kam erst später. Die mühseligen Wiederbelebungsversuche einer zu Grunde gegangenen Modeindustrie in Deutschland, gleicht angesichts Opponenten wie den weltweit operierenden Fast-Fashion Konzernen einem Kampf gegen Windmühlen. „Dagegen kommst Du als kleiner, lokal produzierender Betrieb einfach nicht an.“ erklärt mir Daphne Correll, die gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester im New York der Nullerjahre das Label CORRELLCORRELL aufgezogen hat. „Da bleibt nur die Nische und ein Klientel aus Friends und Family, sowie ein Netz aus handverlesenen Boutiquen überall in der Welt, die einem die Treue schwören. Zwei junge Verkäufer in dem taufrischen H&M auf der Avenida Madero, Jorge und Mario, sagen ohne zu Zögern ihre Meinung zu ihrem Arbeitgeber. Sie seien Modenarren, lesen schon seit Jahren Zeitschriften und Blogs und glauben fest an einen Wandel in dem Modebewusstsein der Mexikaner. Auf die Frage, ob die Mexikaner noch viel zu lernen hätten in Sachen Mode, gibt der einundzwanzigjährige Mario, dessen Ohrläppchen ein bis auf die Schulter hängender Strassohring ziert, zurück: „Es sei weniger Mode, was die Mexikaner zu lernen hätten, sondern eher ganz generell ihre Identität zu finden und diese anhand von Mode und anderen Dingen auszudrücken.“ Er lächelt breit – es gefällt ihm sehr, dem neuem Klientel seines Arbeitgebers bei dieser Identitätsfindung behilflich zu sein. Später einmal möchte er Stylist werden, aber erst einmal hätte er noch viel zu lernen und das Mitarbeitertraining, welches die Storemanager der neuen Filiale mit jeder neuen Kollektionen veranstalten, helfe ihm dabei.
Aber kann eine neue Identität über die Mode entstehen? Mit der Angst, sich über Mode zu definieren, ist in Mexiko jede soziale Schicht auf ihre Weise befallen. Diese Verunsicherung begann mit den Konquistadoren, die in ihren schimmernden Rüstungen hoch zu Ross den Menschen wie Götter erschienen. Dann wurde den Menschen der ‚Neuen Welten’ die europäische Mode einfach aufgedrängt und was nicht passte, wurde passend gemacht. Indios der verschiedenen ethischen Gruppen wurden ihrer Tüchern entblättert – deren Muster, Webtechnik und geometrische Schnitte und Formen einem Jahrhunderte andauernden Mantra, einem inneren Dialog des Webers mit der Natur, seinen Ahnen und dem Kosmos entsprangen. Nur um sie daraufhin in Hemden und Hosen, Blusen und Röcke aus groben, weißem Baumwolltuch zu stecken. Auf Rebellion folgte Inversion und der wörtlich eher kleine Mann Mexikos – mit schwarz-leuchtenden Augen, störrischem Haar und einer Hautfarbe, die von einem goldenem oder olivfarben Schimmer unterlegt ist – bemüht sich umso mehr, auszusehen wie diese einstigen Invasoren. Manchmal tut er dies in Form einer Persiflage, als hämischer Abklatsch der führenden Klassen, manchmal in einem ernsthaften Bemühen um soziale und gesellschaftliche Anerkennung.
Und sie versuchen möglichst „weiß“ zu sein. Denn die Reichen Mexikos, sind meistens etwas hellhäutiger und größer gewachsen. Sie halten viel auf ihre Wurzeln, die bis in die Alte Welt zurückreichen, auch wenn es Fakt ist, dass die mexikanische Bevölkerung heutzutage zu 99% aus Mestizen besteht – also immer wechselnden Varianten von Ethnien, die aus der Durchmischung der über hundert indigenen Gruppen Mexikos, den Nachkommen afrikanischer Sklaven, chinesischer Wanderarbeitern und Europäern entstanden sind. Mischungen, die so viele, ungewöhnlich schöne Menschen hervorbringen, das es einem den Atem verschlägt, wenn man durch Mexikos Städte zieht. Doch diese Schönheit findet keine Reflexion – die Models mexikanischer Werbekampagnen – egal, ob sie Milch, Babynahrung, Autos oder Regierungsprogramme bewarben– waren bis dato durch die Bank weg hellhäutig. H&M LOVES MADERO, so Trivial, wie es einem in der westlichen Welt erscheinen mag, hat einen wahren Durchbruch bewerkstelligt. Es ist ein Weckruf für all diejenigen, die sich bisher im Licht des öffentlichen Interesse nicht erkennen konnten.
Der Fotograf, den die schlauen PR Strategen von H&M zur Erschaffung von H&M LOVES MADERO gewinnen konnten, ist der junge Fotograf Dorian Ulises López Macías. Er hat die letzten Jahre damit verbracht, Mexikaner der unteren sozialen Schichten zu porträtieren, auf der Suche nach einer ganz eigenen, mexikanischen Schönheit. Dieser Portfolio López Macías, der stark an August Sanders Portrait Atlas „Menschen des 20. Jahrhunderts“ während der Weimarer Zeit erinnert, wurde kürzlich in die Kollektion des New Yorker Whitney Museum aufgenommen. Auf die Frage, welche Menschen er persönlich mit dieser Kampagne erreichen wollte, schreibt der junge Fotograf „es ist eine Botschaft für Verbraucher und Nichtverbraucher; für die Kreativen in Agenturen und die nationale Modegilde, für alle: Wir müssen die Vorurteile, die wir im Zusammenhang mit Schönheit haben, beiseite legen und lernen uns endlich selbst wertzuschätzen.“
Gibt es dann tatsächlich eine neue mexikanische Identität? Ist es an der Zeit, es einmal allen Mexikanern anstatt nur dem 1% der Gewinner des Landes zu überlassen festzulegen, was die Charakteristika und das Lebensgefühl eines Mexikaners ausmacht? Kann so etwas Unmoralisches wie die Mode – denn die Mode hat bekanntlich keine Moral – diesen Wandel einläuten? „Dieser neue Mexikanismus in der Mode“ so López Macías „oder besser die Neuentdeckung der eigenen Identitäten kommt inzwischen von überall her – und verbreitet sich gerade innerhalb der Generation der Millennials wie ein Lauffeuer.“ So ist die ‚mestizaje’ also die Vermischung von Ethnien etwas, so der Fotograf, das sowohl auf menschlicher wie auch auf ideologischer Ebene einmal angestoßen, von diesem Punkt aus immer weiter gehen wird. Ob die Mode weiterhin diese Entwicklung weiterhin begleiten wird, oder nächstes Jahr doch lieber wieder blasshäutige Models über ihre Laufstege schickt steht in den Sternen. Vielleicht ist das aber auch egal, vielleicht ist es an der Zeit dem Modediktat den Rücken zuzukehren, und in der Wahl der Garderobe die eigenen Kreativität walten zu lassen.
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BRIEFE WIE GESPENSTER
An Franz K., Mexiko Stadt, 27. September 2017
Die Antischlafmittel Am Sonntag, als wir mit unserem Vehikel über die Bergkette fuhren, die diese Stadt wie eine eiserne Kralle umfasst, dachte ich plötzlich an Dich und all die unbeantworteten Briefe, die ich von Stadt zu Stadt, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mit mir herumschleppte, gemeinsam mit ein paar andern Sentimentalitäten, die sich über die Jahre in meinen Mantel eingewanzt haben. Das letzte Mal, als wir an einem kalten Tag im Februar spazieren gingen, schriebst Du mir, dass es Dir dort – als Du mit Deinem seltsam hölzernen, den dürren Körper leicht vornüber gebeugten Gang, neben mir über das Kopfsteinpflastert liefst– dass Dir dort so laufend plötzlich klar geworden ist, was wir bräuchten. Als Du mir dann schriebst, waren einige Tage vergangen, was Du begründetest: „solche Dinge müssen liegen und sich ausstrecken.“ Und weiter: „Wenn wir miteinander reden: die Worte sind hart, man geht über sie wie über schlechtes Pflaster. Die feinsten Dinge bekommen plumpe Füße und wir können nichts dafür.“ An Karneval hätte ich zu Dir nach Prag kommen sollen, aber ich ließ Dich sitzen, ohne ein Wort von mir.
Mein langes Schweigen, während dessen Deine Briefe, das Gegenüber missend, zu einem nach innen geführten Dialog wurden, hat einen tiefen Grund. Ich weiß noch immer nicht, wie ich es Dir schreiben soll, erschwerend kommt hinzu, dass ich seit nun gut zehn Jahren kein Schreibwerkzeug in der Hand gehalten habe und seit zwanzig derer kein Bogen Briefpapier mehr auf meinem Schreibtisch lag und darauf wartete sich zu füllen. Du musst wissen, mein Lieber, die Menschen heute haben aufgehört an das Wort zu glauben. Ich weiß, es wird Dir schwer fallen dies zu glauben, warst Du doch immer einer, dessen Hände ohne Füllfeder oder Griffel in der Hand sich leer und sinnlos anfühlten. Nur wenige Stunden ertrugst Du so, bevor du zurück in deine Kammer eiltest und die wenigen Brocken Lebens, die Du gelebt hattest in diesen Stunden, in endlos sich aneinanderreihenden Buchstaben und feucht leuchtender Tintenschrift zu Papier brachtest. Die Menschen heute haben nicht nur begonnen, das geschriebene Wort zu vergessen, fließende Texte sind zu zerstückelten Fragmenten geworden, unfähig, das vom Korrespondenten gesagte in einem Satz aufzunehmen und zu beantworten, werden die angesprochenen Punkte und gestellten Fragen kopiert, in rote Farbe gefärbt oder die Schrifttype auf Fett gestellt und in den eigenen Brieftext eingefügt. Aber auch das gesprochene Wort, einst ein verästeltes Buschwerk, welches sowohl reißende Dornen als auch wohlriechende Blüten hervorzubringen verstand, hat begonnen jämmerlich zu verkümmern.
Du schriebst einmal, dass Briefe ein so herrliches Antischlafmittel seien. „In welchem Zustand kommen sie an! Ausgedörrt, leer und aufreizend, eine Augenblicksfreude mit langem Leid hinterher. Während man sie selbstvergessen liest, erhebt sich das bisschen Schlaf, das man hat, fliegt durch das offene Fenster weg und kommt lange nicht zurück.“ Heute sind deine aufreizenden Antischlafmittel zu einer Art neurotischem Schluckauf verkommen. Doch das ist nicht alles, denn die Sätze haben begonnen zu kümmerlichen Parolen zu zerbrechen, und Wörter haben begonnen sich in kleine Illustrationen zu verwandeln, welche in grotesker, so scheint mir, Infantilität eine artikulierte Beschreibung nachahmen. Ich habe mich versucht, diesem Sprachgemetzel so weit es geht zu entziehen, mein lieber Freund, aber besser als jeder andere wirst Du wissen, dass es zwei braucht, um eine Korrespondenz zu beginnen. Selbst wenn einer der beiden über die Zeit zu verstummen beginnt, hallen seine Worte doch noch eine Weile lang durch den gedanklichen Raum, der sich zwischen den beiden aufgetan hat. Der letzte Brief, geschrieben ohne übermäßige Hoffnung auf eine Antwort, schließt dann den Kreis zum ersten. Die Verbindung wird gekappt, der gedankliche Raum wieder abgesperrt, und das, was bleibt sind seine dinglichen Segmente, die Briefe. Wo bleiben die Briefe von heute? wirst Du fragen. In Kalifornien. Dort lagern sie in hünenhaften Rechenmaschinen, die eng an eng stehend ganze Silos füllen, wo sie schweigend auf ihren Einsatz warten.
Zeitenchaos Hiermit komme ich zu dem nächsten Problem und einen Schritt näher zu der Wahrheit, die ich Dir in diesem Brief auftischen möchte, welche sich jedoch noch wie ein scheues Kind auf einem Familienfest unter dem mit weißem Leinen betuchten Tische verborgen hält. Geben wir diesem Wahrheitskind noch etwas Zeit, denn die Wahrheit ist heute, in dieser Welt, in die es mich verschlagen hat, ein scheues Wesen. Lass mich Dir von der Zeit erzählen, welche in dieser neuen Welt aufgehört hat in dem großem, linearem Strom zu fließen, den wir Menschenkinder einst in allem was wir taten spürten, und so für gegeben hielten. Die Zeit, lieber Franz, hat den Verstand verloren. Richtungslos schwirrt sie durch die Gegenwart ohne Sinn und Zweck, und ist, so fürchte ich, im Begriff sich ganz und gar aufzulösen. Die Menschen, schwach im Denken geworden, wiegen sich in der Gewissheit, die Zeit fließe immer noch in der beschleunigten Form, in der sie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, Du erinnerst Dich, zu strömen begann. Was ihre abgestumpften Sinne –denn auch die Sinne verkümmern wenn sie nicht mehr von beschreibenden Worten umhegt werden– nicht zu erfassen im Stande sind, ist das an Stelle des schnellen Strömens der Zeit, eine Zerstreuung der selben eingesetzt hat. In diesem Zeitenchaos haben die Menschen aufgehört zu sterben, mein lieber Franz, sie verenden schlicht in ihren gealterten Körpern, welche sie wie einen Tempel ihrer hegten und pflegten. Denn es gibt nichts mehr, was Bedeutung hat in dieser Welt, lieber Franz, und so ist der Tod, schon immer ein Angstgespenst, heute schier unmöglich geworden. Als die Zeit begann auseinanderzudriften, beschloss ich mein eigenes Sterben anzuhalten, bis die Dinge wieder eine Ordnung zu bilden beginnen. Ich weiß, „Betrug“ wirst Du schreien, und wütend auf Nietzsches letzten Menschen verweisen, der ebenfalls nicht die Größe zum Sterben besaß. Doch es ist anders, lieber Franz, lass mich versuchen, Dich zur Einsicht zu führen.
Du schriebst mir damals im kalten, Prager Februar Du hättest Angst bekommen, dass ich Deinen Brief nicht verstehen werde „was will er?“ schriebst Du würde ich Dich fragen, wenn Du mir diesmal „ohne Schnörkel und Schleier und Warzen“ schreibst. Und weiter: „Wenn wir miteinander reden, sind wir behindert durch Dinge, die wir sagen wollen und nicht so sagen können, sondern so herausbringen, daß wir einander mißverstehen, gar überhören, gar auslachen (ich sage: der Honig ist süß, aber ich sage es leise oder dumm oder schlecht stilisiert und Du sagst: Heute ist schönes Wetter. Das ist schon eine schlechte Gesprächswendung), da wir das fortwährend versuchen und es niemals gelingt, so werden wir müde, unzufrieden, hartmäulig.“
Hartmäulig sind die Menschen nicht, sie plappern vielmehr in einem fort, doch vermeiden sie es eine Aussage zu treffen. Denn das Menschengeschlecht dieser Tage ist wahrhaft süchtig nach der Anerkennung der anderen. „Das kenne ich!“ wirst Du sagen, und unwohl werdend an Deinen Herrn Vater denken, doch so ist es nicht heute, lieber Franz, es ist vielmehr so, dass die Menschen die Anerkennung aller wollen. Sie sind regelrechte Vielfräße geworden, wenn es zu der Anerkennung kommt und so hat man sich im Schriftverkehr auf ein simples Zeichen geeinigt – eines, das bereits die alten Römer in den Kolossen verwandten, den empor gestreckten Daumen.
Jetzt magst Du sagen, dass dieser ständige Seitenblick auf die anderen auch einfach ein Zeichen von Sensibilität und einer gewissen Schüchternheit sein könnte. Dir war das Schreiben immer leichter als das Reden gefallen, nicht nur wegen Deiner Scheu und deines harten Urteils gegenüber dem eigenen Auftreten. Mit harten Blicken verfolgtest Du jede Bewegung, jede Geste, jedes Wort, das Du hervorbrachtest und urteiltest brutaler als ein Theaterkritiker es mit dem Debüt eines Jungschauspieler nicht hätte tun können. Doch noch etwas stand Dir im Wege bei diesen Mensch-zu-Mensch Begegnungen. Der Hunger, mit dem Du Dein Gegenüber beobachtetes, es geradezu verschlangst, um Deine Figuren und Charaktere in dies menschliche Gebärden einzukleiden, auf das sie zu Menschen werden. Kein Wunder, dass Du dich verzetteltest bei diesem Spiel, durstig danach die Kammer zu verlassen und die Sinne zu berauschen mit der Welt dort draußen, abseits Deines so geliebt verhassten Schreibtisches.
Doch sobald Du Dich dort draußen auf den Straßen der Stadt, konfrontiert mit der realen Welt, wiederfandst konntest Du, und sei es ums Verrecken nicht ablassen von dem permanenten Registrieren und Verarbeiten dessen, was dort auf Dich einwirkte. Du wirst es nicht gerne hören, mein Freund, doch lebtest Du in der jetzigen Zeit, hättest Du einen Apparat, der all diese mühselige Registrierungsarbeit für Dich erledigen würde. Es ist eine Brille, unscheinbar und leicht, dessen Gläser wie nach innen, wie nach außen gerichtete Leinwände sind. Es ist ein wahres Wunderwerk aus dem Tal der Silikone im Westen Amerikas, dort wohin es unserer Tage die Leichtgläubigen verschlag, die sich einbildeten dort in der Ferne von einem niemand zu einem jemand zu werden. Dieses Google Glass, so nennen es ihre Erfinder, hätte Dir wahre Dienste geleistet, lieber Franz. Denn es taugt nicht nur zur minuziösen Aufzeichnung der Außenwelt, sondern es kann diese auch von einem Moment auf den anderen ‚abschalten’ indem die Innenseite der Brillengläser sich in einem Wimpernschlag verdunkelt und zu einer Leinwand wird. Diese Leinwand zeigt Dir von da an nunmehr die Dinge, die Du bereits kennst, und die Dich davor schützen an deine Grenzen zu gelangen, was die Verarbeitung des Neuen und Fremden betrifft. Stelle es Dir wie das warm glühende Gesicht einer Mutter vor, das inmitten eines Meeres von Fremden auftaucht, in dem sich ihr Kleinkind allein auf der Straße stehengelassen wiederfindet. Es ist wie der Panik Room, der in das Haus eines allzu gotteslästerlichen Schreiberlings eingebaut wurde und diesen vor den Attacken der Fundamentalisten schützt – doch ich will Dich nicht zu sehr verwirren, lieber Franz, all das sind Dinge, die erst viel später geschahen, und so kurz umrissen, ich sehe es ein, wenig Sinn zu ergeben scheinen.
In demselben Brief schriebst Du dann noch: „Wenn wir es zu schreiben versuchten, würden wir leichter sein, als wenn wir miteinander reden, - wir könnten ganz ohne Scham von Straßensteinen und »Kunstwart« reden, denn das Bessere wäre in Sicherheit. Das will der Brief. Ist das ein Einfall der Eifersucht? Ich konnte nicht wissen, daß Du auch die letzte Seite lesen wirst und so habe ich dieses Eigentümliche hergekritzelt, obwohl es nicht zum Brief gehört.“
Der so an den Rand gekritzelte, nur halb sichtbare Text, das stets ein wenig verlegen daherkommende Post Skriptum oder sogar die um Faktizität ringende Fußnote haben in ihrem plauschenden Tonfall sehr viel gemein mit der Art, wie die Menschen heute kommunizieren. Es ist eine tastende Art der textlichen Manifestation, eine raupengleich nach allen Richtungen den zu begehenden Boden abtastende Bewegung textlicher Korrespondenz – jederzeit bereit einen Rückzieher zu machen und unter dem Gebrauch allerlei bildlichen Ornamentgewirkes, den eben in die Welt gesetzten Gedanken hinterrücks um die Ecke zu bringen. Die Sabotage an dem eigenen, zu Papier gebrachten Gedanken zieht aber auch das Gegenüber in die Mitschuld und begründete Zweifel an der Aufmerksamkeit des anderen werden laut. Doch wozu dann die Korrespondenz, wozu der Verkehr, wenn es doch nicht darum geht, weder den einen, noch den anderen zu ergründen, sein Denken und Fühlen in Erfahrung zu bringen? Dein Februar-Brief schloss mit der Zeile: „Wir reden drei Jahre miteinander, da unterscheidet man bei manchen Dingen nicht mehr das Mein und Dein. Ich könnte oft nicht sagen, was aus mir oder aus Dir ist, und Dir wird es vielleicht auch so gehn.“
Langeweile Erinnerst Du Dich daran, was Benjamin über die Langeweile sagte? Er sagte sie sei „ein Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.“ Doch ist dieser Traumvogel eine äußerst scheue Kreatur der sowohl Lärm als auch Hektik zuwider sind. Zum Träumen muss man im Stande sein, die Lücke im Kopf wahrzunehmen, die sich auftut, wenn man sich gründlich dem Nichtstun und Nichts-Denken hingegeben hat. Sobald sie sich auftut, muss man hineinspringen, in diesen Schlund des Fantastischen. Dort unten wartet der Traumvogel auf dich, und gemeinsam zeichnet ihr Pläne für Dinge die du, zurück an der Oberfläche deiner selbst, erfahren möchtest. Ganze Konstrukte utopischen Denkens lassen sich dort unten, in dem Zenote der Langeweile ersinnen. Die Langeweile, so Benjamin, ist ein „warmes, graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist.“ In dieses Tuch hüllen wir uns, wenn wir Träumen, so Benjamin. Verfehlen wir die Kopf-Lücke jedoch, die uns Zugang zu dem Ort der Langeweile gewährt, verlieren wir die „Gabe des Lauschens“. Ohne die dunkle Komplizenschaft mit dem Traumvogel verflachen unsere Erfahrungen, werden zu Hologrammen und endlosen Spiegelungen der Erfahrungen anderer, welche wir über die Bildschirme unserer Kommunikationsgeräte gegen Geld erwerben können. Unsere Träume sind schon lange nicht mehr eigenhändig errichtete Konstrukte, sie sind vielmehr zu den Schatten der einstmals großen, gelebten Träume geworden, dessen Matrize, wieder und wieder verwendet, blass und durchsichtig geworden sind. Über die duftende Langeweile schriebst Du mir im Sommer:„Es ist eine wunderliche Zeit, die ich hier verbringe, das wirst du schon bemerkt haben und ich habe so eine wunderliche Zeit gebraucht, eine Zeit, in der ich stundenlang auf einer Weinbergmauer liege und in die Regenwolken starre, die nicht weg wollen von hier oder in die weiten Felder, die noch weiter werden, wenn man einen Regenbogen in den Augen hat oder wo ich im Garten sitze und den Kindern (besonders eine kleine blonde sechsjährige, die Frauen sagen sie sei herzig) Märlein erzähle oder Sandburgen baue oder Verstecken spiele oder Tische schnitze, die - Gott sei mein Zeuge - niemals gut geraten. Wunderliche Zeit, nicht?“
Geister Wenn Du wüsstest, mein lieber Freund, wie ich in dieser neuen Zeit die Sinnlichkeit vermisse. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass ich einen parfümierten Brief öffnete, auf dessen feinfiebrigen Papier die runde Handschrift einer Frau zu Papier gebracht ist. Heute haben die Frauen aufgehört zu duften und auch den Liebesbotschaften ist die sinnlich-haptische Komponente abhanden gekommen. Es gibt sie noch, die Liebesbriefe, gewiss, doch flickern sie heute über kleine Taschenmonitore, welche die Menschen mit sich herumtragen und in die sie alle paar Minuten hineinschauen, wie es unserer Tage die Gottesgläubigen mit ihren kleinen Handbibeln taten. Neugierig schaue ich den Liebenden über die Schulter, wenn sie in der Untergrundbahn oder in den Caféhäusern auf ihre Handmonitore starren und verzückt zu lächeln beginnen. Die Botschaften der Liebenden hasten wie eh und je zwischen dem einem und dem anderen hin und her. Doch wurden die heiligen Dinge der Liebe –einst unter peinigenden Ängsten dem anderen abgerungen, und dem Briefe gleich einer Reliquie beigelegt– heute abgeschafft. Keine Haarlocke wird heute mehr abgeschnitten, um den Liebesten als Totem zu beschwören, kein duftender Handschuh, kein Taschentuch der Angebeteten verwahrt, kein Buch mit einer Widmung mehr versehen, kein Konterfei des Liebsten in einem Amulett an der Brust getragen. Das was blieb ist die Fotografie, zu hunderten in der Ablage des Monitors gespeichert, belegen sie den gegenseitigen Besitzanspruch. Dabei, so scheint es, hat jedes Paar eine rigide Liste von Orten und Erlebnissen aufzusuchen und dort gemeinsam für die Aufnahme zu posieren, da sonst ihre Liebe vor der Gesellschaft von Freunden und Bekannten keine Legitimität hätte. So sind die Paare von heute beflissentlich an der Arbeit, diese Fotografien aufzunehmen, zu speichern und zu verbreiten und so in der Zeit des ichs den anderen an sich zu binden. Du hörst, mein alter Freund, traurig stimmt mich die heutige Bürokratie im Liebesverkehr.
Doch zurück zur Sinnlichkeit. Erinnerst Du Dich an unseren Freund Marcel Proust? Seine fantastische Zeiterzählung A la recherche du temps perdu, wo der arme Marcel den Zerfall der Zeit, und mit ihr, so war es ihm, den Verfall seiner eigenen Identität beschrieb? Erinnere Dich auch an das Schlüsselerlebnis des Romans, welches der Geschmack der in einen Lindenblütentee getauchten Madelaine war. Er schieb: „Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Mal waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seien Kürzen zu einem bloßem Trug unserer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst nur die Liebe vermag, gleichzeitig fühlte ich mich aber von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt (contingent), sterblich zu fühlen.“
Dir, mein Lieber, war bereits das Briefeschreiben eine zutiefst unsinnliche Angelegenheit, und die Ferne zum anderen, besonders zur Geliebten, eine Qual. Doch die Distanz hat auch etwas Betörendes, sie ist zuweilen wie ein Schleier, der das Liebessubjekt noch geheimnisvoller, noch unerreichbarer und so umso vollkommener erscheinen lässt. Die Geliebte wird zu einer am Horizont liegenden Stadt, dessen Silhouette sich märchenhaft im Gegenlicht der aufgehenden Sonne abzeichnet. Du quältest Dich mit dem Regiment der Briefe, die diese Ferne zu überqueren suchten und doch waren sie das, was Deiner Liebe ihren Körper verlieh. Du sprachst von der Geisterhaften Natur der Briefe, und klagtest:
„Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken. Durch diese reichliche Nahrung vermehren sie sich ja so unerhört. Die Menschheit fühlt das und kämpft dagegen, sie hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen, zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehn.“
Der Terror des Jetzt Im Winter schriebst Du mir dann: „Nein, geschrieben will ich Dir noch haben, ehe Du selbst kommst. Wenn man einander schreibt, ist man wie durch ein Seil verbunden, hört man dann auf, ist das Seil zerrissen, auch wenn es nur ein Bindfaden war, da will ich es also rasch und vorläufig zusammenknüpfen.“
Lass mich Dir also erklären, dass die Zeit aufgehört hat zu fließen und wie die Menschen kein Gefühl mehr haben für die Läufe der Zeit. Die Knotenpunkte, an denen sich die Zeit einstmals bündelte und sich zu Ereignissen verdichtete, welche eine kulturelle Bedeutung hatten und von der Gesellschaft in rituellen Handlungen begangen wurden, haben sich gel��st. Initiation und Vermählung haben keine Bedeutung mehr. Das Opfer hat das Spielfeld verlassen. Keiner Ernte wird gehuldigt, kein Vulkan beschworen das Speien, kein Erdreich gebeten, das Beben zu lassen, kein Regengott beschworen sein fruchtbares Nass zu schicken und auch kein Tropfen unserer Getränke tränkt mehr die Erde, um dieser einen Teil unserer Schuld zurückzuzahlen. Jeder macht was er will, folgt der Agenda seiner eigenen Selbstverwirklichung, welche tatsächlich doch von schlauen Strategen des Marktes, in sich unerschöpflich erneuernden Arten und Weisen, vorgelegt wird. Jeder macht was er will, lärmt und macht Aufsehen, um seine so teuer erstandene Individualität und vergisst so, das Horchen nach den größeren Dingen, die sich auf den Achsen der Zeit und mit der Hilfe sensibler Helfershelfer zusammenbrauen könnten. Und doch brauchen wir ein großes Ereignis, eine Zeitenwende, einen Hurrikan, der neue Utopien an den Tag legt so nötig! Doch auch die Zeichen der Zeit möchten gelesen werden und ihre Lektüre verlangt höchste Konzentration.
Die allgemeine Ungeduld hat sich in allen Bereichen der Welt breit gemacht, und es ist den Menschen unerträglich, auf etwas warten zu müssen. Eine Frage erwartet heute eine unverzügliche Antwort, die Bedenkzeit ist zu wenigen Minuten verkommen, eine Antwortverweigerung wird mithilfe eines ärgerlich schauenden Zeichenmännchens unverzüglich abgestraft. So kommt es, Du ahnst es, dass es nicht auszuhalten ist dieser Tage, auf einen Brief zu warten, der Tage, ja Wochen braucht um einzutreffen und dies manchmal niemals tut. Eine Antwort muss sofort her, ungeachtet der allzu ersichtlichen Tatsache, dass es spontanen Antworten oft an Gedankenwerk fehlt. Auch das Antizipieren einer Antwort hatte einst eine magische Kraft – es schuf einen Denkraum für den Fragesteller, in dessen Stille er sich in sein Gegenüber hineinversetzen kann, ja in seine Haut zu kriechen vermag, wo einmal angekommen er sich seine Frage selbst beantworten kann.
Du kennst ihn besser als jeder andere, den irrealen Moment, in dem sich ein Dialog mit einem unsichtbaren anderen von den Dingen des Alltäglichen ablöst und sich in Literatur verwandelt. Dies erfordert Opfer zuweilen, ganz so wie Du mir im Frühjahr beschriebst: „Deine Karte. Es ist eigentümlich mit dieser ersten Karte, die ich hier bekam. Unzähligemal habe ich sie gelesen, bis ich Dein ganzes a-b-c kannte, und erst, als ich mehr herauslas, als darin stand, dann war es Zeit aufzuhören und meinen Brief zu zerreißen. Ritz-ratz machte er und war tot.“ Ist die Literatur denn nun heute verschwunden, wird Dein schlauer Kopf die Frage aufwerfen, lieber Franz. Sie ist es nicht, kann ich Dich beruhigen. Das Schreiben, ganz so wie die anderen, herrlich sinnlosen Dinge der Welt –das Tanzen, das Zeichnen, das Verkleiden um nur einige zu nennen– haben noch immer bestand. „Der Mensch allein kann tanzen.“ so schreibt der junge Philosoph und Beobachter der heutigen Zeit, Byung-Chul Han in der Müdigkeitsgesellschaft, „Womöglich ergriff ihn beim Gehen eine Tiefe Langeweile, so dass er durch diesen Anfall der Langeweile hindurch vom Laufschritt in den Tanzschritt überging.“ Der Tanz, das Schreiben, das gedankenversunkene Grübeln und tiefe, tiefe Schauen auf die Dinge sind in dem Terror des Jetzt die wahren Perlen des Lebens, der wahre Luxus.
Das Verenden der Zeit Mein Freund, ich stehe der Sache, die ich Dir zu sagen schreibe nun direkt gegenüber. Ich sagte ja bereits, dass die Zeit aus dem Takt geraten ist und statt zu fliehen sich wie ein verströmender Duft, er sich vielmehr in einer duftlosen Welt durch den Raum bewegt. So kommt es Menschen heute vor, als vergehe die Zeit viel schneller als einstmals. Doch „Aufgrund der temporalen Zerstreuung der Zeit“ schreibt Han in einem anderen Buch, „ist keine Erfahrung der Dauer möglich. Nichts verhält die Zeit... flüchtig und ephemer sind auch Dinge, mit denen man sich identifiziert. So wird man selbst radikal vergänglich.“ Durch den Verlust von Bedeutung, beginnt alles zu schrumpfen – die Welt mit ihren Menschen darin, welche bange sich an das einzige Klammern, was ihnen geblieben ist – das nackte Leben. Das eigene Leben, einst so klein an Bedeutung, ist der einzige noch stehende Baum in einem abgebrannten Wald. So wird der Tod unmöglich, und die Gesundheit sowie das persönliche Befinden, nimmt höchste Bedeutung ein. Es fällt, lieber Franz, den Menschen heute besonders schwer zu sterben – sie setzten alles daran, das Bild der Jugend hoch zu halten, zu altern, ohne alt zu werden. Selbst das Erwachsensein, Vorhof des Alterns, wird zusehend abgeschafft. Man entledigte sich der Initiationsriten, es verschwand die Linie zwischen der Figur des Vaters und der des Sohnes, seitdem Väter ihren Söhnen das Recht auf Jugend mit all ihren Attributen streitig machen. Einst als Angst- und Respektperson gefürchtet und zugleich geliebt, hat es der Vater heute schwer, dem Blick des Sohnes standzuhalten. Denn das herrschende Gesetz wird nicht mehr vom Vater bestimmt, sondern von den anonymen Mächten des Marktes. „Die Repression“, so schreibt ein weiterer Zeitgenosse, der achtzigjährige Philosoph Alain Badiou, „die von diesem Gesetz auf die Söhne ausgeht, ist asymbolisch... Die soziale Unterdrückung der Söhne ist anarchisch, sie ist inexistent und exzessiv zugleich. Der Macht des Symbolischen entzieht sie sich völlig.“ Das Abenteuer der Jugend besteht in Zeiten der Macht des Marktes nur noch aus Mode, Konsum und Repräsentation, so Badiou. „Die Söhne mögen herrschen, aber sie herrschen nur noch über den Schein.“
Ich halte jetzt noch einmal den Spiegel in die Höhe, Dich nach so vielen Jahren an Deine eigenen Worte erinnernd. So schließe ich mit dem letzten Brief, den ich von Dir erhielt, bevor unsere Kommunikation abbrach und Deine Schreibkunst sich andere Kanäle suchen musste – doch derer, so zeigt die Historie, Du vieler fandst, mein Lieber Kafka.
„Jetzt kommst Du ja selbst. Ich will doch nicht den ganzen Sonntagnachmittag an dem Schreibtisch versitzen - ich sitze hier schon seit zwei Uhr, und jetzt ist es fünf- wenn ich so bald mit Dir reden kann. Ich freue mich so. Du wirst eine kalte Luft mitbringen, die wird allen dumpfen Köpfen gut tun. Ich freue mich so. Auf Wiedersehen.“
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CARTAS COMO FANTASMAS
A Franz K., Ciudad de México, 27 de septiembre de 2017
Los antisomníferos
Este domingo, cuando usamos nuestro vehículo para cruzar la cadena montañosa que abraza esta ciudad como una garra de hierro, de pronto me vinieron a la mente tú y todas esas cartas sin responder que he cargado de ciudad a ciudad y de década a década,y en el transcurso de los años han anidado en mi abrigo como chinches. Luego de la última vez que caminamos juntos –tu a mi lado en tu típico modo de andar, algo torpe e inclinando levemente tu cuerpo esmirriado– me escribiste que en ese momento, se te ocurrió qué era lo que nos faltaba: “cuando hablamos, las palabras son duras; pisamos sobre ellas como si fuesen un pavimento inestable. Las cosas más sutiles adquieren pies torpes y no podemos hacer nada por remediarlo”. Durante el carnaval debí haber ido a tu casa en Praga, pero te dejé plantado sin decir palabra.
Mi prolongado silencio, durante el que tus cartas que extrañaban a su interlocutor, poco a poco se convirtieron en un diálogo interno, se debe a motivos muy profundos. Aún no sé cómo escribírtelo, y menos si tomamos en cuenta que no he tocado una pluma en casi diez años y que han pasado veinte desde que había pliegos de papel para cartas sobre mi escritorio, en espera de ser llenados. Debes saber, amigo, que los hombres de hoy han dejado de creer en la palabra. Sé que te resultar difícil de imaginar, a ti, una persona que tiene a sus manos por vacías e inútiles cuando no sienten una plumilla o un lápiz. Sólo podías aguantar unas horas; después te ibas corriendo a tu cuarto para trasladar al papel estos pequeños trozos de tu vida vivida en ese tiempo, Alguna vez escribiste que las cartas eran un antisomnífero maravilloso. “¡En qué estado llegan a nosotros! Secas, vacías y excitantes, una alegría momentánea seguida de largo sufrimiento. Mientras uno la lee ensimismado, se yergue el poco sueño que uno tiene, se marcha volando por la ventana abierta y no regresa en mucho tiempo.” Hoy tus provocativos antisomníferos han decaído en una suerte de hipo neurótico. No es todo, pues las oraciones se están quebrando para convertirse en meros eslóganes, y las palabras empiezan a ser pequeñas ilustraciones que, de modo grotesco e infantil imitan una descripción bien articulada. He intentado de abstenerme en la medida de lo posible de esta matanza del lenguaje, querido amigo, pero tú mejor que nadie sabrás que se necesitan dos para iniciar una correspondencia. Aun cuando uno de los dos se vaya quedando callado con el tiempo, sus palabras no dejan de resonar en el espacio mental que se abrió entre ambos. La última carta, escrita sin esperar a ser respondida, cierra el círculo con la primera. Se cortan las conexiones, se cierra el espacio mental y lo que queda son sus segmentos reales, las cartas. ¿Dónde están las cartas de hoy?, me preguntarás. En California. Ahí se encuentran almacenadas en máquinas computadoras gigantescas, que llenan silos completos donde, muy juntos y en silencio completo, están esperando su entrada.
El caos del tiempo
Con eso ya he llegado al siguiente problema, y un paso más cerca de la verdad que te quiero presentar en esta carta, aunque todavía se esconda —como un niño avergonzado en una fiesta familiar— bajo el mantel de lino blanco. Le daremos un poco más de tiempo a este niño de la verdad, pues en este mundo al que llegué, la verdad es de una naturaleza más bien tímida. Déjame platicarte del tiempo, que en este nuevo mundo dejó de transcurrir sobre aquella gran corriente lineal que los humanos antes sentimos en todas nuestras acciones y que, en consecuencia, dimos por hecho. El tiempo, querido Franz, perdió la razón. Sin rumbo fijo zumba por el presente, sin sentido o causa, y yo temo que esté por disolverse por completo. Lo que los hombres, debilitados en su capacidad de pensar, no logran detectar —porque también los sentidos se marchitan si no se les cuida con palabras descriptivas— es que en lugar de la existencia de la corriente rápida del tiempo, ahora se nota su destrucción. En ese caos temporal los humanos han dejado de morir, mi querido Franz; ya sólo perecen dentro de sus cuerpos envejecidos, que habían cultivado y cuidado como su propio templo. En este mundo ya no hay nada de importancia; por ello la muerte —desde siempre un espectro que inspira miedo— se ha vuelto imposible. Cuando el tiempo empezó a derivar, decidí parar mi propia muerte hasta que las cosas adoptaran un nuevo orden. “Eso es trampa”, me dirías, ya lo sé, y enojado harías referencia al último hombre de Nietzsche, que tampoco tuvo la grandeza de morir. Pero la situación es otra, querido Franz, déjame intentar convencerte.
En aquel tiempo, durante el frío febrero de Praga, me escribiste que habías sentido temor de que no entendiera tu carta. ¿Qué quiere decir?, te preguntaría si en esta ocasión me escribieras “sin adornos ni velos ni verrugas”. Añadiste: “Cuando hablamos nos obstaculizan cosas que queremos decir y no podemos decir, sino que las articulamos de tal manera que las vamos a malinterpretar o pasar por alto, o incluso burlarnos de ellas… y porque lo intentamos sin cesar y nunca lo logramos, nos volvemos cansados, insatisfechos, testarudos”.
No están cansados de decir cosas los hombres; al contrario, hablan y hablan sin cesar pero evitan expresar algo, pues la raza humana de nuestros días es adicta a la aprobación de los demás. “Eso lo reconozco”, me dirás, pensando de inmediato en tu señor padre, pero hoy funciona de manera distinta, querido Franz; hoy se busca la aprobación de todos. Y respecto a ella, nos hemos convertido en glotones, y por tanto nos pusimos de acuerdo para usar un simple símbolo en la correspondencia escrita, un símbolo que ya utilizaron los romanos antiguos en sus coliseos: el pulgar arriba.
Tal vez ahora me dirías que esas miradas de reojo constantes pueden resultar no más que indicios de cierta sensibilidad y timidez. A ti siempre se te hizo más fácil escribir que hablar, lo que no sólo se debió a tu esquivez y tu juicio duro acerca de tu apariencia. Con tu mirada fija observabas cada movimiento, cada gesto, cada palabra que pronunciabas, y tu juicio fue más severo que el de un crítico de teatro que comenta el debut de un joven actor.
En la misma carta terminanste/cerraste con lo siguiente: “No pude haber sabido que llegarías a leer incluso esta última cuartilla, así que garabateé estas líneas extrañas, aunque no formen parte de la carta”. Por su tono de charla, ese tipo de textos, medio visibles y escritos con rapidez en una orilla, la posdata con su aire avergonzado o incluso la nota a pie, luchando por la facticidad, tienen mucho en común con la manera en la que se comunican los humanos hoy en día. Es una forma de manifestación textual a tientas, un movimiento de correspondencia como el de una oruga que está palpando el suelo mientras se mueve hacia todas las direcciones posibles, dispuesta a dar marcha atrás para ─en cualquier momento, utilizando una cantidad de ornamentos metafóricos─ aniquilar el pensamiento apenas llegado al mundo. El sabotaje de las ideas propias, trasladadas al papel, provoca cierta complicidad del otro y nos permite poner en duda el hecho de que nos presta atención. ¿Para qué sirve la correspondencia, entonces, y para qué el contacto, si no se trata de comprender al otro o de indagar en sus pensamientos e impresiones? Concluiste tu carta de febrero con las siguientes palabras: “llevamos tres años hablándonos; en algunos casos ya no se distingue entre lo mío y lo tuyo. Muchas veces no me es posible decir qué viene de mí y qué de ti, y tal vez tú lo sientas igual.”
El aburrimiento
¿Recuerdas lo que dijo Benjamin del aburrimiento? Explicó que era “el pájaro del sueño que incuba el huevo de la experiencia”. Esa ave de sueño es una criatura muy esquiva que no soporta el ruido o el ajetreo. Para poder soñar, uno tiene que ser capaz de notar el hueco en la cabeza que se manifiesta cuando uno se entrega con determinación al ocio. En cuanto se abra, uno tiene que saltar en ese abismo de lo fantástico. Ahí abajo te espera el pájaro del sueño y juntos trazarán planes para aquello que buscas experimentar cuando regreses a la superficie de tu ser. Son construcciones enteras, hechas de ideas utópicas, las que pueden pensarse en aquel cenote del aburrimiento. El aburrimiento es, según Benjamin, “una gruesa tela gris con una seda rosa al reverso.” Cuando soñamos, dice, nos envolvemos en esta tela. Sin la complicidad oscura con el pájaro del sueño, nuestras experiencias se vuelven planas; se transforman en hologramas y reflejos eternos de aquellas experiencias de los demás que podemos comprar y adquirir a través de las pantallas de nuestros aparatos de comunicación. Hace mucho que nuestros sueños ya no son construcciones de nuestras propias manos: se han convertido en sombras de los grandes sueños que antes se vivían y cuyas matrices se han vuelto pálidas y transparentes por el uso excesivo. En el verano me escribiste acerca del perfume del aburrimiento: “Es un tiempo extraño el que estoy viviendo aquí, como ya debiste haber notado, y me hacía falta un tiempo tan extraño; un tiempo en el que me la paso acostado en un muro del viñedo por horas, observando las nubes de lluvia que no se quieren mover, no de aquí ni hacia los campos amplios que se vuelven incluso más amplios cuando uno tiene un arcoíris en los ojos…. Qué tiempos extraños, ¿no es cierto?”
Fantasmas
Si pudieras saber, querido amigo mío, cómo extraño la sensualidad en estos tiempos nuevos. Hace más de medio siglo que abrí una carta perfumada en cuyo papel de fibras finas se había impregnado la letra redonda de una mujer. Hoy las mujeres ya no huelen, y también a los mensajes de amor se les quitó el componente táctil. Todavía existen las cartas de amor, sin duda, sólo que ahora pasan por diminutos monitores de bolsillo que los hombres llevan consigo y que consultan a cada rato, tal como en nuestros tiempos lo hicieron los devotos con sus biblias pequeñas. La curiosidad me hace espiar a los amantes cuando, en el subterráneo o en algún café, clavan sus ojos en esos pequeños monitores y se les escapa una sonrisa encantada. Como antes, sólo que a toda prisa, los mensajes pasan del uno a otro. Los objetos sagrados del amor, sin embargo ─los que antes, con un miedo atormentador, se le arrancaban al otro y se adjuntaron a la carta como si fueran una reliquia─, han dejado de existir. Ya no se cortan mechones de pelo para evocar al querido como a un tótem, ya no se guardan los pañuelos de la amada, los libros ya no llevan dedicatoria, y nadie lleva el retrato del adorado en un amuleto sobre el pecho. Lo que quedó son las fotografías: archivadas por centenares en el aparato; las fotos formulan una reclamación mutua de posesión. De ese modo, las parejas se entregan a la labor de sacar esas fotografías, de almacenarlas y difundirlas para, en la época actual del yo, atar al otro a uno mismo.
Regresemos a la sensualidad. ¿Te acuerdas de nuestro amigo Marcel Proust? ¿Y de su fantástico relato En busca del tiempo perdido, en el que el pobre Marcel describe el desmoronamiento del tiempo y, con ello, o así lo sintió, la desintegración de su propio ser? Acuérdate también de la experiencia clave de la novela, causada por el sabor de una magdalena sumergida en un té de tila. Él escribió: “Un placer delicioso me invadió, me aisló, sin noción de lo que lo causaba. Y él me convirtió las vicisitudes de la vida en indiferentes, sus desastres en inofensivos y su brevedad en ilusoria, todo del mismo modo que opera el amor, llenándose de una esencia preciosa; pero, mejor dicho, esa esencia no es que estuviera en mí: es que era yo mismo. Dejé de sentirme mediocre, contingente y mortal”.
En tu parecer, querido amigo, incluso las cartas fueron un asunto muy poco sensual, y la distancia con el otro, con la amada en particular, te pareció una tortura. La distancia, sin embargo, también puede tener su lado seductor. En ocasiones se vuelve un velo con el efecto de que el objeto del amor sea aún más misterioso e inalcanzable y, por consecuencia, aún más perfecto. La amada se convierte en una ciudad en el horizonte cuya silueta fantástica es dibujada por el sol del amanecer. El régimen de las cartas que buscaban superar la distancia te angustiaba, pero fueron ellas las que dieron cuerpo a tu amor. Hablabas de la naturaleza fantasmal de las cartas y te quejabas: “¡A quién se le habrá ocurrido pensar que la gente podía relacionarse por correspondencia! Se puede pensar en una persona lejana y se puede tocar a una persona cercana; todo lo demás supera las fuerzas humanas. Pero escribir cartas significa desnudarse delante de los fantasmas, algo que ellos esperan ansiosos. Los besos escritos no llegan a su destino sino que los fantasmas se los beben en el camino. Con una alimentación tan sustanciosa se multiplican copiosamente. La humanidad lo percibe y lucha contra ello; para eliminar en lo posible lo fantasmamatico entre los hombres, y lograr el contacto natural, la paz de las almas, ha inventado el ferrocarril, el automóvil, el aeroplano, pero ya no hay ayuda posible, son manifiestamente inventos hechos ya en el despeñadero. La parte contraria es mucho más serena y fuerte; ha inventado, después del correo, el telégrafo, el teléfono, la telegrafía sin hilos. Los fantasmas no morirán de hambre, pero nosotros nos iremos a pique.”
El terror del ahora
Más tarde, en el invierno, me mandaste las siguientes líneas: “te quisiera haber escrito antes de que vinieras. Si uno le escribe a otro, los dos están unidos por una suerte de cuerda, aun cuando luego dejan de hacerlo, y, por si la cuerda estuviera rota, aunque no haya sido sino un hilo, la quiero anudar provisionalmente y con rapidez”.
Déjame explicarte, entonces, que el tiempo ha dejado de transcurrir; por eso los hombres ya no cuentan con una sensación relacionada con las corrientes del tiempo. Se disolvió el punto de unión en el que anteriormente se concentraba el tiempo y en el que se condensaba en experiencias con significado cultural, celebradas por la sociedad a través de rituales. Cada quien hace lo que le da la gana y sigue a una agenda de autorrealización, que es presentada, en realidad, por astutos estrategas del mercado que la anuncian una y otra vez, siempre dándole una forma distinta. Cada quien hace lo quiere, causa ruido y llama la atención sobre una individualidad que le costó tan caro. En eso se olvida de escuchar atentamente asuntos superiores que ─con ayuda de cómplices sensibles─ llegan a cernirse sobre los ejes del tiempo. Aun así nos hace falta un acontecimiento, un periodo de transición, un huracán que saque a la luz algunas utopías nuevas. Y también los signos del tiempo requieren de una lectura altamente concentrada.
La impaciencia general se ha esparcido hacia todos los ámbitos de este mundo, haciéndoles la espera insoportable a los hombres. Cualquier pregunta exige una respuesta inmediata, reduciendo el tiempo de reflexión a unos pocos minutos y, si uno se niega a responder, pronto se gana una figurita con cara enojada. Como has de sospechar, es casi imposible aguantar el tiempo de espera que exige una carta, que puede tardar días o incluso semanas en aparecer, y en algunos casos no llega a su destino. La respuesta debe darse de inmediato, sin importar el hecho, muy evidente, de que las respuestas espontáneas carecen de reflexión. Antes también tuvo poderes mágicos lo que es la anticipación de una respuesta, y tú mejor que nadie conoces ese momento irreal en el que un diálogo se desprende de las cosas cotidianas y, a través de otro, se transforma en literatura. En ocasiones, este proceso requiere de sacrificios, tal como me lo explicaste en la primavera: “Tu postal. Hay algo extraño sobre esta primera tarjeta postal que recibí aquí. La leí innumerables veces hasta que conocí tu abecedario entero, y sólo cuando empecé a leer en ella más de lo que decía, llegó el tiempo de dejarla y de romper mi carta. Riz-raz sonó y cayó muerta”.
La literatura, ¿desapareció?, se preguntará tu cabeza aguda, mi querido Franz. No, no lo hizo, te puedo tranquilizar. La escritura, junto con todas las otras cosas inútiles de este mundo, perdura. “Únicamente el ser humano es capaz de bailar,” comenta el joven filósofo y observador de nuestros tiempos, Byung-Chul Han, en su obra La sociedad del cansancio: “a lo mejor, puede que al andar lo invada un profundo aburrimiento, de modo que, a través de este ataque de hastío, haya pasado del paso acelerado al paso de baile.” El baile, la escritura, la reflexión ensimismada y una visión extremadamente profunda de las cosas son las perlas verdaderas y un lujo real en medio del terror del ahora.
La agonía del tiempo
Amigo mío, ahora estoy evadiendo directamente al asunto que te quiero explicar. Como ya mencioné arriba, el tiempo ha perdido el compás, y en vez de transcurrir se está moviendo por el espacio como un olor que emana en un mundo sin fragancias. Ésta es la razón por la que los hombres de hoy sienten que el tiempo pasa mucho más rápido que antes. “La dispersión temporal”, comenta Han en otra obra suya, “no permite experimentar ningún tipo de duración. No hay nada que rija el tiempo. […] Uno también se identifica con la fugacidad y lo efímero. De este modo, uno mismo se convierte en algo radicalmente pasajero”. Debido a la pérdida de significado, todo empieza a encogerse, tanto el mundo como los hombres que se hallan en él y que, temerosos, se aferran a lo único que les quedó: la vida desnuda.A los hombres de hoy, Franz, les cuesta mucho trabajo morirse; hacen todo lo posible por apreciar la juventud, envejecen sin envejecer. Incluso la edad adulta, el vestíbulo de la vejez, se está omitiendo cada vez más. Las culturas se deshicieron de los rituales de iniciación, y ha desaparecido la línea trazada entre la figura del padre y la del hijo desde que los padres les disputan a sus hijos el derecho a la juventud con todos sus atributos. Mientras en tiempos antiguos se le tenía miedo y respeto al padre, hoy le cuesta sostenerle la mirada a su hijo, pues las leyes dominantes ya no se determinan por parte del padre, sino por la de los poderes anónimos del mercado. “La posible represión de los hijos”, escribe otro contemporáneo, el filósofo Alain Badiou, de ochenta años, “es también asimbólica […] La represión social de los hijos, anárquica y a la vez inexistente y excesiva, se vuelve externa al poder del símbolo.” En tiempos del poder del mercado, la aventura de la juventud ya sólo consiste en la moda, el consumo y la representación, comenta: “si bien reinan los hijos, lo hacen sólo en apariencia.”
Una vez más levantaré el espejo para, tantos años después, recordarte tus propias palabras. Concluiré con aquella última carta tuya que recibí antes de que se interrumpiera nuestra comunicación, por lo que tus habilidades para la escritura se tuvieron que buscar otros canales; los cuales, como lo demuestran las crónicas, querido Kafka, encontraste en abundancia:
“Ahora vienes. No quiero perder toda la tarde del domingo en mi escritorio ─llevo sentado aquí desde las dos, y ya son las cinco─ si falta tan poco para que pueda hablar contigo. Estoy muy ilusionado. Vas a traer contigo un aire frío que le hará bien a todas esas cabezas apáticas. Me alegra tanto. Hasta pronto.”
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WIR SIND HELDEN
Ähnlich wie in Deutschland wird in Mexiko der Generation der Millennials politisches Desinteresse und soziale Apathie vorgeworfen. Das große Beben vom 19. September 2017 hat die Kritiker eines Besseren belehrt - denn wahre Superhelden fliegen im Alltag unter dem Radar und beweisen sich im Augenblick der Katastrophe.
„Ich war im ersten Stock und habe gerade Schülern der Sekundarstufe eine Sportstunde gegeben, als es passierte“ erzählt die junge Lehrerin Ximena Trias Gil und lächelt. Um 13.15 Uhr begann der Boden unter der Privatschule Enrique Rebsamen zu beben und ließ den mit Marmorplatten verkleideten Neubau der Schule erzittern. „Ich folgte dem Protokoll und wies die Kinder an, über die Treppe in den Hof zu gehen. Mir selber blieb dann keine Zeit mehr.“ Das Gebäude neigte sich zur Seite, ehe die Mauern dem Druck der Decken nachgaben und sechsunddreißig Menschen unter sich begruben. „Aus Zufall fiel ich hinter ein Sofa; zwischen dessen Rückenlehne, dem Untergrund und der niedergestürzten Decke bildete sich eines der berühmten Dreiecke des Lebens, das mich rettete.“ Dann kam die Dunkelheit, der Staub und die Schreie. „Ganz nah hörte ich die Schreie eines Mädchens, ihre Stimme klang gedämpft, als wäre ihr Gesicht an Trümmerteile gepresst. Ich rief ihr zu, dass sie durchalten solle, dass Hilfe auf dem Weg sei.“ Anderthalb Stunden harrte Ximena in dem lebensrettendem Trümmerdreieck aus, während derer sie auch die Stimme der Direktorin der Schule, Monica García, hörte. „Sie schimpfte, sie werde nie wieder eine Schule eröffnen, sondern sich schöneren Dingen widmen und in Zukunft Blumen verkaufen!“. Es wurde schnell klar, dass der Einsturz der teuren Privatschule im reichen Süden der Stadt durch Pfusch am Bau verursacht worden war. Die Einhaltung der strengen Bauvorschriften – die strengsten Amerikas, was die Erdbebensicherheit von Gebäuden betrifft – war von der Direktorin der Schule missachtet worden. „Man musste kein Experte sein, um festzustellen, dass am Gebäude gepfuscht worden war. Alle Wände waren dünn wie Papier und der Boden knarzte.“ sagt Ximena und zuckt mit den Schultern ���Aber der Posten war gut bezahlt, also beschwert man sich nicht.“ Monica García ist verschwunden, „wahrscheinlich hat sie sich nach China abgesetzt“, sag Ximena bitter, „dort gibt es sicherlich schöne Blumen und noch mehr Wege, Vorschriften zu umgehen.“
Auch Josué David Sánchez Zaldívar, ein Digital Native, der als Programmierer arbeitet, verließ als letzter sein Büro, als es zu beben begann. „Der Neubau vibriert jedes mal, wenn ein Lastwagen über die nahe Allee fährt. Als es bebte, dachten wir uns zunächst nichts dabei, bis es viel länger vibrierte als üblich.“ Josué drehte sich zu seinem Chef um, als er sagte „wir müssen das Gebäude evakuieren“ und da Josué für die Evakuation zuständig ist, musste auch er warten, bis die achtzig Mitarbeiter der Firma das Großraumbüro verlassen hatten. Sie hatten Glück, das Gebäude stürzte nicht ein. Doch da nicht selten ein Gebäude auch noch Tage nach einem Erdbeben einstürzen kann, muss jedes Gebäude der 20 Millionen Stadt erst von Experten inspiziert und freigegeben werden. So schickte Josués Chef seine versammelte Belegschaft nach Hause. Kurz darauf fiel der Strom aus, Handynetze brachen zusammen und die U-Bahn wurde geschlossen. Der Verkehr dieser Stadt, einer der größten der Welt, kollabierte. Josué lief nach Hause, vorbei an unzähligen beschädigten oder eingestürzten Gebäude. Mit seiner Familie wartete er bis spät in die Nacht, als auch das letzte Familienmitglied eintraf. „Als wir endlich beschlossen etwas essen zu gehen, war die ganze Stadt in Dunkelheit gehüllt und man sah nur die Lichter der Rettungswagen hier und dort. Wir aßen Tacos an einem Stand am Straßenrand.“
Am Tag nach dem Erdbeben lädt eine Freundin zu einem Treffen ein, an dem junge Sozialwissenschaftler, Journalisten, Politologen und Programmierer teilnehmen. Sie arbeitet für die Nichtregierungsorganisation Bicitekas A.C., die jeden Monat die großen Alleen der Stadt für Autos absperrt und tausende Fahrradfahrer freigibt. Die Gruppe nimmt sich vor, Ordnung in das Chaos in den sozialen Netzwerken zu bringen, welches sich aufgrund der Abwesenheit von offiziellen Information gebildet hatte. „Wir suchten nach einer Möglichkeit, die Krisenherde der Stadt visuell darzustellen sowie die Massen von Bürgern, die bei der Rettung helfen wollten oder Essen und Werkzeug spendeten, zu organisieren. Denn ganz offensichtlich griff der Notfallplan der Behörden nicht.“ Im Schatten der zumindest empfundenen Untätigkeit von Behörden und Militärs entwickelte sich eine Welle zivilen Engagements in der Bevölkerung. Traumatisiert von den Erdbeben, die Mexico Stadt immer wieder erschüttert – zuletzt das 40,000 Todesopfer fordernde Beben von 1985, haben die Menschen dieser Stadt eine „Schwarmintelligenz“ für den Notzustand entwickelt. Innerhalb von Minuten nach dem Beben sah man Menschen in Apotheken rennen, um Arzneimittel zu kaufen, andere regelten den Straßenverkehr für Krankenwagen und Rettungsfahrzeuge, wieder andere liefen nach Hause und kehrten mit Fahrradhelmen, Eimern und Schaufeln zurück um Schutt abzutragen oder kauften Lebensmittel, um Brote für die Helfer zu schmieren. All dies, ohne eine Ansage seitens der Behörden, vielmehr kamen die Informationen über die sozialen Netzwerke. „Es war die ureigene Reaktion der Millennials auf die Katastrophe“ lacht Josué.
Nach dem Erdbeben von ‘85 organisierte sich ebenfalls eine starke Bürgerbewegung, die mit einem Katalog von Forderungen für die soziale Absicherung der Opfer des Bebens erstmals in der Geschichte Mexikos der autoritären Regierung die Stirn bot. Daraufhin bildete die Regierung einen Zivilschutz, der die Bevölkerung auf Freiwilligenbasis im Katastrophenschutz ausbildet. Als Ximena aus den Trümmern befreit wurde, wunderte sie sich, dass niemand ihren Namen aufschrieb. „Durch Zufall lief ich in die Arme eines Polizeibeamten, der meinen Namen auf einen alten Kassenzettel schmierte. Aber bis heute stehe ich auf keiner Liste – es gibt anscheinend keinerlei Register von offizieller Stelle mit den Namen derer, die verschüttet wurden. Weder von denen, die überlebten, noch von den Opfern. Wie kann das sein?“ Sie ging trotz Kopfwunde zu Fuß quer durch die Stadt, von einem einzigen Gedanken beherrscht „Wo ist meine Tochter?“. Als sie zu deren Schule gelangte, sah sie wie die Schüler der Oberstufe den Verkehr regelten. „Der Anblick hat mich zutiefst bewegt. Das war ehrliche Anteilnahme – es war ihnen egal, ob sie jemand dafür lobend auf die Schulter klopfte, es wurden auch keine Selfies gemacht oder dergleichen – anders als die Politiker, die nur dann mit anpackten, wenn eine Fernsehkamera draufhielt.“
Doch es sammelten sich auch hier eine Anzahl von fake news – falsche Aussagen oder missverstandene oder veraltete Informationen. „Wir beschlossen ein System der Verifizierung zu implementieren, was wie ein Filter vor die Informationen gesetzt wird. Wir hielten Menschen dazu an, ihre oftmals als Video gesendeten Botschaften mit Datum und Uhrzeit zu versehen, sowie die eigene Identität im Video von einem Dritten verifizieren zu lassen. Solche Informationen verbreiteten wir, nicht verifizierte überprüften wir, fake news wurden entlarvt.“ Auch programmierten sie eine interaktive Karte der Stadt, auf der in Echtzeit alle Abgabestellen von Hilfsgütern verzeichnet waren, sowie Listen von Sachen, die dort benötigt wurden, wo die Rettung von Überlebenden in vollem Gange war.
„Es war bewegend, die Zahl der Menschen, die dort auf den Beinen waren, um zu Helfen.“ erzählt auch Mauricio Zubriats, ein dreißigjähriger Chefkoch mit Hipster-Bart und Hornbrille, der am Tag nach dem Beben in die stark betroffenen Stadtviertel La Condesa kam, um zu helfen. „Das erste, was ich sah, war eine Menschenkette von mehr als anderthalb Kilometern, die Hilfsgüter weiterreichte. Der Anblick faszinierte und motivierte mich zugleich ungemein.“ Dann lief der junge Mann durch das Viertel, das bis in die neunziger Jahre Zentrum Mexikos alternativer Szene war und sich seit den frühen Nullerjahren in ein gentrifiziertes Luxusviertel verwandelt hatte. Wie in einem Kriegsgebiet sah er „zerstörte Gebäude, umgestürzte Straßenlampen, abgesperrte Trümmerhaufen, Zeltstädte in den Parks, Militär, Polizei und handgeschriebene Zettel auf denen stand ‚Warnung, keine Zigaretten, Gasleck!’“. Bis spät in die Nacht erledigte er Fahrradbotendienste, wie auch am nächsten Tag, bis er zur Avenida Alvaro Obregon 286 gelangte. „Als ich ankam zogen sie gerade die letzte von siebenundzwanzig Personen aus dem Gebäude, die noch lebend geborgen werden konnte.“ Hier bleibe ich, sagte sich Zubriats und meldete sich als freiwilliger Helfer bei den Militärs, welche die Straße rund um das Gebäude abgesperrt hatten. Sie gaben ihm einen Helm und einen Mundschutz, er musste sich seinen Namen, die Blutgruppe und Telefonnummer auf den Arm schreiben. „Mich überraschte, dass es in der ganzen Zone keinen einzigen Computer gab, um die Leute zu registrieren.“. Schnell fiel ihm auf, dass ein anderer freiwilliger Helfer, der die Katastrophenzone von der Öffentlichkeit absperrte, hilflos überfordert war. Er fragte ihn, was er beruflich mache und als die Antwort „Grafikdesigner“ war, erklärte ihm Zubriats „ich bin Chefkoch, ich verbringe den ganzen Tag damit, Köche anzuweisen. Lass mich das hier also machen, das liegt mir sicher besser als dir.“ Er nahm ihm den Lautsprecher aus der Hand und begann zu delegieren. „Ich blieb bis fünf Uhr morgens. Als ich gehen wollte, sagten mir die Militärs ‚bitte komm morgen zurück, ohne dich ist das ein Chaos hier’. Ich sagte ‚klar’ und stand am nächsten morgen wieder auf der Matte.“
Am nächsten Tag war er dann der ‚Türsteher’ des Ground Zero und regelte, wer rein durfte und wer nicht. „Da waren hunderte, die reinwollten um zu helfen und es ging am Ende darum herauszufinden, wer hilfreich sein könnte und wer nicht. Ich verbrachte die nächsten 36 Stunden damit, Helfer und Dinge zu organisieren.“ So wie alle anderen Helfer in der inneren Zone arbeitete der Chefkoch non-stop und verließ seinen Posten nur für ein belegtes Brot, einen Kaffee oder einen Gang zum Dixie-Klo. Die Anforderungen Zubriats, und schienen sie noch so unerfüllbar, wurden doch beinahe ausnahmslos bewerkstelligt. „Es war wie Zauberei, als ob dieser japanische Comic-Kater, Doraemon, hinter den Lauten stand und aus seinem magischen Beutel die absurdesten Dinge zog“ lacht Mauricio. „Ich sagte: ‚wir brauchen dreihundert Holzbalken’ – nach zehn Minuten standen sie am Eingang. Oder ‚bringt mir eine zweiphasige Schweißanlage’ und kurz darauf tauchte ein Lastwagen damit auf. All dies mitten in der Nacht und trotzdem wurde uns alles gebracht, was wir brauchten – gespendet von ganz normalen Leuten, mittelständigen Unternehmen und einigen großen Konzernen. Aber auch die Helfer selbst waren ‚magisch’. Einer sagte er sei Bauingenieur und spreche hebräisch, gerade als die israelischen Brigaden ihren Spezialkran aufgebaut hatten, also sagte ich zum Soldaten neben mir ‚der muss auf jeden Fall rein’. Ein anderer sagte ‚ich war Feuerwehrmann in New York während 9/11’. Oder ich rief den Leuten zu ‚Wir brauchen einen Interpreten für Zeichensprache’, und es hoben sich gleich zwei Hände in der Schlange – alles was wir brauchten, tauchte einfach auf: Bohrer, Schlingen, Leibgurte für vertikale Rettungsaktionen, Lebenslinien (líneas de vida), sieben Zentimeter dicke Nägel und Schrauben sowie zahllose Freiwillige zu jeder Nacht- und Tagesstunde. Irgendwann fragte ich mich, wo all diese Menschen herkamen und ob sie ihr Spezialistentum am Ende nur erfanden. Es war einfach irreal.“
Josué saß am anderen Ende dieser Kommunikationsstränge, die von dem kollabierten Gebäude aus der Avenida Alvaro Obregon kamen: „die Dinge, die dort gebraucht wurden, um Menschen unter den Trümmern zu befreien, kanalisierte ich und organisierte Fahrradfahrer aus dem Netzwerk von Bicitekas A.C., die sich für freiwillige Kurierdienste gemeldete hatten. Die Hilfe kam von überall – von großen Betrieben bis ganz normalen Bürgern.“ Eine junge Frau sei an einem dieser Tage in sein Büro gekommen und sagte „Ich habe Geld“. „Wir sagten ihr, sie solle Lebensmittel kaufen und einem der Sammelzentren spenden,“ erzählt er, „doch sie antwortete: ‚Es handelt sich um eine große Summe, ich kann spezialisiertes Werkzeug kaufen.’ Am Ende investierte sie 700,- Euro in einen Spezialbohrer sowie Diamant-Kreissägeblätter.“
„Was ich nie vergessen werde“ sagt Zubriats und Tränen schnüren ihm die Kehle zu „ist die gehobene Faust von hunderten von Helfern und die Stille die folgt, wenn man nach den Rufen der Verschütteten horcht.“
Foto: Corinna Koch
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Foto: Omar Torres / AFP
DAS BEBEN NACH DEM BEBEN
Mexiko: Weil Regierung und staatliche Behörden nach der Katastrophe vom 19. September versagt haben, fühlt sich die Jugend des Landes wachgerüttelt – eine Selbstermächtigung
Es war ein sonniger Tag und die Mittagshitze brannte bereits in dieser Stadt. Da wurde der Alarm hörbar, dessen Klang beinahe jedem, der in Mexiko Stadt aufgewachsen ist, die Tränen in die Augen schießen lässt. Der Asphalt der dreispurigen Avenida de Revolución, entlang derer ich zu meinem Termin eilte, begann zu beben. Zuerst in vertikalen, dann horizontalen Bewegungen durchströmten die seismischen Wellen den lehmigen Boden des alten Flussbettes, in das die Stadt hineingebaut wurde. Umgeben von Bergen schließt das Tal die Wellen in sich ein und verstärkt so die Auswirkungen der Stoßwellen eines Bebens, sogar wenn sein Zentrum hunderte von Kilometern entfernt ist. Alles vibrierte in derselben Frequenz und so spürte ich die Bewegung zuerst gar nicht und ich lief noch ein paar Meter weiter. Plötzlich strömten Menschen auf die Straße, sich in den Armen haltend schauten sie ängstlich auf die Gebäude und instinktiv trat ich weiter in die Mitte der Straße, wo der Verkehr stillstand. Angst stand in den Gesichtern der Menschen, einige weinten.
Alle Bewohner dieser Stadt erinnern sich an das große Beben von 1985, welches auf den Tag genau die Stadt zerstörte und nach offiziellen Zahlen 10.000, jedoch nach Zählungen von Hilfsorganisationen 40.000 Menschen unter sich begrub. Diese Katastrophe ist ein kollektives Trauma mit dem jeder auf seine Weise gelernt hat umzugehen. Ein tiefer Glaube an Gott ist es für die einen, eine ständige Bereitschaft im Moment der Katastrophe zu handeln für die anderen. Letztere sind vor allem junge Menschen, die bereits Minuten nachdem die Wellen abgeklungen waren auf die Straßen strömten, um zu helfen. Dieser Tage geschah etwas, dass die Intellektuellen des Landes vollmundig als das Erwachen einer Generation beschreiben, die zuvor als unsichtbar galt. Politikverdrossenheit ist für die mexikanische Jugend, die von den Führern des Landes nichts als Bigotterie und Korruption kannte, eine Untertreibung. Vielmehr sind sie im Modus der Totalverweigerung herangewachsen, haben sich komplett entfremdet von den Prozessen der Politik und fühlen sich schlicht nicht vertreten. Die Kritik dieser Jugend findet heute eher kleinteilig und vor allem im Internet statt. Im Gegensatz zu ihren Vätern, die sich nach dem Beben von‘85 in großen Bürgerverbänden organisierten und mit langem Atem den Umsturz der großen Einheitspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) herbeiführte, die seit 1929 die Führung des Landes dominiert hatte. Sicher gab es Proteste, als der Kandidat der PRI Partei, Enrique Peña Nieto, nach massivem Stimmenkauf, so die Kritiker, im Dezember 2012 vereidigt wurde. Und auch als im Herbst 2015 dreiundvierzig Studenten verschwanden und die Spur erneut zur Regierung führte, ging die Jugend wieder auf die Straßen. Doch die Regierung zeigte keine Einsicht und obwohl das Verschwinden der Studenten ein Geheimnis blieb, gaben die Menschen schließlich auf und gingen nach Hause.
Ich war in einen Bus gestiegen, der sich langsam durch den Verkehr quälte. Durch die Fenster sah ich eingestürzte Gebäude mit Menschengruppen davor. Ich stieg aus, um zu Fuß nach Hause zu laufen, durch Viertel, die schwer von dem Beben betroffen waren und voller Menschen. Einige standen mit versteinerten Gesichtern vor ihren Häusern, unsicher, ob sie es wagen sollten, hineinzugehen, denn auch Tage nach dem Beben können Hauser noch jederzeit einstürzen. Jemand eilte mit einem weinenden Schulkind an der Hand über den Bürgersteig, glücklich das Kind lebend bei sich zu haben. Zu dieser Zeit war bereits die schreckliche Nachricht von dem Einsturz der Enrique Rébsamen Schule bekannt, welche zwanzig Schüler in den Tod gerissen hatte. Es gab aber auch Menschen, denen wohl nichts Besseres einfiel, als mit dem Auto loszufahren, was den Verkehr schnell kollabieren ließ und Feuerwehr und Krankenwagen ein Durchkommen unmöglich machte. Ein Umstand, der sich jedoch als eher unbedeutend herausstellte, waren doch die meisten der eine Millionen zählenden Helfer junge Millennials, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs waren.
Staunend lief ich an ihnen vorbei, wie sie unbeirrt in die Apotheken strömten, Wasserflaschen und Medizin herausschleppten und mit Fahrrädern zu den eingestürzten Gebäuden schafften. Andere regelten den Verkehr oder halfen beim Abtragen der Trümmer, was sie stundenlang mit bloßen Händen taten. Wieder andere organisierten Chatgruppen, die Ressourcen und Bedürfnisse erfassten, Hilfsgüter anforderten und via Fahrradboten an die verschiedenen Krisenherde der Stadt verteilten. Manche standen vor den Apotheken und sammelten Spenden von den Menschenmassen, die zu Fuß versuchten nach Hause zu gelangen.
Diese spontane und unbedingte Solidarität der jungen Bürger stellt eine Wiederholung dessen dar, was sich ’85 ereignete. Damals erwies sich die Regierung als unfähig, ihrer Bevölkerung zu helfen. Der damalige Präsident, Miguel de la Madrid, ließ dreiundneunzig Stunden verstreichen, ehe er das Wort an die Öffentlichkeit richtete. Hilfe aus dem Ausland wurde stolz abgelehnt, während sich Polizei und Militär als unfähig erwiesen, Herr der Lage zu werden. So war es das Volk, dass das Volk rettete. Es formten sich kleine Gruppen junger Menschen, die sich in enge Spalten zwischen Trümmern abseilen ließen, um zu den Opfern des Bebens zu gelangen. Tausende wurden auf diese Art errettet, doch tausende konnten nicht gerettet werden. Topos, Maulwürfe, nannte der Volksmund diese Helfer später liebevoll.
Einige Tage später sitze ich einem jungen Chefkoch gegenüber, der Tage und Nächte lang als freiwilliger Helfer an der Rettung von vierzig Verschütteten in einem Bürogebäude an der Avenida Alvaro Obregón mithalf. „Ich musste einen Kumpel von mir zu den Sanitätern bringen, nachdem er aus den Trümmern zurückgekehrt war. Vergeblich hatte er versucht, zu einer Gruppe Verschütteter zu gelangen. Er blickte von oben auf sie hinab, ein beißender Gestank trat ihm in die Nase, denn zwischen den Lebenden waren Leichen, die bereits verwesten. Er sah aus wie ein Zombie, als er wieder ans Tageslicht stieg und reagierte nicht auf meine Ansprache. Wir mussten ihm eine Atemschutzmaske aufsetzten und er bekam eine Injektion.“ erzählt er, während ihm Tränen in die Augen steigen. „Wie kann es sein, dass normale Bürger wie wir ohne jegliches Training mit derlei Aufgaben betreut werden?“ Am Donnerstag, nach drei Tagen und Nächten härtester Arbeit am Ort des Schreckens, sei er nach Hause gegangen. „Du weißt, wann du deine Grenze erreicht hast.“ sagt er „der ganze Ort stank nach Tod, wir hatten weder Duschen noch ein Waschbecken und ich wusste, wenn ich länger bliebe, ich meine eigene Gesundheit gefährden würde.“ Die Atemschutzmasken hatte er selbst bei einem amerikanischen Hersteller bestellt und an seine Mitstreiter verteilt. Ebenso organisierte er Pritschen für die Angehörigen, die auf dem Boden des mit Planen vom Regen abgeschirmten Bürgersteiges schliefen, um in der Nähe derer zu sein, die unter den Trümmern ausharrten. Psycho- und Physiotherapeuten baten unentgeltlich Gesprächstherapien und Massagen an. Er hätte darauf gewartet, dass die Behörden die Helfer nach Hause schicken würden, sagt er, doch noch heute arbeiten freiwillige Helfer weiter in dem zusammengestürzten Gebäude, während die Angehörigen der Verschütteten ebenfalls dort ausharren, denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Seit einigen Tagen ist klar: Ohne den 100-prozentigen Einsatz der Bürger hätte die Katastrophe weitaus mehr Opfer gefordert. So wird erneut, 32 Jahre nach der letzten Erdbebenkatastrophe, die Frage laut: Wo waren die Behörden? Warum waren es Bürger und nicht Militärs oder Polizei, welche die Hilfe organisierten? Warum war es an den Bürgern, vom Spaten bis zur Zeltplane, vom Dixi-Klo bis zu den Stühlen für die Blutspender, alles zu besorgen? Und wie kann es sein, dass diese Hilfsmittel nach dem Beben nun vom Staat mit der Begründung man habe sie ja gespendet, eingesackt werden? Damals wie heute scheinen die Beamten mit den Jahren des ständigen Bestechens und Bestochen-werdens jeglichen gesunden Menschenverstand, ja Menschlichkeit verloren zu haben. „Warum mussten die Bürger ein weiteres Mal die Arbeit von Behörden und Militär erledigen?“ so fragt sich die in den Tagen nach dem Erdbeben geformte Gruppe unabhängiger Beobachter, Verificados19s. „Warum hat die Regierung auf allen Ebenen versagt, in Echtzeit ein logistisches Netzwerk für die Verteilung und Organisation von Hilfe zu erstellen?“, „Warum hat die Regierung es bis heute nicht geschafft, eine zentrale und verifizierte Liste der vermissten Personen zu erstellen?“, „Warum wissen Hausbewohner immer noch nicht, ob ihre Gebäude sicher sind oder nicht?“. Man kann nur hoffen, dass das mexikanische Volk seine Regierung diesmal nicht ohne eine Antwort auf ihre Fragen davonkommen lässt und die Versäumnisse der Behörden ihre Täter und diese ihre Strafen finden.
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DIE LETZTEN TARAHUMARA
Der eiskalte Wind setzte wieder ein und das durchweichte Hemdchen, das ich trage, klebt an meinen Leib. „Bist Du ok?’ ruft mir Eduardo. zu, der ein paar Schritte vor mir läuft und mich nun mit zusammengekniffenen Augen anguckt. Als wir oben, auf dem 1800 Meter hohem ‚Mesa’ (Tisch), einem der vielen Hochplateaus der Sierra Tarahumara gestanden hatten und plötzlich der Regen einsetzte, war es seine Idee gewesen loszulaufen, hinab ins Dorf – anstatt sich oben in einer Höhle zu verkriechen, so wie es Manuel, unser Bergführer, vorgeschlagen hatte. Jetzt, wo wir völlig durchnässt sind und die Temperatur um mehr als fünfzehn Grad innerhalb der letzten Stunde gesunken war, ist es zu spät anzuhalten und einen Unterschlupf zu suchen. Die Kälte würde unseren durchnässten Körpern zu sehr zusetzten, außerdem steigt das Wasser in den schmalen Fußpfaden, welche sich in einigen Stunden in stürzende Bäche verwandeln sollten. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass mein Wunsch das Volk der Tarahumara, welches dafür bekannt ist als Jäger tagelang rennend seine Beute bis zur Erschöpfung zu hetzen, dazu führte, dass ich nun selber renne wie noch nie zuvor.
Ich lüpfe die vom Regenwasser durchtränkte Krempe meines Hutes und sehe Manuel, der unser kleines Himmelfahrtskommando leitet, über einen steilen Pass laufen. Sein pinkfarbenes Hemd wölbt sich im Wind. Mein Blick wandert hinüber zu der Flanke des Canyons, die auf der anderen Seite der tiefen Schlucht in den regenverhangenen Himmel steigt. Dort sind die Mohnfelder deutlich zu erkennen – kleine, quadratische Felder, die wie kahlgeschoren wirken. „Dort“, hatte Manuel neulich gesagt, als wir gemeinsam mit der Anthropologin Adriana auf einem Felsen hinter seinem Haus gesessen hatten, „dort wird unsere Freiheit enden“. Sein Gesicht hatte sich verfinstert und er zeigte auf den Hang auf der anderen Seite des Canyons. Dann stand er auf und lief zurück in sein Dorf, das sich auf 1600 Höhenmetern an die Flanke des Canyons presst.
Die Region ist in Mexiko als das ‚Triángulo Dorado’, als das goldene Dreieck des Narcotráfico bekannt, und bezeichnet das Gebiet zwischen den Bundesstaaten Chihuahua, Durango und Sinaloa. Im Laufe der letzten Dekade, als Konsequenz des vom Präsidenten Miguel Calderon erklärten ‚Krieges gegen die Drogen’, wuchs eine Generation der wohl gewaltsamsten Narcotraficantes Mexikos heran. Das Maß an Gewaltbereitschaft und perfider Kreativität dieser jungen ‚Sicarios’, wie die Auftragsmörder des Narcotráficos genannt werden, zeichnet sich in der Inszenierung der Leichen ihrer Opfer ab, welche abfotografiert die nationale Presse nur allzu gerne ihren erschrockenen Lesern vorführt. Die Bezeichnung des ‚goldenes Dreiecks’ reiht die Region in die Gruppe der weltweit berüchtigtsten Hersteller von Opium ein: die goldenen Dreiecke von Burma, Laos und Thailand. Doch bei der Berichterstattung über dieses kleine Dreieck, mitten in den tiefsten Canyons Nordamerikas, in dem sich 40% der Morde des gesamten Landes abspielen, fehlt oft ein wichtiger Aspekt: die radikale Zerstörung eines indigenen Volkes, dessen Kultur bis dato die unverfälscheste unter Mexikos Indigena war. Der letzte Artikel der Reporterin Miroslava Breach, die diesen März von dem einundzwanzigjährigem Auftragsmörder Romeo R.M. mit acht Kugeln niedergestreckt wurde, handelte von eben dieser Vertreibung der Ureinwohner Sierra Tarahumara, die heute meist Rarámuri (der laufende Fuß) genannt werden, welche vor mehr als 15.000 Jahren vermutlich über die Beringstraße hier eintrafen.
Hier oben lebt eine der letzten, unversehrten Gemeinden der Rarámuri Indigena, im Auge des Sturms, dem Druck der Mohn- und Marihuana anbauenden Narcos stand haltend. „Über die Pläne Donald Trumps eine Mauer zu bauen lachen sie nur“ erklärte mir Isela Gonález, Direktorin der Nichtregierungsorganisation ‚Alianza Sierra Madre’ schmunzelnd. „So lange die Nachfrage der US Amerikaner nach illegalen Substanzen wächst, wird es immer Wege dies- und jenseits der Landesgrenze geben, auf denen die Ware an seine Abnehmer gelangt. Das Netz von Zwischenhändlern und Händlern, Bestechung und Erpressung sowie der Druck des Geldes der Investoren erstreckt sich auf beiden Seiten der Grenze.“ Die Wut der Narcos dieser Tage speist sich vielmehr aus dem Umstand, dass ihr Bestseller-Produkt Marihuana in immer mehr Staaten der USA legalisiert wird und daher das Angebot die Nachfrage zu übersteigen beginnt. So haben die Narcos einen neuen Sturm entfacht, bauen nun Mohn an und wollen mit dem daraus gefertigten Heroin den US-amerikanischen Markt geradezu überschwemmen. Ihre Dealer dort bieten die Droge derzeit billig an, um vor allem neue, junge Abnehmer zu finden. Sie sollen dabei helfen, das große Geschäft, das in Mexiko inzwischen rund $40 Millionen Dollar abwirft, am Laufen zu halten. Die Rechnung geht auf, denn laut einer im März diesen Jahres im ‚JAMA Psychiatry Journal’ veröffentlichten Studie hat sich die Zahl der Heroin-Konsumenten seit 2001 in den USA verfünffacht.
„Ich mache mir vor allem Sorgen um die jungen Rarámuri.“ sagt die Anthropologin Adriana in abendlicher Runde einige Tage zuvor. Groß ist die Schmach der jungen Rarámuri-Männer, die Unterdrückung widerstandslos hinzunehmen. Mit anzusehen wie ihre Väter machtlos dastehen, wenn ihnen ihre Felder abgenommen werden und sie unter vorgehaltener Waffe zur Arbeit auf diesen gezwungen werden. Dabei sind die Unterdrücker selbst kaum viel älter als die jungen Rarámuri-Männer. „Sie sind meist zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Jahre alt und stehen ganz unten in der Hierarchie des Narcotráfico. Sie wurden in Sinaloa und Chihuahua zur Bestellung und Verteidigung der Mohn- und Marihuana-Felder rekrutiert. Alleine hausen sie hier oben in der einsamen Sierra neben ihren Feldern, nehmen Drogen und beginnen ihre Spielchen zu spielen.“ erzählt Adriana. „Anfangs wurden die unfreiwilligen Arbeiter für ihre Maloche auf den Feldern der Narcos entlohnt, heute ziehen die Wächter es vor, den Lohn der Rarámuri selbst einzusacken, was man ihnen von ‚Oben’ auch durchgehen lässt.“. Mit neunzehn Jahren, im ersten Semester ihres Anthropologie-Studiums, bereiste Adriana die Sierra Tarahumara das erste Mal und verliebte sich in die Menschen dieser Gegend. Jedes Jahr kehrt sie seither zurück und versucht, so gut es geht und ohne selber in die Schusslinie zu geraten, die Situation ihrer Freunde zu verbessern. In der Region ist sie als die „verrückte Anthropologin“ bekannt, ein willkommenes Stigma, unter dessen Deckmantel sie auf wundersame Weise jedes Jahr unbescholten in dieser wohl gefährlichsten Region Mexikos ein- und ausgeht.
Mein Blick wanderte hinunter ins Tal, wo der Asphalt der jüngst erneuerten Straße silbrig in der Abendsonne schimmerte. Nicht viele Autos passieren diese Route, auf der man Glück haben muss nicht an einer von den ‚Zetas’ oder den ‚Chapos’ errichteten Straßensperre zur Ader gelassen zu werden. Die Steine, die in kleinen Lawinen den Berg hinabrollen und sich auf dem Asphalt ansammeln, werden nicht weggeräumt, sondern als nützliche Barrikaden liegengelassen. Unheilvoll erschien jeder dieser Haufen, als wir uns Tage zuvor in einem schäbigen Pick-Up Truck unseren Weg durch die Sierra bahnten. Diese Vorahnung verfestigte sich, als hinter einer Kurve eine Karawane auftauchte. Drei riesige Lastwagen, grau und mit den Resten einer zerfetzen, im Wind flatternden Plane, erweckten das Bild von Geisterschiffen. Auf den Ladeflächen standen eng aneinander gedrängt Frauen, Kinder und Männer mit ernsten Mienen. Es waren Rarármuri. Ihre Habseligkeiten in den Händen haltend, warfen sie uns lange Blicke zu, als wir an ihnen vorbeizogen. Von hier an schwiegen wir, während der Truck hinauf an den äußeren Rand des Canyons kroch und dann die andere Seite hinab, bis zu dessen feucht-tropischen Fuße, 500 Meter über dem Meeresspiegel.
Dort unten im Tal liegt das Dorf und unser Ziel, zwischen steilen Felswänden am Ufer eines Flusses. Bei seiner Erbauung zu Beginn des 18. Jahrhunderts schöpfte man aus dem Vollen, das Geld kam von der nahegelegenen Silbermine und spiegelte das Dorf den Reichtum und Stolz seiner Bürger wider. Es dämmerte bereits als wir eintrafen und unsere Taschen in dem Haus des ehemaligen Bürgermeisters abstellten. Dessen sechzigjährige Frau bot uns ein Abendessen an, welches wir jedoch ob der unerträglichen Hitze sowie des Anblickes der ranzigen Fleischbrühe und abgestandenen Bohnen dankend ablehnten. Statt dessen beschlossen wir noch eine Runde im Dorf zu drehen. Dort an der nächsten Straßenlaterne standen sie dann, die ersten Narcos – Männer in abgewetzten Kapuzenpullovern, die im Schatten ihres Pick-Up Trucks stehend auf jemanden einredeten, die Sturmgewehre in den Händen.
Überfreundlich grüßten wir, einem ‚Gute-Miene-zu-bösem-Spiel’ Habitus folgend, den man bereits an einem Tag in der Sierra erlernt und welcher die Grundvoraussetzung für das Überleben im Goldenen Dreieck zu sein scheint. Hastig drehten wir unsere Runde im menschleeren Dorf und kehrten zurück zu unserer Herberge. Auf der Veranda, mit Blick auf die Straße, saß das alte Bürgermeisterpaar in Dunkelheit getaucht. Ein Licht anzuzünden hatten sie sich bereits vor Jahren abgewöhnt und sie unterhielten sich im Flüsterton. Ob man lebt oder nicht, ist in einem Örtchen wie diesem für viele auch eine Frage wie gut man mit Gott steht. ‚Gottlob geht’s uns gut‘, sagt die Frau des pensionierten Bürgermeisters jedem, der sich nach dem Befinden der Familie erkundigt. Grund zum Bangen hat sie allemal – gerade letztes Jahr wurde der in den Nullerjahren regierende, sowie neu zur Wahl aufgestellte Bürgermeister auf offener Straße von einem Sicario erschossen. Mit ihm stieg die Zahl der in im letzten Jahr unfreiwillig aus dem Leben gerissenen Anwohner des Dorfes auf 16, wobei die Opfer innerhalb der Reihen der Narcos nicht mitgezählt werden. Drei Töchter hat das Paar, zwei von ihnen sind Krankeschwestern. Was es heißt Krankenschwester in diesem Dorf zu sein? Nun, es heißt, dass man jederzeit ‚abgeholt’ werden kann, um bei Schusswechseln und Messerstechereien verwundete Narcos zu versorgen.
Mein Hut ist so durchtränkt, dass sich die Krempe in eine Art Scheuklappe verwandelt hat, die meinen Blick auf meine durchtränkten Schuhe freigibt, die sich mal von Stein zu stein hangelnd, mal in den lehmigen Boden versinkend ihren Weg suchen. Eduardos Beine treten ins Bild und ich spüre seine Hand auf meiner Schulter „Du darfst jetzt nicht nachlassen“ sagt er und schaut mir prüfend ins Gesicht. Er wirkt euphorisch. Dies ist der erste Ausflug in die Berge seit langer Zeit für ihn. ‚Alles klar’ schreie ich gegen den Wind an und merke, wie das Adrenalin durch meinen Körper schießt.
Josie, die ältere der beiden Krankenschwester-Töchter, hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten im Dorf. Vor drei Jahren zog sie nach Chihuahua Stadt, um in einem Krankenhaus zu arbeiten. Das filigrane Geflecht von Beziehungen, gespeist aus der guten Reputation ihres Vaters, sein stets offenes Ohr, seine Hilfsbereitschaft, sein Werken als aktives Mitglied der Gemeinde, hatten ihn über Jahre hinweg unentbehrlich gemacht. Seine Aufmerksamkeit galt sowohl Narcos, wie auch nicht-Narcos, hatte er sie doch alle aufwachsen sehen. Und doch hatte Josie irgendwann nicht mehr schlafen können. Vor allem ging sie aber, weil der ‚Chapo’ inzwischen erfahren hatte, dass sie wusste wer er war. Ein respektabler, eleganter Señor in einer Ranch in den Bergen um das Dorf. Die ganze Familie hatte gelacht, als sie im Januar 2016 im Fernsehen die ‚Telenovela’ (Seifenoper)-tauglich inszenierte Verfolgungsjagd des Joaquín ‚El Chapo’ Guzmáns gesehen hatten. Dieser Mann mit dem schmutzigen Feinrippunterhemd und schlecht gefärbten Haaren, hatte nun wirklich gar nichts mit dem echten Chapo Guzmán zu tun. Die Vorstellung, dies soll der Mann sein, der seit über zwanzig Jahren die Sierra beherrscht, erschien grotesk. Dennoch mischte sich unter ihr Lachen auch Angst, dass die Identität des wahren Chapo auffliegt.
Der nun bereits vor elf Jahren erklärte Drogenkrieg hat bis heute keine nennenswerten Erfolge verbucht. Die Militärpräsenz der inzwischen rund 600 Soldaten scheint in der 60.000 Quadratmeter messenden Sierra Tarahumara keinerlei Effekt zu haben. So wundert es nicht, dass böse Zungen behaupten, das Militär mache gemeinsame Sache mit den Narcos. „Es ist schon komisch, dass auch eine Dekade nach dem Beginn der militärischen Interventionen immer noch keine nennenswerten Resultate erzielt wurden und die Menschen mehr Angst vor den Militärs als vor den Narcos haben.“ sagt auch Isela Gonález, Direktorin der NRO ‚Alianza Sierra Madre’. Derweil zieht sich der Staat immer mehr aus der Region zurück – Schulen, Krankenhäuser, Behörden und andere staatliche Einrichtungen verwaisen, obwohl es immer mehr zu tun gibt. „Einen bedeutenden Erfolg hat unsere NRO vor ein paar Wochen erreicht“ führt Gonález fort „als wir vor dem interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Beschluss erwirken konnten, dass der mexikanische Staat in die Rarámuri Gemeinde Choréachi zurückzukehren muss und diese zu beschützen hat.“ Eine gerichtliche Anordnung an den Staat, seine Bürger nicht im Stich zu lassen, hatte es auch in Mexiko noch nie gegeben.
Einige Tage bevor ich Adriana kennenlernte, saß ich auf dem Beifahrersitz des kleinen Toyotas meines Fremdenführers. Der Mittdreißiger welcher von allen nur ‚Rábano’ (Rettich) genannt wird, fuhr unsere kleine Touristengruppe auf einen Tagesausflug zu den Wasserfällen von Cusárare durch die Sierra. Hier und dort grüßte er entgegenkommende Autofahre, und es schien als kenne er jeden hier. In diesem harmonischen Bergidyll schien das Bestehen einer Parallelwelt umso verstörender. „Wie viele seiner alten Schulfreunde bereits im Drogenkrieg gestorben seien?“ fragte ich Rábano. „Fünfzehn“ hatte dieser zurückgegeben. Und wie viele der Männer seiner Generation Narcos seien?, hatte ich dann wissen wollen, worauf Rábano zurückgab: „mehr als die Hälfte“. Dann fügte er noch hinzu: „Aber es sind nicht bloß die Männer – auch Frauen seien unter ihnen, und Kinder.“ Sie leben in den Bergen der Sierra, in Hütten und Verschlägen am Rande ihrer Felder.“.
„Es wird regnen“, hatte Manuel vor einer Stunde gesagt und die Augen auf den dunklen Fleck am Himmel gerichtet, der vor uns über den Rand des Hochplateaus gekrochen kam. „Das sagst du jetzt schon seit drei Tagen“ hatte ich belustigt zurückgegeben. Ich lüpfe die nasse Hutkrempe, um meine Gefährten ins Blickfeld zu bekommen. Beide stehen am Hang mit Blick auf den Wasserfall. Sie winken und laufen dann weiter den Canyon hinab Richtung Dorf. Als 2006 das, was man in Mexico schlicht ‚La Violencia’ nennt, begann und die ersten Marihuanafelder in die Hänge des Canyons hineinrasiert wurden, schienen die Narcos noch etwas von dem über Generationen geprägten Anstand der Menschen hier zu haben. Denn die Narcos, das sind zu 70% Leute wie du und ich, erzählt Rábano. Manchmal, meist abends, kommen diese ‚narcofizierten’ Ex-Dorfbewohner für ein paar Stunden ins Dorf. Doch sie sind dort nicht Teil der Gemeinschaft, sondern werden bloß geduldet und gefürchtet, jedoch niemals konfrontiert.
Auf dem Rückweg hatte es Rábano auf einmal sehr eilig – unruhig von einem Bein aufs andere tretend, hatte er vor dem Toyota gestanden, als wir noch am Wasserfall Fotos machten. Wir können noch oben, wo die Straße über die Bergkette führt, Fotos machen, hatte er gesagt, als wir im Auto saßen und er aufs Gaspedal drückte. Doch dann, als wir oben am Hang standen, hatte er zum Aufbruch gedrängt, noch bevor die Sonne untergegangen war. „Warum die Eile“ hatte ich wissen wollen. „Wir sind auf Zeta-Boden“ entgegnete er und steuerte den Toyota immer schneller in die Kurven der Straße. „Und ich kenne die Zetas nicht.“ Creel, die erste Station des Zugs ‚Chepe’ welcher von Chihuahu Stadt aus die Sierra durchkreuzt, ist heute die einzige, noch verbliebene Touristenbastion der Sierra Tarahumara. Creel, erklärte Rábano, sei unter der Kontrolle der Chapos. „Der regionale Don war in der Oberstufe einen Jahrgang über mir. Wenn wir an eine der Straßenkontrollen der Narcos kommen, muss ich nur langsam auf sie zufahren und sie erkennen mich“ sagt Rábano und plötzlich ergibt sein freundliches Zücken des Cowboyhutes einen ganz anderen Sinn. „Die Zetas kennen mich jedoch nicht.“.
Das Geröll unter meinen Schuhen gerät ins Rutschen und reißt mich aus den Gedanken. Ich lüpfe die Krempe des Hutes und sehe meine Gefährten auf eine breite Straße zurennen, einem Bauprojekt, welches während der letzten Jahre immer wieder ins Stocken geriet, nun aber zum Abschluss gebracht werden soll. Planiert, jedoch noch nicht befestigt, ähnelt die Straße durch den Regen einer Rutschbahn, die ins Tal führt. Das Straßenprojekt wird von den Rarámurimännern ausgeführt. 150 Pesos – rund 7 Euro – verdienen sie für die Arbeit pro Tag unter der sengenden Sonne – 7 Euro dafür, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Denn die Straße bietet direkte Anschlüsse auch, oder vor allem, für die Narcos. So werden sich die Rasuren in der Landschaft des Canyons bald mehren und Rarámuri nicht mehr auf ihren eigenen Feldern arbeiten, sondern auf den Mohnfeldern der Narcos. ‚Dort drüben’, hatte mir Manuel noch beim Aufstieg zur Bergkette erklärt, „zwingen sie die Leute bereits unter vorgehaltener Waffe zur Arbeit auf den Mohnfeldern.“ Das ist die neueste Methode der Narcos – nach der Enteignung kommt die Zwangsarbeit.
Die Mädchen, traditionell mit dem Hüten der Ziegen in den Bergen beauftragt, verlassen heute nicht mehr die Grenzen des Dorfes. Zu viele sind bereits von Narcos vergewaltigt worden. „Die Regierung schert sich nicht um das Schicksal dieser Frauen – weder gibt es Statistiken, noch eine Anlaufstelle für Traumatisierte.“ sagt Diana Villalobos, Direktorin der 1999 mit dem Ziel der technischen Hilfestellung für die Indigena der Sierra gegründeten NRO CONTEC. Ganz so wie ihre Kollegen von der ‚Alianza Sierra Madre’, befasst sich ihre NRO hauptsächlich mit der juristischen Verteidigung der Indigenas. „Wir begleiten Ráramuri, die vertrieben, vergewaltigt, erpresst oder misshandelt wurden sowie Hinterbliebene von Mordopfern.“ sagt Villalaobos und fügt hinzu, dass die Regierung für diese Menschen keinerlei Hilfen bereitstellt „Ich spreche dabei nicht nur von den Menschen der Sierra Tarahumara und Chihuahua, sondern vom ganzen Land.“. Selbst wenn der Drogenkrieg eines Tages enden sollte, wird dass mexikanische Volk noch Jahrzehnte mit den Auswirkungen von Gewalt und Vertreibung zu tun haben. Als erste und einzige Instanz hat CONTEC dieses Jahr begonnen, Opfer und deren Familien auf ihrer Flucht aus der Sierra zu begleiten und Hilfestellung zu geben. „Legale Schritte gegen die Gewalttäter lassen sich jedoch nicht einleiten“ sagt Villalobos seufzend „denn die Angst der Opfer vor den Folgen einer Anzeige ist zu groß.“. Man kann es ihnen nicht verdenken, scheint das Recht den Staat doch schon lange verlassen zu haben. Dennoch ist die Anzeige, so Villalobos, der einzige Weg den Tätern beizukommen.
Die Straße verbreitert sich und vor uns liegt die Schule. Doch der Lehrer kommt nur noch alle zwei Wochen und so liegt das Gebäude verlassen da inmitten der Sintflut. Manuel, der ein kleiner Punkt weit vor mir war, bewegt sich plötzlich nicht mehr. Als ich näher komme, sehe ich, dass ein Lederriemen seiner Sandale gerissen ist. Er knüpft das Schuhwerk neu zusammen, aber der Riemen reißt erneut, worauf der Rarámuri einfach weiter läuft und die lose Sandale wild um seine Fußfesseln schlägt. Die Rarámuri sind die ausdauerndsten Läufer der Welt. Etliche Forscherteams haben bereits Aufzeichnungen ihrer Lauftechniken gemacht, ihre Ernährung und Gehirnwellen studiert, sowie Theorien zum Barfußlaufen entwickelt. Das Laufen der Rarámuri geht auf die Jagd zurück, denn traditionell jagen sie, indem sie mit dem Tier durch die Sierra laufen, bis es aus Erschöpfung zusammenbricht. Diese Hetzjagd kann Stunden, ja Tage andauern. Neben dem Ziel, das Tier zu erlegen, hat die Jagd vor allem eine spirituelle Bedeutung. Das erlegte Tier wird zum Opfer, welches den Jägern die eigene Demut, die sie dem Leben entgegenbringen sollten, vor Augen führt.
„Die Rarámuri sind Kämpfer, das haben sie deutlich gezeigt, als im 15. Jahrhundert die Jesuiten in die Region kamen und versuchten, ihnen das Land abzunehmen“. sagt Adriana. „Zweihundert Jahre widerstanden sie, bis sie schließlich den neuen Herren des Landes weichen mussten und sich in die unwegige Bergregion der Sierra zurückzogen.“ In der Einsamkeit der Berge, erklärten diese Menschen der Moderne als solche eine Absage. „Das ist es, was die meisten Leute einfach nicht verstehen.“ erklärte mir Adriana, als wir im Schutze der großen Plastikplane, die das Vordach zu Manuels Haus bildet, Bohnen verlasen. „Hier in Mexiko hat fast jeder ein romantisches Bild von den Rarámuri im Kopf. Doch dieses Bild hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun und sobald diese Leute hierher kommen und das Nichtstun der Rarámuri sehen, denken sie ‚Faulheit’. Wenn sie die Kargheit der Behausungen sehen, denken sie ‚Kulturlosigkeit’. Dann bemerken sie die langen Wege zur Wasserstelle und zum Feuerholz und denken ‚das kann man doch besser machen!’ Sie kommen mit ihren Ideen und allerlei Gebrauchsgegenständen vom Wanderschuh bis zur Kettensäge, die helfen würden das Leben der Rarámuri komfortabler und effizienter zu gestalten.“
Wenn dann die Einsicht folgt, dass all dies nicht gewünscht ist, sitzt die Enttäuschung tief. „Was sie nicht sehen, ist die spirituelle Dimension – mit der sich die Rarámuri seit Jahrhunderten befassen. Jedes Umräumen der Dinge der profanen Welt, stellt eine potentielle Störung in der Ordnung ihrer spirituellen Welt dar.“ Sie lächelt und blickt auf die sich füllende Schale. „Kargheit hilft, einen Überblick zu bewahren, einen Sinn für das Wichtige, sowie Demut zu üben.“. Sie lacht, als sie die Hände ins Kreuz stemmt und den Rücken streckt. Seit Stunden hocken wir auf Steinen, denn im Rarámurihaushalt gibt es keinen Stuhl, keinen Tisch, keinen Ort den Körper auszuruhen. „Ich weiß, ich sollte das nicht sagen“ sagt Adriana etwas verlegen, „viele meiner Antropologen-Kollegen halten mich für naiv, doch ich denke, dass die Rarámuri auch den Narcotráfico überstehen werden.“ Überrascht schaue ich auf. „Ihre Geschichte hat die Rarámuri gut auf diese Situation vorbereitet und ich glaube, dass sie die Kraft haben werden – vielleicht als die einzigen Mexikaner – die Violencia zu überstehen ohne Teile ihrer Identität einzubüßen oder ihr natürliches Selbstverständnis zu verlieren“.
Der Weg verjüngt sich wieder, rechts und links tauchen die ersten, kleinen Felder auf, die das Dorf umgeben und auf denen uralte Maissorten wachsen. Durch den Regen erkenne ich den großen Felsen, auf dem wir die Abende verbracht haben. Manuel ist bereits außer Sicht. Als ich das kleine Haus erreiche, ist die Familie im Inneren versammelt. Der Ausbruch der Natur hat sie nicht sonderlich gerührt, man zündet ein Feuer an und kocht das Essen an diesem Abend einfach im Haus, anstelle wie sonst üblich, draußen, unter der Plane. Mir wird eine Decke über die Schultern gelegt, ein Glas Tee gereicht, und in aller Stille essen wir die mittags verlesenen Bohnen.
#ALIANZA SIERRA MADRE#rarámuri#tarahumara#chihuahua#drogenkrieg#mexiko#sierra madre#barranca del cobre
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Mara Sanchez Renero (MX), Danila Tkachenko (RU)
THE BIG UNKNOWN
The Big Unknown, en búsqueda de lo natural. En México, como en el resto del mundo, cada año miles dejan el campo para trasladarse a la metrópolis. Lo Natural lentamente se adentra en los puntos ciegos situados al borde de nuestra conciencia. ‘¿Qué es lo natural, y qué es eso para nosotros?’ son las preguntas que plantea The Big Unknown. Lo Natural deja de ser un entorno real inmediato, para convertirse un lugar ficticio –algunas veces ideal– que visitamos con recelo y al que le resultamos extraños.Sin embargo, lo natural en su forma más arcaica continúa apareciéndose dispuesto –algunas veces con fuerza, otras como nada más que luces y sombras– en el espacio urbano. Roland Barthes habla del ‘punctum’ en sus estudios sobre fotografía. Al ver los elementos a nuestro alrededor, cierto punto visual captura a nuestros ojos creando un delicado ‘hors-champ’ (‘fuera de campo’). Con el ‘punctum’, Barthes se refiere a la terminología de la Óptica para la cual, la Acomodación está definida como la distanciaentre el punto más cercano (punctum proximum) y el más lejano (punctum remotum) del campo visual. En The Big Unknown –cuarta exposición de ALMANAQUE– dos artistas: Mara Sánchez-Renero y Danila Tkachenko nos llevan en un paseo antipodal, mostrando su ‘punctum’ personal. Una visión exquisitamente única –hecha por el hombre– del paisaje, lo ‘natural’ y el mero espacio.
THE BIG UNKNOWN A quest for Nature
In Mexico, just as in the rest of the world, thousands are leaving the countryside each year, moving to the metropolis. Nature is slowly verging into the blind spots outlying on the rim of our consciousness. ‘What is nature, and what it is to us?’ is the question The Big Unknown is posing. Nature, by shifting from being a real, immediate surrounding, to a fictive, sometimes ideal place scarily visited, which leaves us as strangers to nature, abstracting and re-constructing our concept of it.
And yet, nature in it’s archaic form, keeps appearing to us – sometimes forcefully, sometimes in forms, lights and shadows, displayed in the city space. When we look at the elements around us – from landscape to object, from looking at the sun to looking at it with closed eyes, there often appears a visual spot that catches our eyes creating a delicate ‘hors champ’. Barthes called it the ‘punctum’ in his studies on photography.
The Big Unknown, ALMANAQUE’s forth exhibition, is trying to catch theses expressions nature is formulating in the visual arts at the moment. It will take us around the world, showing photographers and artist’s personal ‘punctum’ – an exquisitely unique, men-made vision of landscapes, ‘nature’ and mere space.
Mara Sanchez Renero (MX), Danila Tkachenko (RU)
#mara sanchez renero#Danila Tkachenko#ALMANAQUE#Roland Barthes#Nature#photography#Mexico city#Corinna koch#ciudad de méxico
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MEXIKOS NEUE DIVEN
Extrem konservative, aber auch äußerst fortschrittliche Realitäten prallen in der Hauptstadt des nordamerikanischen Landes aufeinander. Die Zerrissenheit zeigt sich besonders für transsexuelle Sexarbeiterinnen undbetörende Dragqueens.
‚Amor Eterna’ (in ewiger Liebe) steht am Rand des überlebensgroßen Starschnitt-Fotoposters. Mit dieser Abschiedsformel wird Juan Gabriel, Mexikos König der Herzen, nun bereits seit mehr als achtzig Tagen ‚Adios’ gesagt. Die Tränen des Volkes, welches sich zu Tausenden zu seiner Trauerfeier eingefunden hatte, sind inzwischen getrocknet und Mexikos wohl meistgeliebter Sänger hat nun Einzug in den Olymp der Diven gehalten. Zurück bleibt sein Abbild, in Form von Postkarten und Fotos, die in Windeseile in den Druckereien der Stadt vervielfältig wurden und nun an jedem zweiten Zeitungsstand erhältlich sind. Aber wie kann ein Sänger, der zwar kein offizielles Coming-Out hatte, aber dennoch offen homosexuell lebte, in einer erzkatholischen Gesellschaft wie Mexiko derart geliebt werden? Und wie passt es zusammen, dass man in dieser Stadt, in der es über zweihundert homophob motivierter Gewalttaten während der letzten zwanzig Jahre gab, auf offener Straße so viele homo- und transsexuelle Menschen sieht?
Ich gehe zu meiner Freundin Lía la Novia, einer New-Age Sirene, die hoch über den Dächern der Stadt in der Besenkammer eines Mehrfamilienhauses lebt. Vor zwei Jahren lernte ich die Performancekünstlerin und Transgender Aktivistin kennen. Heute macht Lía ihre Rolle als Transfrau und Kind der Stadt in kleinen Performances einem breiten Publikum zugänglich. Sie verkörpert weibliche Archetypen: mal ist sie als Christian Andersens kleine Meerjungfrau in der städtischen U-Bahn gestrandet, mal eine ‚Quinceanera’ – eine Fünfzehnjährige, die ihren Einstand in die Welt der Erwachsenen feiert und dann wieder die namensgebende ‚Novia’, die Braut.
„Heute mag ich nicht hinausgehen“ sagt Lía, als wir auf der Matratze ihrer Kammer liegen. „Nach dem was mit Paula passiert ist.“ Paula, Sexarbeiterin auf dem Transsexuellenstrich an der Puente de Alvarado Allee, wurde die Nacht zuvor von einem Freier erschossen. Dies geschah vor den Augen von Paulas Kolleginnen im Auto des Freiers, nachdem dieser das Offensichtliche feststellte – Paula war ein Mann. Doch trotz der Zeugenaussagen ließ die Polizei den Freier gehen. Er war ein Beamter im Verwaltungsapparat der Polizeibehörde. Lía stemmt den Ellenbogen in die Matratze. „Nach allem, was wir erreicht haben für unsere Szene – die Gesetze die wir durchgeboxt haben, die unsere Stadt heute zu einer der fortschrittlichsten in Sachen ‚Gender’ und ‚Queer-Rights’ macht: die gleichgestellte Ehe, legale Abtreibungen sowie die Anerkennung der Transsexualität“ sagt Lía und guckt aus dem Fenster „und dennoch kann man in dieser Stadt als Transfrau keinen Fuß vor die Tür setzen, ohne darüber nachzudenken, ob man wohl lebend zurückkehren wird.“
„In Mexiko bedeutet Männlichkeit alles.“ führt sie fort und dreht das Gesicht mit den vollen, weinrot gemalten Lippen zu mir: „Dieses Geschlecht zu verlassen und damit seine Vormachtstellung aufzugeben, stellt einen Affront für jeden Mann dar, der an dieses Regelsystem glaubt.“. Doch bleibt bei aller Männlichkeit und Machokultur eine Lust für dieses ‚andere’ Geschlecht, welches sich allerorts in der Stadt anbietet. Scharenweise stehen die transsexuellen Sexarbeiterinnen in gleich mehreren Vierteln der Stadt. Unzählige Male bin ich auf meinem Heimweg im Taxi nachts an ihnen vorbeigefahren und habe ihre kleinen, zierlichen Körper bewundert, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen, die dunkle Haut auf der die schillernden Farben des Make-ups irisierend leuchten.
„Es ist der kleine Tod“ sagt Lía, den manche Männer in einer solchen Situation nicht verkraften. Das Verlangen fällt von ihnen ab wie eine alte Haut, und plötzlich stehen sie nackt vor der Wahrheit. In ihrer Verzweiflung suchen sie ein Opfer, das ihre Sünde tilgt. So werden wir Transfrauen im Faucaultschem’ Sinne zu Delinquenten.“ fügt Lía nach einer langen Pause hinzu und bezieht sich auf den von Michel Foucault geschöpften Begriff der ‚micro-delincuencia’ – der Schuld derer, die den Normen entkommen indem sie sich für eine andersartige Sexualität entscheiden. Zwei mal die Woche fährt Lía neuerdings ins Gefängnis, wo sie inhaftierten Transfrauen einen Workshop zum Thema Zuneigung anbietet. Dort lernen sie damit umzugehen, dass ihre Zuneigung in der Gesellschaft gleichzeitig gesucht und verhasst ist. „Die meisten Transfrauen sitzen wegen Diebstahls in Haft,“ erzählt Lía „meist sind es von Freiern erdachte Diebstähle – zur Anzeige gebracht um diese Frauen dafür zu bestrafen, dass sie ihre Wünsche nicht erfüllt haben, ihr Verlangen nicht stillen konnten oder eben das Gegenteil – dass sie etwas in ihnen weckten, dessen Realität sie nicht aushalten konnten.“.
„Unsere Gesetze repräsentieren die Radikalität unsere Stadt.“ sagt Lía. Doch die neue, überaus liberale Gesetzgebung, die sie auf dem Papier mit dem Rest der Bevölkerung gleichstellt, ist in der Gesellschaft noch lange nicht angekommen. So spielt sich hier im Kleinen ab, was für die Zerrissenheit unserer Zeit steht, in der ultrakonservative auf ultrafortschrittliche Realitäten prallen und gleichzeitig neue Allianzen zwischen Gleichgesinnten aus aller Welt entstehen und aus Minderheiten Mehrheiten werden. „Nach wie vor fehlt den meisten Menschen die Vermittlung des Gedankenguts, welches dieser neuen Politik zugrunde liegt.“. Lía hat also beschlossen, ihre Kunst an die Orte zu tragen, die von den unteren Gesellschaftsschichten besucht werden. Dort, im Wagon der U-Bahn, auf den Volksfesten oder im Bazar feiert sie sich als Sirene, als Braut und als Quinceanera und verwendet dabei die Symbole und Rituale der populären Kultur.
Damit beweist sie Mut, denn ihre persönliche Freiheit im öffentlichen Raum zur Schau zu stellen ist riskant. Freiheit wird in Mexiko nur selten gemeinschaftlich gefeiert – erst kam die Konquista durch die Spanier, dann die blutige ‚Revolution’, die das Land in den reichen Norden und den armen, indigenen Süden teilte, dann die Diktatur, und schließlich das heutige, fein austarierten Machtgefüge zwischen Drogenbanden, Staat und einer Heerschar von geschmierten Mitwissern und Schreibtischtätern. In einem solchen Land ist die persönliche Freiheit, wie wir sie im Westen leben, geradezu unbekannt. Und dennoch: das Gefühl im gleichen Boot zu sitzen, die Allianzen zwischen den kleinen Leuten, zeigen eine viel natürlichere Toleranz, die sich weitab von der reglementierter Toleranz der leitenden Elite abspielt. Diese Toleranz ist viel rudimentärer und für die, die sie nicht selbst erlebt haben, gleichzeitig wunderbar und befremdlich.
Ein Lichtstrahl tritt durchs Fenster und taucht die über und über mit Nippes beladene Dachkammer ins Licht. Lías Gesicht strahlt jetzt als sie sagt: „Den Mexikanern fließt das Gefühl anders zu sein im Blut – wir kennen die Diskrimination wie kaum eine andere Nation. Unserer Fähigkeit entgegen aller Wahrscheinlichkeit Einigkeit zu erzeugen und innerhalb dieser Einigkeit Akzeptanz für jegliche weitere Andersartigkeit, spürt man unter Mexikanern sofort. Das ist, wenn du so willst, die mexikanische Seele. Der, der dies so unglaublich deutlich aufgezeigt hat, ist Juan Gabriel. Er brachte die mexikanische Seele virtuos zum Klingen.“. Die Sonne neigt sich bereits, als ich schließlich über die Feuerleiter von Lias Dach herabsteige. „Du solltest Roshell besuchen“ hatte mir Lía noch zum Abschied gesagt. „Sie war eine der ersten Aktivistinnen der Stadt und ist wie eine Mutter für uns alle.“.
Auf meinem Heimweg stehe ich an einer Ampel und sehe ich in das Gesicht einer Transfrau, die mich unverwandt anblickt. Ihr Haar ist ebenso blond wie meines und für einen Augenblick lächeln wir uns gegenseitig an. Schwer mit Einkäufen bepackt, ist sie mit ihrer Mutter, Schwester und kleinen Nichte unterwegs. Ich wohne in einem ‚Barrio Bravo’ also einem sozialschwachem Viertel. Es sind die sozialschwachen Viertel dieser Stadt, in denen ein L., G., B. oder auch T. absolut keinen zu jucken scheint. Hier ist es ganz selbstverständlich, dass einige der ‚Ghetto-Rosen’ Transfrauen sind und manche ‚harten Kerle’ Transmänner. Sie heißen Juan oder Juanita, Pablo oder Paola, Dario oder Dolores; verkaufen Tacos oder Raubkopien und wie alle anderen verstehen sie sich als Mensch – nicht als Minderheit – gegenüber korrupten Polizisten, Kleinkriminellen und Mafiosos zu behaupten.
Ende der siebziger Jahre, als LGBT noch Böhmische Dörfer waren, gab es im Bewusstsein der Leute nur schwule und nicht schwule Menschen. Manche Schwule verkleideten sich als Frauen und fuhren so in der U-Bahn oder liefen in der Stadt herum. Von ihnen wusste man, da die mexikanische Klatschpresse, die sogenannte ‚Nota Roja’ – ‚roja’, ‚rot, wegen des vielen Blutes, welches auf den Titelseiten zu sehen ist – es liebte die Fahndungsfotos dieser Cross-Dresser abzudrucken, verkauften sich die Nummern doch besonders gut. Ein Monopol auf diese skandalösen ‚Mujercitos’ (Frauchen), wie die Cross-Dresser bis heute in Mexiko politisch unkorrekt genannt werden, sowie deren Bälle, Schönheitswettbewerbe und Hochzeiten, die in rauschenden Festen innerhalb der Community gefeiert wurden, hielt die Klatschzeitung Alarma!. „Schau“ sagte mir meine Freundin Susanna Vargas, die zu dem Thema promovierte und vor Kurzem einen schaurig-schönen Bildband mit dem alten Alarma!-Material herausbrachte: „In Mexiko gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, welches besagt dass alles – und ich meine alles – toleriert werden kann, so lange wir uns darüber lustig machen dürfen. Du kannst dich also aufführen wie du willst, vom kleinsten Fehltritt bis zur größten Gräueltat. Dein Herausfallen aus der Rolle, die dir von der Gesellschaft aufgedrückt wurde, wird in diesem Land immer als ein spätes Rebellieren gegen die koloniale Vorherrschaft interpretiert und so verziehen werden.“.
Auf diesem gesellschaftlich verankertem Code basiert alles – sei es die politische Gewaltherrschaft über die Drogenkartelle oder die Korruption. Das Volk reagiert auf all dies seit Jahrhunderten auf die selbe Art und Weise: es macht sich lustig. ‚Albur’ nennt sich diese Form mexikanischer Ironie, die bis zur Conquista zurückzuführen ist. Eine chiffrierte, vulgäre und von sexuellen Anspielungen nur so überflutete Sprachschöpfung des kleinen, unterdrückten Mannes. „Unser Humor funktioniert wie eine Schmerzpille gegen die nun seit Jahrhunderten andauernde Ungerechtigkeit.“ sagt Susanna und lächelt traurig.
Der Club Roshell liegt in einem Viertel, das von mächtigen Hauptverkehrsstraßen eingekeilt eine geduckte Atmosphäre vermittelt. Der Winterwind bläst Blätter durch die Straße, als ich vor dem Einfamilienhaus stehen bleibe, welches mir die App als mein Ziel anzeigt. Ich zögere, bevor ich die Klingel drücke – wie ein Travestieclub sieht dieses Haus nicht aus, kein Schild, kein Name und auch sonst deutet nichts auf das schillernde Innere dieser geschlossenen Auster hin. Dann öffnet sich die Tür einen Spalt und eine zierliche Trans-Brünette mit traurigen Augen und Puppenmund zeigt sich. „Ich habe einen Termin mit Roshell“ sage ich erleichtert darüber, offensichtlich an der richtigen Adresse gelandet zu sein. Doch hallt meine Stimme deutlich zu laut durch die Straße und der weinrot geschminkte Mund der Pförtnerin zuckt konstatiert. Hastig suchen ihre Augen die Straße ab, dann öffnet sich die Tür etwas weiter und ich werde am Arm ins Innere gezogen. „Warte hier“ sagt sie streng und tritt vom Vorraum in einen roten Salon. Dann sehe ich Roshell. Sie hat einen keilförmigen Körper, fast die gesamte Masse scheint oberhalb der Taille zu sitzen, mit breitem Kreuz, runden Schultern, kräftigen Armen, einem kurzen Hals und einem Bauch, der direkt unter der Brust beginnt und sich über schlanke Beine zu zierlichen Füßen verjüngt. Roshells Haupt ziert eine goldene Haarpracht, die in langen Wellen über die Schultern fällt.
Sie habe sich heute als feine Dame aus Polanco, dem Reichenviertel der Stadt, zurechtgemacht sagt Roshell und lacht röhrend. Jessy, eine lange und dürre Transfrau und Fiedel-Castro-Schirmmütze kommt herein und bietet uns Drinks an. Ich schaue auf das überlebensgroße Porträt eines jungen Mannes, welches hinter ihr an der Wand prangt. „Das ist Erasmo“, sagt Roshell, meinem Blick folgend. „Wir waren viele Jahre lang ein Liebespaar, bis Luis starb.“. Wer Luis sei, will ich wissen, worauf Roshell erklärt, sie sei Luis gewesen, bevor sie sich entschied eine Frau zu werden. Gerade achtzehn Jahre alt waren sie, als ihre Beziehung begann – sie studierten gemeinsam an der Schauspielschule. Als eine kleine Drag-Nummer für ein Theaterstück an dem Palacio de Bellas Artes besetzt werden sollte, fiel die Wahl auf die beiden. Der Auftritt sollte für Luis zum Schlüsselmoment in seinem Leben werden. „Als ich fertig kostümiert war und in den Spiegel blickte wurde mir klar‚ ‚das ist es!’ nie wieder will ich ein anderer sein.“ erzählt mir Roshell und lächelt, wobei sich eine Spur von Traurigkeit über ihr Gesicht legt. „Mit der Entscheidung mein Geschlecht zu wechseln, begann eine lange und schwierige Trennungsphase zwischen Erasmo und mir. Unsere Liebe musste einen neuen Weg finden, wir wurden Freunde, doch etwas starb dabei.“.
Als die Hormone, die sie damals einzunehmen begann, ihre Wirkung zeigten, wurde Luis arbeitslos. „Es gibt leider immer noch nur wenige Berufe, in denen du als Transfrau arbeiten kannst – Garderobistin, Stylistin, Klamotten-Verkäuferin oder Kabarettistin. Wenn es damit nicht klappt, bleibt bloß die Sexarbeit. Und doch können wir von Glück reden, dass wir zumindest diese Berufe haben.“ sagt Roshell und lächelt mir enthusiastisch zu. „Ich war geschickt im Schminken und sah zudem zu dieser Zeit selber wirklich umwerfend aus. Also eröffnete ich meinen eigenen Schönheitssalon“ sagt sie augenzwinkernd und nippt an ihrem Branntwein. Wie so oft im Gewerbe um die Schönheit kamen die Menschen nicht nur für die Pflege ihres Äußeren, sondern auch um über ihre Sorgen und Probleme zu sprechen. „Ich habe mich auf die Rolle eingelassen anderen auf ihrem Weg zu helfen, auch wenn das nicht der Traum des jungen Schauspielstudenten Luis war, habe ich diese Arbeit gerne gemacht.“. Heute ist Erasmo Roshell’s Geschäftspartner in dem Club, der ihren Namen trägt. Wie Sonne und Mond treten sie nur abwechselnd auf den Plan.
Ob ein Schweigen Juan Gabriels zu seiner Homosexualität nicht zu Enttäuschungen seitens der L.G.B.T. Szene geführt habe, will ich wissen. Roshell schüttelt heftig mit dem Kopf:
„Anfangs war die Wut in der Szene schon sehr groß. Aber dann waren da die Lieder Juan Gabriels – hunderte hat her damals geschrieben – und alle schienen dieselbe Botschaft zu tragen: dass alles Bemühen um Abgrenzung nur auf Äußerlichkeiten basiert.“. Sie pausiert und sieht mir prüfend ins Gesicht „Ich meine damit, dass am Ende deine sexuellen Präferenzen sein können was immer sie sind, dass du dich kleiden kannst wie du willst, dass deine Art zu sprechen, zu feiern, zu streiten sein kann wie du willst – das was am Ende zählt, ist, was du im Herzen trägst.“ sagt Roshell und lehnt sich triumphierend im Sessel zurück. So wurde die Absage Juan Gabriels, der Öffentlichkeit das Private, in profane Worte verpackt ausdrücklich zu machen, zu einer Meditation für eben diese Öffentlichkeit. Denn was nützen Worte für jene, die bereits sehen und spüren, was er ist, und was nützen sie für diejenigen, die diese Wahrheit nicht, oder noch nicht, akzeptieren können? Die Tür des Vorzimmers öffnet und schließt sich nun immer öfter und mal große, mal kleine, mal junge mal alte jedoch allesamt äußerst sorgfältig zurechtgemachte Transfrauen betreten den Raum und werden mir eine nach der anderen formal vorgestellt. Einige Transfems, also Männer, die sich zu Transfrauen hingezogen fühlen, sind auch dabei. Dass die Transfem-Männer hier unter den Augen aller mit den Transfrauen anbändeln, ist eine geschickt von Roshell konstruiert: Sie erzeugt Sicherheit durch soziale Kontrolle, denn die Männer müssen sich offen zeigen und zu den sexuellen Botschaften stehen, die sie aussenden. So wird Kultur geschaffen, durch die Pflege dieses Umgangs innerhalb des sozialen Gefüges dieser Mikrogesellschaf im Club Roshell.
Die Sirene, deren Geburtsstätte der Club Roshell war, und deren Stern inzwischen hoch am Himmel steht, ist die Trans-Sängerin Morganna Love. Sie studierte Gesang an der staatlichen Musikakademie, wobei sie ihre Ausbildung als Mann begann und als Frau abschloss. Vor gut drei Jahren sah ich sie in dem Travestieclub la Perla im Zentrum der Stadt. Dünn wie eine Gottesanbeterin, mit viel zu großen Plateausandaletten an den ebenfalls dünnen Füßen und bekleidet mit nichts weiter als einem pinkfarbenem Paillettenbody hatte sie zitternd vor Kälte oder Aufregung dort mit herber und doch lieblicher Stimme Popsongs gesungen. Ihre Schüchternheit kompensierte sie mit einem verlegenen Lachen und wiederholtem gesenktem Blick, während sie gefährlich strauchelnd mit langen Beinen über die vom bestuhlten Publikum umringte Bühne schritt und dabei an ein umzingeltes Jungtier erinnerte. Selbstredend war die Stimmung sexuell aufgeladen und ein Blick in die Gesichter des Publikums ließ neben Erstaunen über dieses zarte Geschöpf inmitten der sonst so über-operierten wie verhärmten Transfrauen die normalerweise das Repertoire des Clubs bestimmten, auch das sexuelle Verlangen spüren.
Heute reist Morganna durch die Welt und füllt ganze Opernhäuser. Es war nicht einfach, mit Morganna in Kontakt zu treten, aber schließlich erhielt ich eine Nachricht, dass wir uns treffen können. Nun sitzt sie mit einem großen Glas grünem Fruchtsaft vor mir und schien noch zierlicher, aber dennoch weiblicher als damals. „Sexualität ist Geschmacksache“ sagt sie, und lacht kokett auf, wobei sie den Kopf in den Nacken wirft und einen sanften, an einen Paradiesvogel erinnernden Schrei ausstößt, der von einem Seufzen gefolgt wird. Ich betrachte die weißen Zähne, die zwischen den schmalen Lippen sichtbar werden und das kantige, gebräunte Gesicht. „Am Ende gibt es keine Kategorien sexueller Präferenzen, die man Menschen zuordnen könnte – mir zum Beispiel gefallen ausschließlich Männer, die ordentlich und adrett angezogen sind.“ sagt sie und lacht noch einmal auf, „damit bin ich sicher nicht die einzige – aber muss man hierfür unbedingt einen Namen finden? Eine Kategorie aufmachen?“. Sie schaut mir in die Augen, nimmt schmunzelnd einen Schluck und fügt hinzu: „Wir Transfrauen sind ganze Menschen und der Denkfehler, uns nur auf unsere Sexualität zu reduzieren, ist nach wie vor das größte Problem, dass wir mit der Gesellschaft haben. Auch die Männer, die sich zu Transfrauen hingezogen fühlen, haben Probleme die Natur ihrer Gefühle zu erfassen – sind sie schwul, weil die Frau, zu der sie sich hingezogen fühlen, einen Penis hat?“. Sie blickt hinaus auf die Straße, wo ein Trupp junger Leute vorbeizieht „Die Androgynität der Transfrauen, das Exzessive in ihrer Art sich zurecht zu machen, die Körperlichkeit, ihr Mut, das gefällt vielen – und das sind doch alles recht maskuline Züge“ sagt sie und fährt fort: „Doch ich bleibe dabei, auch das ist einfach Geschmackssache, es gibt da kein Raster.“.
Derweil unterscheidet sich das Frauenbildnis, welches Morganna von den Trans-Frauen gezeichnet hat, radikal von dem Bild einer mexikanische Cisgender[*]-Frau. Sie zählt die Prinzipien dieser Erziehung wie einen Abzählreim auf: „Keine Einsprüche, keine Ansprüche, keine Kritik. Sag nichts, bevor du nicht gefragt wirst, mache keine Vorschläge und denke vor allem niemals, dass du es besser weißt.“. So fallen mexikanische Frauen selten aus dem von der Gesellschaft vorgegebenen Rahmen, weder durch einen auffälligen Kleidungsstil, noch durch eine eigenwillige Denkweise.
Wir zahlen und ich begleite Morganna durch die von Menschen überfluteten Straßen des Marktviertels. Morganna, in einen schwarzen Wollmantel gekleidet, gleitet elegant durch die Massen der Menschen, die hier Handel betreiben. „Ich spüre den Unterschied deutlich – was es bedeutet, oder wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein“ sagt Morganna jetzt mit gedämpfter Stimme. „Ich war komplett von meinem Testosteron gesteuert, bevor mir der Penis abgenommen wurde. Ich war ständig sexhungrig und auf der Suche nach dem ‚Wo? Mit wem? Mit allen!’“ sagt sie und lacht wieder ihr Paradiesvogel-Lachen. „Jetzt beäuge ich die Männer eindringlich und evaluiere ständig: nein, mit dem nicht, mit dem auch nicht und dem auch nicht’. Ich habe das Gefühl, ich müsse mich und meine Sexualität schützen. Ich möchte, dass Liebe die Hauptrolle spielt bei meiner neuen Sexualität.“. „Entschuldige bitte“ sage ich, nach einem Moment des Schweigens, „aber das hört sich total konservativ an!“. Wieder lacht sie „So schließt sich der Kreis. Weißt Du, ich habe immer die großen Diven bewundert – Renata Tebaldi und Maria Callas. Sie waren Rivalinnen, die eine hatte die Stimme, die andere das Feuer, die Leidenschaft beim Singen. Doch sobald die Callas die Liebe ihres Lebens fand, begann das Feuer zu versiegen, ihre Präsenz auf der Bühne erlosch. Diese große Sehnsucht erkenne ich bei uns Transfrauen wieder. Die Sirene, die sich nach den Seefahrern verzehrt, die ihre Leidenschaft aber nicht bändigen kann und die Objekte ihrer Begierde schließlich tötet. Doch der Tod hält ihre Leidenschaft am Leben – nur die Angepasstheit kann sie töten – so wie es mit Andersens kleiner Meerjungfrau geschieht.“.
„Es gibt so viele Geschichten und so viele die tragisch enden, aber auch so viele glückliche in dieser Gesellschaft. Ich denke dass wir, die wir in einem Land mit vielen Kulturen leben, in dem mehrere Realitäten koexistieren, bereits seit Jahren eine Pluralität leben, die sich in anderen Gesellschaften erst jetzt zu formen beginnt.“ Es ist das Herz, mehr als der Verstand, das dabei hilft, diese vielen und sicherlich bald namenlosen Strömungen und Gruppen zu akzeptieren. Da wo die Sprache aufhört, da wo der gebildete Mensch einsieht, dass es keinen Sinn mehr macht dem LGBT noch einen weiteren Buchstaben anzuhängen, da kommt das Herz erneut zum Zuge. Es ist Zeit anzunehmen, dass die lineare Entwicklung der Menschheit zu einem Halt gekommen ist – jetzt expandieren wir in die Breite, beschreiten tausend neue Pfade die seitlich in den tiefen Urwald des Menschseins führen.
„An diesem Freitag trete ich im Club Roshell auf“ hatte Morganna ein paar Tage später geschrieben „Komm vorbei!“. Abends sitze ich an einem der Bistrotische im Kabarettsaal. Kurz vor Mitternacht trifft Morganna ein, ein langes Cape aus schwerem, grauschimmernden Stoff liegt auf ihren zarten Schultern und wird seitlich von einer schweren Spange zusammengehalten. Das Haar hat sie aus dem Gesicht frisiert und ihr Paradiesvogellachen, erscheint noch dramatischer als zuvor. Ihr Gesang, der bald darauf ertönt, hat nichts mehr mit dem Auftritt des kleinen Sternchens zu tun, das ich vor drei Jahren in der Perla sah. Morganna singt die Königin der Nacht, Piaf und Verdi. Sie tanzt nicht, zieht sich nicht aus und doch verbreitet sie eine Spannung, die ihr leidenschaftlichstes Publikum in Salzsäulen verwandelt hat. Ihr letzte Lied ist ‚Yo te recuerdo’ von Juan Gabriel und wir alle stimmen ein, beseelt und von glühender Sehnsucht erfasst.
[*] Cisgender (lat. cis- „diesseits“ und engl. gender „Geschlecht“), teilweise auch Zisgender bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
#casa Roshell#berlinale#transgender#Mexico city#trans frauen#transgressive#Morganna love#lia la novia#Mara Sanchez Renero#Juan Gabriel#gay#queer#trans#mexiko#mexiko stadt
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Roger Steffens and The Family Acid, Escape of the Auras 1979
BEYOND ZERO
El grupo de artistas reunidos alrededor de Kasimir Malévich: llamado Supremus se reunía hace un siglo —precisamente en 1916— para discutir la filosofía del movimiento artístico que conocemos como Suprematismo.
Al respecto, Malévich le explicaba a un colega en una célebre carta: "Planeamos fundar un movimiento y hemos empezado a discutir su cómo y porqué. Tenemos el propósito de reducir todo a la nada. Solo entonces podremos partir de cero".
Durante el Suprematismo, Kazimir Malévich y sus colegas exploraron las formas geométricas más básicas como el círculo, el cuadro y la línea, representados en una gama limitada de colores para concentrarse en “la supremacía del sentimiento puro hacia el arte”.
En la era hiper-realista de nuestros días, que documenta incluso los aspectos más privados de la existencia formando un registro que merodea las esferas de lo visual atravesadas por lo mediático, social, noticioso, popular y artístico; es buen momento de volver la vista atrás para reconciliarnos con los sentimientos más genuinos que el arte permite experimentar.
Beyond Zero —la exhibición colectiva que Almanaque presenta durante la primavera de 2016— parte los principios de experimentación futurista del Suprematismo para mostrar obras fotográficas contemporáneas que bordean el arte abstracto.
Anouk Kruithof (NL), Fabiola Menchelli (MX), Fernando Etulain (MX), Jon Cazenave (ES), Roger Steffens and The Family Acid (USA)
BEYOND ZERO
The Supremus group around Russian painter Kasimir Malevich met exactly one century ago in 1916 to discuss the philosophy of the artistic movement called Suprematism and its development into other areas of intellectual life.
In a letter to a colleague, Malevich explained: “We are planning to put out a journal and have begun to discuss the how and what of it. We intend to reduce everything to zero. Afterwards we ourselves will go beyond zero“.
In Suprematism, Kazimir Malevich and his fellow artists focused on basic geometric forms, such as circles, squares, lines, and rectangles, painted in a limited range of colors, corresponding to a “pure feeling towards art”. In our hyper-real world of today, where even the most profane aspects of life are documented forming a register that meanders in the visual spheres, touching social media, news, pop culture and art, it is time to go back and touch base with a true feeling that art, in it’s most etheric form, allows us to express.
ALMANAQUE’s spring exhibit “Beyond Zero” re-interprets this space of futurist experimentation, and show photographic works that touch the essence of abstract art.
Anouk Kruithof (NL), Fabiola Menchelli (MX), Fernando Etulain (MX), Jon Cazenave (ES), Roger Steffens and The Family Acid (USA)
#corinna koch#almanaque#Mexico city#ciudad de mexico#Anouk Kruithof#Fabiola Menchelli#Fernando Etulain#Jon Cazenave#Roger Steffens and The Family Acid
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WO DIE WILEN FRAUEN WOHNEN
Wie Boliviens indigene Frauen ihren Kampf um Gleichberechtigung im Wrestling austragen
Um vier Uhr steht eine Horde Alpaka-Pulli bekleideter Touristen zum abholen bereit für den Bus, der sie zu der Arena der Wrestling Cholitas’ bringen soll. Zu den von der Höhensonne verbrannten Gesichtern tragen einige, dem nächtlichen Temperatursturz um 20 Grad zum Trotz, Flip-Flops an den nackten Füssen. In der auf 3600 Metern gelegenen Stadt fällt die Temperatur sofort extrem ab, sobald sich die Sonne hinter die schneebedeckte Bergkette der Königskordillere zurückzieht. Wenig später schiebt sich unser in giftgrüner Bus ächzend die Serpentinen der Hauptstraße nach El Alto hoch – der einstige Stadtteil von La Paz, der sich heute, nach Jahren des Zuzuges der verarmten Landbevölkerung, vom oberen Rand der Stadt weit in die Hochebene erstreckt. Die Nachmittagssonne scheint golden auf den westlichen Hang der Stadt, die in einem tiefen Canyon gelegen ist. Die unverputzten Backsteinhäuser drängen sich dicht an dicht und strahlen rot auf. Das Bild eines Termitenhügels steigt vor meinem inneren Auge auf, nur ist dieser invertiert, hat er doch vielmehr die Form eines Trichters als die eines Hügels.
Das Kolosseum ist ein rohes Konstrukt aus gelbem Fiberglas Lamellen und Beton. Das Publikum auf den billigen Plätzen hat sich bereits versammelt. 5 bolivianische Peso, rund 70,- Cent, kostet ein Platz in den aus Beton gegossenen Rängen, 90,- Pesos kostet es die Touristen, Eintritt in die Welt der wrestelnden Cholitas zu erhalten. Dafür bekommen sie Popcorns und Cola frei Haus, sowie sicheres Geleit in die Stadt, deren Pflaster als eines der härtesten Lateinamerikas gilt. Auf den Rängen hocken Männlein und Weiblein friedlich nebeneinander, die Beine in mitgebrachte Decken gehüllt. Ein paar Kinder rutschen nervös auf ihren Hosenböden herum, sie wollen ihre Cholitas sehen. Endlich geht es los und die Kämpferinnen kommen tanzend, die Hände erhoben und die Hüften kreisend, in die Manege gelaufen, gefolgt werden sie von Maskottchen, als in Fabelwesen verkleidete Tänzer. Bevor sie sich in den Ring hievt, legt die Kämpferin Namens Juanita La Cariñosa ihr Geschmeide ab; die aus reinem Gold gefertigten Ohrringe, den Hut und den mit langen Fransen versehenen Schal.
Juanita La Cariñosa steht breitbeinig in den Seilen und springt dann mit einer sich wie ein Fallschirm aufblähenden Rüschenrock auf ihre in giftgrün gekleideten, bereits am Boden liegende Kontrahentin hinab. Diese krümmt sich vor Schmerz, muss aber gleich noch mehr einstecken. Dann packt Juanita die Arme bei den Zöpfen und zerrt diese wie einen störrischen Ziegenbock durch den Ring. Zum Glück eilt Hilfe für die Gequälte herbei –Silvina La Poderosa (Silvina die Mächtige), beginnt Juanita laut knallenden auf die Brust zu schlagen. Bei den Damen, die dort in knallbunte Tracht gekleidet die Köpfe einhauen, handelt es sich um eine kleine, eingeschworenen Gemeinde von wrestelnden ‚Cholitas’, Indigena Frauen aus den Anden, die deren Freikämpfe man in den Kolosseen der Stadt verfolgen kann.
Die mexikanischen Freikämpfe ‚Luchas Libres’ stand Pate für die Kämpfe der Cholitas, nur das die Kollegen im Norden ihre Showkämpfe kostümiert austragen. Die Cholitas hingegen Kämpfen in einer Tracht, die ihre Urahninnen sich vor über Hundert Jahren zugelegt haben. Juanita’s Beiname ‚La Cariñosa’ (die Zärtliche) ist ein ironisches Kommentar darauf, dass sie in Wahrheit der Kategorie der ‚Rudas’ angehört, also eine ‚böse Luchadora’ ist, Gegnerin der ‚Técnicas’, der ‚guten’ Kämpferinnen im Ring. Die Touristen stehen derweil wie Erdmännchen auf ihren Plastikstühlen und recken die Hälse. So geht es zwei Stunden lang um die Wurst. ‚Malitas’ und ‚Buenitas’ Cholitas ziehen ein und aus, aus dem Ring, mal als strahlend tanzende Siegerinnen, mal als theatralisch heulende Verliererinnen.
‚Die Zärtliche’ taumelt jetzt, und fällt gleich darauf aus dem Ring. Doch Silvina lässt nicht ab von ihr. Die zwei Frauen stürzen durch den Gang zwischen Tribüne und Ring, während es auf sie vom Publikum aus Mandarinen und Coca Cola regnet. Juanita schnappt sich eine zwei Liter Cola Flasche des unartigen Zuschauers und schüttelt sie, als sei diese eine Magnum Champagner Flasche in den Händen eines Formel Eins Gewinners. Es geschieht, was geschehen muss: Silvina wird von einer Coca Cola Fontäne erfasst und gerät ins Taumeln. Da reicht ihr ein Junge mit vor Aufregung leuchtend roten Wangen einen Plastikstuhl, und die arme Juanita wird mit diesem verdroschen.
Nach nur ein paar Stunden Aufenthalt in der Hauptstadt Boliviens wird eines klar: die Cholitas prägen das Bild der Stadt. Die arbeitswütigen Frauen betreiben Markstände, waschen Autos, sind Schalterdamen oder verkaufen laut schreiend Tickets für die Reisebusse des Landes. Was für viele bereits offenkundig war und nun auch die neusten Wachstumszahlen belegen, ist das die wirtschaftliche Kraft der Cholitas und somit ihr persönliches Vermögen, das im Schnitt das der Männer im Land um Einiges übertrifft. So blicken einem nun auch immer öfter Cholitas freudig lächelnd von den großen Billboard Plakaten entgegen, auf denen sie für Mikro-Kredite und Eigenheim Finanzierungen werben. Wenn sie nicht gerade bei der Arbeit sind, schleppen die tüchtigen Cholitas Kinder, Brennholz, Säcke voller Kartoffeln und sogar Gasflaschen durch die Stadt. Kaum vorstellbar ist, wie es möglich sein konnte, diesen omnipräsenten Frauen noch vor weniger als einer Dekade den Zugang zu den meisten Restaurants und öffentlichen Einrichtungen der Stadt zu verwehren. Heute sitzen gleich mehrere von ihnen im Parlament und Boliviens ‚First Lady’ ist, Sie ahnen es, eine Cholita. Doch es gibt auch eine andere, traurige Realität: Die Hälfte aller befragten Frauen sind mindestens einmal in ihrem Leben Opfer physischer und/oder sexueller Gewalt geworden, was Bolivien zum traurigen Spitzenreiter Südamerikas Statistik in Sachen häuslicher Gewalt macht.
Eine Cholita üppig sein, die Wangen voll und rosig, die Hüften ausladend, die Waden stark und rund. Hände und Füße jedoch sollen klein und schmal sein, um der kleinen wie runden Gestalt der Cholita etwas Graziles zu verleihen. Das Haar ist zu langen Zöpfen geflochten und oben auf dem Scheitel sitzt eine viel zu klein geratene Melone. Dieses törichte Ding, das ebenso nichtsnutzig und doch bezaubernd daherkommt, wird von seiner Trägerin gerne mit einer filigran gesponnenen, goldenen Brosche verziert. Man könnte die auffällig stolzen Pose der Cholitas, auf diesen Bowler Hut zurückführen. Eine große Ladung dieses Bowler Hutes brachte im 19. Jahrhundert ein europäischer Geschäftsmann nach Bolivien, um sie an die Herren des sich gerade modernisierenden Landes zu verkaufen; doch er schätzte den Kopfumfang der bolivianischen Männer falsch ein. So beschloss er, die edlen Filzhüte den bolivianischen Frauen als ‚den letzten Schrei’ aus Europa anzupreisen – ein modischer Coup: Ein männliches Accessoire in Miniaturversion, dem es nicht an der süffisanten, versteckten Ironie fehlt, die dem lateinamerikanischen Humor so eigen ist. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt geschah es auch, das die Verwandlung der Cholita zur spanischen Edelfrau auf halber Strecke stecken blieb, und die zur Anpassung bereiten Indigena, statt Anerkennung Spott erfahren mussten. Doch waren sie nicht kleinzukriegen, vielmehr standen die Cholitas zu ihrem aus Missverständnissen kreierten Aufzug, der in dieser Form in keinen Kulturkreis mehr hineinzupassen vermochte. Die Tracht der Cholita wurde zu einem Fetisch, der kulturelle Zerrissenheit der jungen Frauen auszudrücken vermochte, vergleichbar mit den abgefahrenen Kopftuchkreationen der Muslima von Neukölln.
Die Pollera, so heißt der traditionelle Rüschenrock, der aus bis zu 30 Meter Stoff gefertigt wird, verbirgt während des Kampfes gerade mal so viel von der Scham der Kämpferinnen, wie das abstehende Röckchen eines Funkenmariechens. In einer Kultur, in der das entblößen der Wade bereits als kokett verstanden wird, ist dieser Vorgang ein Skandal. Trotzdem fehlt es den Luchadoras nicht an Selbstsicherheit. Die siebzehn Jahre junge Kämpferin in Giftgrün, die nun nach dem Kampf auf einer Bühne mit Touristen für Fotos posiert, erklärt stolz was sie über ihr exzentrisches Hobby denkt: „Wir Cholitas sind das einzige, kulturelle Erbe dieser Stadt. Niemals würden wir das aufgeben. Und ganz sicher nicht jetzt.“ Sagt sie und lacht, wobei sie zum ersten mal kindlich wirkt. „Als kämpfende Cholitas zeigen wir dass wir gleichzeitig Traditionsbewusst und stark sind.“ Führt sie fort „in welchem anderen Land verbindet sich Feminismus mit Tradition auf diese Art?“
„El Alto de pie, nunca de rodilla“ (El Alto steht aufrecht, niemals auf den Knien!) steht’s draußen, vor dem Kolosseum an eine Hauswand geschmiert. El Alto, die Zwillingsstadt von La Paz, in dem die heruntergekommene Arena steht, ist die letzte Bastion vor dem sich auf 170.000 km² qm Kilometer erstreckendem Altiplano, hat durch seine Lage eine unbestreitbare Machtstellung. Die einzigen Schnellstraßen, die La Paz mit dem Rest des Landes verbinden, führen durch El Alto, und auch der Flughafen liegt hier. Im Handumdrehen können so die Bewohner El Altos die Hauptstadt belagern, und die jahrhundertelang unterdrückten Indigena scheuen nicht, dies zu tun. Einer, der El Altos Macht erstmals unter Beweis gestellt hat war der Aymara Führer Tupac Katari, der im späten 18. Jahrhundert von hier aus eine Rebellion gegen die Spanier anführte, und die Stadt im Tal mit ein paar Straßensperren vom Rest der Welt abschnitt. Als vor dreizehn Jahren Boliviens Regierung im Begriff war, das nationale Erdgas über die Häfen des verfeindeten Chiles an die US Amerikaner zu verkaufen, erhoben sich die Bewohner El Altos erneut zum Aufstand. Sie verwendeten während des sogenannten Gaskrieges eine ähnliche Strategie wie ihr Vorvater und Volksheld. Zahlreiche Menschen starben in den Unruhen, derzeitiger Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada war gezwungen das Land zu verlassen.
Über die Entstehungsgeschichte der ‚Wrestelnden Cholitas wir d beinahe ebenso beinhart gestritten wie im Ring. Eine, recht plausibel wirkende Version lautet das es die handgreifliche Auseinandersetzung zweier Gemüsehändlerinnen war, die, umringt von einem schaulustigen Publikum, einem vorbeischlendernden Kolosseum Betreiber die Augen über das Potenzial der kämpfenden Cholitas öffnete. Wie auch immer es Begann, die wrestlenden Cholitas schlugen wie eine Bombe ein. Heute wollen die Cholitas es zu Weltruhm bringen „Wir wollen zu Kämpfen nach Europa, Amerika und Asien eingeladen werden.“ Erklärt Juanita, ein wenig abseits der Fotobühne, und schaut dabei zuversichtlich. Derweil sind die Cholitas Luchadoras in ihrer eigenen Stadt die Superheldinnen der kleinen Leute. „Wir Kämpferinnen sind wie ein Ventil für den Frust der Leute“, sagt Juanita später im Bus, als wir alle verausgabt, doch glücklich wieder hinunter in das Lichtermeer der Stadt fahren. „Aber am wichtigsten ist, dass wir eine simple, doch wichtige Botschaft für sie bereithalten: Manchmal verlierst du, und manchmal gewinnst du – das Blatt wendet sich ständig.“
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LUFTVERKEHR FÜR JEDERMANN
Wie Boliviens erstes Nahverkehrssystem soziale Gräben überquert
La Paz. Diese Stadt macht Angst. Auf 3500 Meter Höhe mitten im Altiplano der Anden gelegen, streckt sie sich auf schwindelerregende Weise tief hinab in den Canyon des Río Chokeyapu. Ihre Flanken sind von unzähligen, kubisch geformten Backsteinhäusern bedeckt. Eingerahmt wird das Bild dieses Stadt-Schlundes von den schneebedeckten Bergen der Königskordillere, die majestätisch hinter dem östlichen Rand der Stadt aufragen.
Schaut man von ihrer obersten Kante, dort wo auf 4000 Meter Höhe die Hochebene beginnt und der Wind gnadenlos durch die Straßen des Arbeiterviertels ‚El Alto’ weht, hinab in den Schlund dieser Stadt, überkommt einen ein Gefühl wie bei Hitchcock´s Vertigo. Ist man jedoch unten im ‚ Casco Viejo’, dem im 16. Jahrhundert erbauten Stadtkern von La Paz und schaut hinauf, erscheint es einem, als wäre eine gigantische Tsunamiwelle aus Backstein im Begriff, über die Stadt zu rollen.
Es ist sechs Uhr morgens und ich trete aus dem Flughafengebäude auf die bitterkalten Straßen von El Alto. Die Morgendämmerung ist gerade dabei, sich an den oberen Kanten der Bergkette abzuzeichnen. Kurz darauf leuchten die schneebedeckten Berge im Gegenlicht auf, als sich die Sonnenstrahlen an ihrer Rückseite entlangtasten. Ein silbriges Licht lässt die Stadtlandschaft wie eine Mondlandschaft erscheinen.
Ein Minibus, dessen Insassen schweigend beieinander sitzen, beginnt sich mühevoll über kurvige Straßen ins Tal hinabzuschrauben. Das Thermometer zeigt minus zehn Grad an und die Passagiere des Minibusses sind warm eingepackt. Es sind Männer mit eleganten Filzhüten und Wollpullundern unter ihren Sakkos sowie mehrere ‚Cholitas Paceñas’. Die indigenen und Mestize Frauen der Stadt tragen voller Stolz ihre bereits im 18. Jahrhundert kreierte Tracht, bestehend aus weit ausladenden Rüschenröcken, langen Zöpfen und einer Melone, die viel zu klein geraten auf der Krone ihrer Köpfe aufsitzt. Sie sehen drollig aus, diese Frauen mit ihrer Aufmachung, die in ihrer Absurdität gleichzeitig etwas herzerwärmendes hat –ganz so wie der drollige Look der einstigen Queen Mom, der mit seinen Bonbonfarben und ebenfalls skurrilen Hutkreationen, einst den Mut seiner Trägerin zur Selbstironie unter Beweis stellte.
Bauarbeiter sind auf der kurvigen Straße unterwegs. „Sie verbreitern die Straße damit der Verkehr auf der Passage nach El Alto wieder ins fließen kommt“, erzählt mir der Fahrer, dessen Profil die kantigen Züge eines Aymara trägt. Die indigene Volksgruppe macht heute zirka 40% der Bevölkerung Boliviens aus, und hat mit Evo Morales Wahl 2003, nach Mexikos Regenten Benito Juarez, Amerikas zweiten, indigenen Präsidenten hervorgebracht. Die Sonne kommt hinter der Bergkette hervor und strahlt golden auf die unverputzten Backsteinfassaden der westlichen Flanke der Stadt. Als sie schließlich über den zackigen Rand der Bergkette klettert und mit voller Kraft auf die Backsteinsiedlungen an der westlichen Flanke des Canyons scheint, erglüht die Stadt in einem satten orange und der Tag beginnt.
Über uns schwebt eine rote Gondel vorbei. Gemächlich und doch schnurgerade wie ein Satellit auf seiner Umlaufbahn, zieht sie hinab ins Tal. „Das ist eine Gondel der Mi Teleférico“, erklärt der Fahrer „Unser öffentliches Gondelnetz. Ich glaub, die ist von ihren Landsleuten gebaut worden.“ Ich schaue noch einmal hinauf zur Gondel und mache eine Reihe von Bowler Hüten aus, deren Trägerinnen aufrecht sitzend ins Tal blicken.
Die erste, die rote Linie, des La Pazer urbanen Gondelnetzes, verbindet den Stadtkern mit dem ehemaligen Problemviertel der Stadt, El Alto, welches während der 50er Jahre von verarmten Bauern und arbeitslos gewordenen Grubenarbeitern der Hochebene in Eigenregie, und zum Unwohl der gutsituierten Paceñas, aufgebaut wurde.
Heute ist El Alto mit über 2 Millionen Einwohnern La Paz rein zahlenmäßig überlegen und auch seine Wirtschaftskraft übersteigt die der Hauptstadt unten im Canyon. Gleichzeitig ist El Alto aber auch eine der ärmsten Städte der Welt, 70% seiner Bewohner leben unterhalb der Armutsgrenze, 50% sind jünger als 19 Jahre und ganze 88% haben nie das Lesen und Schreiben erlernt.
„Es ist die erste, indigene Stadt Amerikas seit der Kolonialzeit“, sagte Felix Muruchi, ein Professor der präkolumbianischen Kultur an der öffentlichen Universität von El Alto vor drei Jahren der ‚New York Times’ über die Natur dieser jungen Stadt. „Ein Spanier hat das nicht geschafft. Ein Kreol, Nachkomme der Spanier, hat es ebenfalls nicht geschafft. Es war die indigene Bevölkerung selbst, die Aymara, die es geschafft haben, eine solche Stadt zu kreieren." So empfinden auch die meisten Bewohner El Altos ihre Stadt als Eine, die gespeist ist aus der Sehnsucht ihrer Bewohner nach einem besserem Leben. Das dies Bemühen bereits Früchte trägt, verraten einige große Herrenhäuser, die im ‚Neoandinen’ Baustil errichtet, zwischen den ärmlichen Backsteinhäuschen emporragen. Die mit in leuchtenden Farben bemalten, und mit rautenförmigen Spiegelglasscheiben versetzten ‚Chalets’, wie sie ihre Bewohner gerne nennen, spiegeln das Wachstum der Stadt wieder – aber auch wie ungleich dieses verteilt ist.
Unten in der Talsohle dominieren die nicht enden wollenden Schlangen von Minibussen das Stadtbild, die mal vollgepackt, mal leer scheinbar planlos die Stadt durchkreuzen. „Wir sind viel zu viele“, sagt der Fahrer leise, als ich ihn nach seinem Berufsstand frage. „Und es werden täglich mehr. „Sehen sie die Minibusse mit den grünen Nummern auf dem Dach?“ fragt er und deutete auf einige der im Stop-and-go Tempo gefangenen Fahrzeuge vor uns. „Die kommen alle aus El Alto hinunter, um hier nach Fahrgästen zu suchen, die sie dann wieder hinauffahren können“, sagt er mit bitter klingender Stimme. „Die sollten besser da oben bleiben, anstatt uns hier unten die Kundschaft streitig zu machen.“ Ob es denn keine Fahrpläne oder Regulierungen gäbe, will ich wissen. Da lacht der Fahrer bitter auf. „Hier macht jeder was er will. Du kaufst einen Minibus und los geht’s – keine Lizenz, keine Prüfung, keine Route an die du dich zu halten hast.“
In der roten Farbe der Erstlingslinie ‚Línea roja’ die im Mai 2014 vom Präsidenten Evo Morales eröffnet wurde, spiegelt sich der soziale Hintergedanke dieses Projektes wieder. Mi Teleférico soll rein verkehrstechnisch das zusammenzufügen, was in der 191 jährigen Geschichte des Landes nie zusammengefunden hat. Das 1985 als eigenständige Stadt erklärte El Alto, mit der im 16. Jahrhundert gegründetetn Hauptstadt. El Alto, die letzte Bastion vor dem sich auf 170.000 km² qm Kilometer erstreckendem Altiplano, hat durch seine Lage eine unbestreitbare Machtstellung. Die einzigen Schnellstraßen, die La Paz mit dem Rest des Landes verbinden, führen durch El Alto, und auch der Flughafen liegt hier. Im Handumdrehen können so die Bewohner El Altos die Hauptstadt belagern, und die jahrhundertelang unterdrückten Aymara scheuen nicht, dies zu tun. Einer, der El Altos Macht erstmals unter Beweis gestellt hat war der Aymara Führer Tupac Katari, der im späten 18. Jahrhundert von hier aus eine Rebellion gegen die Spanier anführte, und die Stadt im Tal mit ein paar Straßensperren vom Rest der Welt abschnitt. Als vor dreizehn Jahren Boliviens Regierung im Begriff war, das nationale Erdgas über die Häfen des verfeindeten Chiles an die US Amerikaner zu verkaufen, erhoben sich die Bewohner El Altos erneut zum Aufstand. Sie verwendeten während des sogenannten Gaskrieges eine ähnliche Strategie wie ihr Vorvater und Volksheld. Zahlreiche Menschen starben in den Unruhen, derzeitiger Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada war gezwungen das Land zu verlassen.
Als der Aymara Aktivist Evo Morales in der Sache der Kokabauern aus dem Tiefland im selben Jahr zum zweiten mal zur Präsidentschaftswahl antrat, wurden die Bewohner El Alto’s zu seinem wichtigsten Fürsprecher. Doch auch ‚Evo’, wie ihn hier alle nennen, musste 2010 ein Jahr nach seiner dritten Wiederwahl feststellen, dass auch er vor dem Zorn der stolzen Neustädtler nicht gefeit ist. Als seine Regierung Änderungen an Subventionen, die zu einem starken Anstieg der Benzinpreise geführt hätten, vorschlug, blockierten El Altos Bewohner wieder einmal die Hauptstadt und zwangen Morales zur Aufgabe seines Plans. Diese Wir-lassen-uns-nicht-die-Butter-vom-Brot-nehmen Attitüde der Bewohner El Altos, macht die vielleicht revolutionärste Stadt ganz Lateinamerikas widersprüchlicher Weise gleichzeitig Zeit zur neoliberalsten.
„El Alto de pie, nunca de rodilla“ (El Alto steht aufrecht, niemals auf den Knien!) stehts an eine Wand in El Alto geschmiert. Es ist 12:00 Uhr Mittags und der Staub tanzt im grellen Licht der Sonne. Ich hatte die Gondel in der Talstation bestiegen, die sich, in dem ehemaligen Hauptbahnhof befindet, der seit der Aufgabe des Schienenverkehrs in den 70erJahren verweist ist. Das schlechte Omen dieses gescheiterten Vorgängerprojektes in Sache öffentlicher Verkehrsmittel, scheint die Betreiberfirma der Gondelbahn nicht abgeschreckt zu haben. Von der Glastür des Eingangs aus blicken mir aus dem Logo der Mi Teleférico zwei Augen entgegen. Dort wo sich die mehrfach gezogenen Lienen des Teleférico T’s in der Mitte verdichten, ist das Gesicht des Viracocha, des altgedienten Götterboten aus Aymaralegenden, eingezogen. Derweil zieren die beiden Enden des oberen Balkens des T’s die Köpfe zweier Andenkondore; die eleganten Aasfresser, deren Gestalt mal abstrakt, mal realistisch, in Webarbeiten indigener Kunstweber dargestellt, seit Jahrhunderten die Künstler der Anden beschäftigen. Die blitzsauber gewischten Hallen der Talstation könnten ebenso gut in Kitzbühel oder Zermatt stehen, so modern und luftig ist ihre Architektur. Auch die Auslagen der Schokoladenläden der bolivianischen Marke ‚El Ceibo’, die in der Talstation untergebracht sind, sowie das in blau-graue Skijacken gekleidete Personal, erinnert an einen Skiurlaub in den Alpen. Und tatsächlich ist es die schweizer Firma Namens Garaventa, die gemeinsam mit ihrer österreichischen Schwesterfirma Doppelmayr La Paz Flügel verleiht. Doch statt Skifahrern, reihen sich Cholitas und Schulkinder vor dem Schalter auf. Oben angekommen, strömen sie zu den Minibussen, die sich zahlreich vor der Bergstation scharen, bereit, die Leute bis in den hintersten Winkel der ausgedehnten Stadt zu fahren.
Dort oben in El Alto ist ein Schweizer gerade tüchtig am schuften. Der drahtige 51 Jährige mit dem Paul Newman Lächeln hat gerade einen Dreijahresvertrag unterschrieben. Er wird die Fertigstellung der sieben Linien sicherstellen, die La Paz’ Gondelnetz bei seiner Fertigstellung zu dem größten der Welt machen wird. Josef Kleinstein hat sich in den vergangenen Jahren zum Lateinamerikaexperten seiner Firma entwickelt. „Vor La Paz war ich in Caracas, der Hauptstadt von Venezuela, wo wir zwei Gondellinien installiert haben. Garaventa ist dabei für das Stützen stellen und die Seilzüge zuständig, die Stationen werden von Doppelmayr gebaut“, erzählt Kleinstein. Anders als in La Paz, wo es abgesehen von einem undurchschaubaren Netz von museumsreifen Bussen keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, ergänzt Caracas Metrocable sein bereist vorhandenes U-Bahnnetz.
Es weht kräftig, hier oben auf 4000 Meter Höhe und der Wind trägt den Sand der meist ungepflasterten Straßen mit sich. Eine dicht am Gesicht anliegende Sportsonnenbrille schützt Kleinsteins Augen. Seine Schirmmütze hat er tief in die Stirn gezogen. „2013, während der ersten Phase des Projektes, waren wir insgesamt sechsunddreißig Mann“ ,zählt er nach „sechs Schweizer, zwanzig Österreicher und zehn Spanier.“ Zu Weihnachten 2014 zogen die meisten Kollegen ab. Kleinstein blieb mit der Aufgabe betraut, rund 150 weitere Seilbahnstützen in der Stadt aufzustellen. Während in der ersten Phase des Projektes fast ausschließlich Europäer zu seinem Team zählten, setzt sich dieses heute zu 100% aus Bolivianern zusammen. „Ja, das ist schon ein Stress für meine Mitarbeiter – das Tempo, in dem wir jetzt arbeiten, ist schon ein anderes, als das, was man in Bolivien so gewohnt ist“, sagt er und schmunzelt.
Das Installieren der Masten stellt sich bei den 800 Metern Höhenunterschied der dichtbesiedelten Stadt alles andere als einfach dar. Allein einen Platz zu finden, um den schweren Kran aufzustellen, stellt das kleine Team vor schier unlösbare Probleme. Hinzu kommt die zuweilen recht rohbeinige Art der Paceños (so heißen die Bewohner von la Paz). „Da bekommt man schon Einiges zu hören, wenn wir in ihren kleinen Gassen unseren Kran aufstellen. Doch wir sind froh, wenn wir überhaupt einen Platz finden, wo das Joch des Krans Platz hat – bei den ersten Sektionen der Stadt, die wir 2012 in Angriff nahmen, war das manchmal schon sehr knapp.“ Ein paar Masten wurden damals mit dem Helikopter aufgebaut, doch an den meisten Stellen liegt die Stadt einfach zu hoch, um diese Methode überall anzuwenden. So kommt der aus Österreich eingeschiffte Kran allerorts zum Einsatz. Er sei stolz, sagt Kleinstein, dass sie es doch geschafft haben und auch Stolz, an einem solchen historischen Mammutprojekt maßgeblich beteiligt zu sein. „Die Leute in El Alto sind sehr angenehm – und nachdem, was man so von den Revoluzzern dieser neuen Stadt hört, war ich sehr überrascht darüber, wie angenehm die Begegnungen waren. Die Nachbarn gratulierten uns, sobald wir einen der Masten fertiggestellt hatten“, sagt Kleinstein. „Im Süden der Stadt, wo der Reichtum der Menschen mit jedem Kilometer zunimmt, je tiefer man ins Tal kommt, sind die Leute eher wie Europäer“, führt er weiter aus. „Wenn man denen dort was hinstellt, kommen schnell die kritischen Fragen nach dem warum und wofür gerade hier; sie müssen zur Arbeit und der Kran blockiere den Verkehr. Derweil lachen die Cholitas, die Indiofrauen/Indigena der Stadt, die als Marktfrauen ihre Stände überall in der Stadt haben, nur, wenn sie uns bei unserem Treiben zuschauen“, sagt Kleinstein und lacht über das Spiel zwischen den sozialen Schichten der Stadt.
Kritik an der ‚Mi Teleférico’ kommt auch von den unzähligen Minibusfahrern der Stadt. Privatleute, die ihren Minivan in eine Art Sammeltaxi umgebaut haben und während der letzten Dekaden die Hoheit über La Paz’ öffentlichen Verkehr hatten. „Sie haben Angst davor, dass wir ihnen mit unseren Gondeln die Arbeit streitig machen werden. Doch das stimmt einfach nicht,“ sagt Kleinstein, und lenkt dann ein: „Aber es ist völlig klar, dass man da als Selbstständiger, der seine Familie mit den 2 Bolivianische Pesos (0.3 Franken/Euros) durchzufüttern hat, die jeder Fahrgast einbringt, es erstmal mit der Angst zu tun bekommt, wenn da so ein modernes Transportmittel installiert wird. Doch ich denke, dass vielmehr das Gegenteil eintreten wird und diese Leute eine Fahrt mehr machen werden können, wenn der Strom der Pendler endlich wieder ins Fließen kommt.“
Die neuen Linien der ‚Mi Teleférico’ sind ebenso wie die Fassaden der ‚Chalets’, die Trachtenröcke der Cholitas Paceñas, der Aymara und Mestize Frauen der Stadt, sowie den zahlreichen Talismanen in den Windschutzscheiben der Minibusfahrer in leuchtenden Primärfarben gehalten. Die Farben rot, gelb, blau, grün und weiß vermögen dem Volksglauben nach böse Geister abzuwehren. Nichtsdestotrotz wird in der Stadt gemunkelt und spekuliert, wie viele Menschenopfer dieses Mammutbauprojekt wohl benötigt, oder besser gesagt: wie viele Menschenseelen ‚Pachamama’ - der Anden hungrige Mutter Erde - wohl im Tausch gegen ein glückliches Gelingen der vielen Maste, Tal-, Berg- sowie Zwischenstationen verlangt. Das Gemunkel, das einem zunächst wie eine für Touristenohren bestimmte Gruselgeschichte vorkommt, hat tatsächlich einen wahren Kern. Die kläglichen Beweise sind menschliche Gebeine, die immer wieder beim Abriss von Häusern in deren Fundamenten gefunden wurden – je größer das Gebäude, desto mehr Männer mussten dafür ihr Leben lassen. Dabei sind es selten die Bauherren, die Opfer für Pachamama anordnen, sondern vielmehr die Baustellenleiter, die wissen, dass ihre indigenen Arbeiter keinen Finger rühren werden, bevor Mutter Erde für das tiefe Aufreißen ihrer Böden nicht gebührend Tribut gezollt wurde.
Sergio Miranda, Sekretär des Chefs der Mi Teleférico, grinst nur schief, als ich das Gespräch auf diese okkulte Schiene lenke. „Touristenschreck“, sagt dieser nur und lehnt sich dabei in seinem Schreibtischstuhl hinter dem Dell Computer zurück. Doch es ist wahr, dass mit Evo Morales das Praktizieren vorchristlicher Rituale und Bräuche wieder zu florieren begonnen hat. Und auch bekannt, dass dieser einen Yatiri, einen der höchsten Schamanen der Aymara als persönlichen Berater in spirituellen Fragen an seiner Seite hat. „Evo hat seinen eigenen Stil, zu regieren,“ sagt Miranda zu meinen Fragen. „Sein Ziel ist es, sowohl Männer als auch Frauen des Aymara Volkes hinter sich zu vereinen, aber auch Brücken zu modernen Mestizen sowie den Wohlhabenden des Landes zu schlagen.“ Diese Volksgruppen, die auch Jahrhunderte nach der Eroberung Südamerikas auseinandergetrieben werden, versucht Morales nun mit dem Luftverkehr seiner Mi Teleférico beizukommen. „Dieses Verkehrsprojekt ist einzigartig. Wissen sie warum?“ fragt Miranda polemisch. „Es fördert ein demokratisches Verständnis, indem es den Leuten ganz deutlich, aus der Vogelperspektive zeigt, dass wir am Ende alle gleich sind“, sagt der junge Mann, wobei sein kluges Gesicht hinter der schwarzen Hornbrille kurz aufleuchtet. „Setzen sie sich doch einfach mal in die gelbe Linie, die von El Alto bis ins Mittelklasse Viertel Sopocachi führt. Dort steigen Sie in die grüne Linie um, die am Choqueyapu Fluss vorbei über die Höhe des Stadtteils des Frühlings führt, wo sie die Villen sehen werden. Dann geht es hinab in den fast 1000 Meter tiefer gelegenen Süden der Stadt, wo die großen Malls und Multiplex Kinos sind. Noch ein bisschen weiter kommen die hippen Stadtteile, wo europäische Molekularköche ihre Restaurants eröffnen, man den Kaffee mit Herzen im Schaum serviert bekommt und junge Bolivianer sich bei New-Age-Barbieren den Vollbart stutzen lassen. Von oben sieht am alles klarer“, sagt er noch als er mich zum Ausgang des ehemaligen Schuppens bringt, vorbei an den Schaukästen, die Architekturmodelle des ambitionierten Projektes bergen.
Am Abend schaue ich von der Dachterrasse meines Hotels den gelben Gondeln der im Herbst 2014 fertiggestellten Línea Amarilla zu, wie sie am Lichtermeer der sich hinter ihr auftürmenden Stadt vorbeiziehen. Ihr gleichmäßiges Dahingondeln hat etwas beruhigendes. Es gibt der ansonsten so chaotisch wie dreckigen Stadt einen Eindruck von beständiger Gleichmäßigkeit. Kleinstein hatte noch gesagt, er hätte gerade für die Mi Teleférico von den älteren Bewohnern dieser Stadt viel Zuspruch erfahren. Für sie ist es ein Genuss, sicher verpackt in dem Kokon der Gondel über die Stadt zu gleiten, die sich doch seit ihren Kindheitstagen so radikal verändert. „Das ist der gravierende Unterschied zu uns Europäern“, hatte er beobachtet. „Bei uns sind es eher die jungen Leute, die sich für neue Projekte begeistern und die Älteren, die sich vor einer Veränderung ihres Lebensraums verschließen. Doch die älteren Paceños sind wirklich begeistert von ihrer neuen Teleférico. Derweil wenn man die Jungen einmal fragt, welche Zukunft sie sich mit so vielen Autos in ihrer Stadt vorstellen – die meisten darauf keine Antwort haben.“
Unter blitzblauem Himmel und einer bereits am Morgen aus voller Kraft heizenden Sonne, mache ich mich am nächsten Tag dann auf die Fahrt. Von 4000 Meter Höhe in das 1200 Meter tiefer gelegene Tal. Und tatsächlich, vermag man die Augen von der malerischen Landschaft am Horizont zu lösen, und einen Blick nach unten zu wagen, sieht man dort unten in Puppenhausgröße die Leben der Anderen sich abspielen. Auf den Dachterrassen der Häuser von von Sopocachi sieht man wachende Hunde, die ihre Hälse recken, um zu erspähen, was auf der Straße unten vor sich geht. Dann zieht der jetzt zur Trockenzeit dünne Strom des Choqueyapu Flusses, der Einzige von über 300 Flüssen La Paz’, der nicht eingemauert wurde, an einem vorbei und man sieht ein paar Frauen dort am Ufer des Flusses kniend ihre Wäsche waschen. Dann kommen die Villen, in dessen Gärten aber das Kinderspielzeug ebenso wild im Garten verstreut liegt wie oben in El Alto. Dann die überfüllten Straßen der Zona Sur, wo die Reichen ebenso im Verkehr steckenbleiben wie die Armen oben in El Alto, oder die Mittelklasse Mestizen in Sopocachi und Miraflores. Ich schaue auf und mein Gondelmitfahrer von gegenüber schaut mir mit verschwörerischem Blick ins Gesicht. „Da staunt selbst ihr Gringos, nicht wahr? Unsere Gondeln tragen Bolivien endlich zurück ins Bewusstsein der Weltgemeinschaft – es wurde langsam Zeit.“
Neue Luzerner Zeitung | Nr. 180 | 6. August 2016
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PLANET DER FRAUEN
Was machen Amazonen, wenn sie Urlaub haben?
Frauen überall. Kämpferisch agitierende Frauen drängen sich derzeit mit voller Macht in die erste Reihe des kulturellen Betriebes, von wo aus sie uns aus ihrem Leben erzählen. Narrationen, die rundum ‚weichen’ Themeninseln wie das ‚ich’, das ‚du’ und die ‚anderen’ kreisen, zusammengehalten von im kollektiven Gedächtnis scheinbar rhythmisch auf- und wieder abtauchenden Zwischenmengen wie Identität, Freundschaft, Sexualität, Kampf und Politik. Heute schwärmen Frauen wieder zusammen, und zeichnen ein einziges großes und angriffslustiges Frauenbild, ganz so als seien sie Teile eines intelligenten Fischschwarmes, der sich angesichts der Gefahr von einem größeren Fisch verschluckt zu werden, sich in Formation begibt und so seinem Gegenüber als riesiger Monsterfisch erscheint.
Vergessen scheinen die Tage, an denen Frauen einer Ditta von These nacheifernd sich als sexuelles Objekt herausputzten und auf an Pin-Up Girls erinnernden Hackenschuhen im Bambigang durch die Stadt staksend Poll-Dancing Klassen nahmen und ‚50 Shades of Grey’ auf dem Nachttisch liegen hatten. Wer das Aus dieses am Ende häuslich-biederen Frauenbildes einläutete, lässt sich zu diesem Zeitpunkt schwer feststellen – da wäre Nelly Zink, die mit Ihrem Debütroman ‚The Wallcreeper’ einen emotionalen Haushalt zeichnet, der von blitzgescheitem Zynismus geprägt ist. Da war der neue Mad Max Film (der eigentlich ‚Mad Maxi’ heißen müsste) da in diesem Endzeitszenario die Frauen ganz klar das Zepter in der Hand haben. Gefolgt wurde dieser von der neuen Jedi Kämpferin in dem ersten wahren Star Wars Film seit Die Rückkehr der Jedi-Ritter, und jetzt neu die Ex-Hausfrau, Neuunternehmerin Joy in dem gerade gestarteten Alltagsdrama von David O. Russell, sowie die Jung-Frau, sozusagen, das Danish Girl.
So scheint es, als ob die österreichische Künstlerin Iris Andraschek keinen geeigneteren Zeitpunkt für die Veröffentlichung Ihrer bereits 2010 abgeschlossenen Fotoserie ‚Wait Until the Night is Silent‘ hätte finden können, beschreibt dieser doch die Leben von Frauen, die aussehen, als ob sie nicht kämpferischer und freier sein könnten. Die in satten Farben leuchtenden Fotografien erscheinen wie Kirchenfenster, durch die die Sommersonne scheint, und deren Abbildungen, geht man an ihnen vorbei, mit dem Lichteinfall zu verschwimmen beginnen. So changieren die Aufnahmen der Frauen, die mal in einer für das Auge beinahe undurchdringlichen Szenerie aus blumenbemusterten Decken und Tüchern, persischen Teppichen und abgetragenen Chiffonkleidern sich dem Nichtstun hingeben. Mal sieht man sie umgeben von Verkleidungskisten, Katzen und Hunden in Ihrem Künstlersquat (Unterschlupf), mal im stillen Wasser eines Sees stehen, an dessen Rändern die grauen Bäume wie stumm starrende Zeugen aus dem Wasser herausragen.
Die Motive sind nicht neu, jedes Bild scheint gleich mehrere Ur-Frauenbilder als Referenz im Rücken zu haben. So lässt sich hinter Andrascheks Frauenbilder andere, vorhergegangene erkennen, wie Botticelli’s ‚Venus’, zum Beispiel, Raphaels ‚Drei Grazien’, oder Gustav Klimts ‚Wasserschlangen’, und auch Vanessa Beecrofts Performances. Was in Andrascheks Bildern ablesbar ist, ist die zugegebenermaßen romantisierte Darstellung der Komplizenschaft unter den ‚gefallenen Mädchen’, den Huren der Wild West Saloons – die Frauen die ohne echten Namen, ohne Familienanhang, ohne Ring am Finger einst in die große Freiheit auszogen, um dort ihren Körper als Geisel für ihre Freiheit einzutauschen. Denn die Frauen, die Andraschek dort abgelichtet hat, scheinen aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit zu stammen. Entgeistert wie präraffaelitische Sirenen scheinen sie an der Kamera vorbei in das schwarze Loch der Ewigkeit zu schauen. Ihre Gesichter und Körper, wenngleich schön, sind ungeschminkt, und weisen Spuren ihrer Leben auf – Schwangerschaft, Sonne, Wind und Kälte und Falten gezeichnet von den Sorgen, die das Leben im Prekariat so mit sich bringen.
Iris Andraschek, schmunzelt in die Kamera ihres Laptops, das sie in ihrer Istanbuler ‚Artist in Residence’ Wohnung vor sich aufgestellt hat, um über den Atlantik hinweg mit mir zu sprechen. Auch wenn die kantige Hornbrille der Zweiundfünfzigjährigen anderes suggeriert, scheint die Österreicherin mitnichten kühl kalkulierend zu sein, sondern vielmehr mit jenem weiblichem Attribut ausgestattet das ‚Soziale Intelligenz’ genannt wird. Es ist deutlich spürbar: Andraschek ist eine Frau mit der man sofort befreundet sein möchte, eine Mary Poppins, deren Lächeln Warmherzigkeit und Wohlwollen so perfekt vermittelt, dass alles weitere nicht mehr der Rede wert scheint. Auch auf anderer Ebene erinnert Iris Andraschek an die fliegende Amme: Sie ist das, was man in Künstlerkreisen mitunter abfällig als ‚Stipendiumskünstlerin' nennt – eine Künstlerin also, die sich ähnlich wie der Wandermusiker, von einem Aufenthaltsstipendium zum nächsten hangelt. Diese mitunter kräftezehrende Ortlosigkeit hat aus Andraschek eine gemacht, die unkompliziert und anpassungsfähig beinahe Überall ihren Koffer (auch wenn dieser kein magischer, wie der von Mary Poppins ist) abstellen, und im Handumdrehen ein Heim schaffen kann.
So gelang es Andrascheck auch 2002 in die Begebenheiten hineinzuschlüpfen, als seien sie ein verlegter und wiedergefundener Handschuh, als sie einen Stipendiumsplatz in Durham, einer Provinzstadt in Ontario, Kanada annahm. Ausgeschrieben war der 3-monatige Aufenthalt von dem Künstlerehepaar Ilse Gassinger und Geoffrey Shea, die seit zehn Jahren in einer ehemaligen Mühle am Stadtrand lebten. „Oh je, dachte ich, als ich da ankam und hatte einen ziemlichen Schrecken bei der Frage, was ich dort eigentlich machen soll.“, sagt Andraschek und schürzt die Lippen zu einem Schmunzeln: „Obwohl ich derlei ‚Un-Orte eigentlich mag, doch bei der Ankunft in dieser Stadt, die im Grunde aus nur einer Straße bestand, habe ich schon geschluckt." Doch das Getaway in der kanadischen Einöde wurde für Andraschek schon bald zu einem Ort, an dem sie eine Freiheit erfuhr. Das Nichts barg die Chance etwas Eigenes zu kreieren und der Wille hierzu war es, was die kleine Gesellschaft von 70 Personen miteinander verband. Neben ökologischem Landbau, Kunst, Musik und Praktiken der Körper- und Seelenpflege wurde hier vor allem Freiheit produziert - und dies tagtäglich.
Die Bilder zeigen es: Dort, wo das Materielle knapp ist, springt Imagination ein. Bunte Plastiktüten verwandeln die nackte Tänzerin in einen Schmetterling, eine Lampe, unter den Rock der Stehenden geschoben verwandelt diese in eine, den Betrachter aufmerksam entgegenblickende Lichtgestalt, ein Ledergürtel wird zur Schlange, die sich über einen nackten Leib schlängelt und die leuchtend blau ummalten Augen der Blauäugigen mit dem florentinischem Gesicht, lassen das Bild irisieren. Und auch ein junges Punkmädchen, mit pinkfarbenen und zu einem Doppel Iro frisierten Haar, erscheint in Andraschecks Bildern und bezeugt mit ihrem Look die Heterogenität innerhalb dieser Mirkogesellschaft. Andraschecks Hauptdarstellerinnen sind jedoch zwei aus Europa stammende junge Mütter.
Ihre Heimat Deutschland und Polen zurücklassend, mit ihren Kindern im Schlepptau, jedoch ohne Mann, waren sie vor ein paar Jahren nach Kanada gekommen. Hier, in der entschmückten Version von Welt, in der Konsumobjekte lediglich ab und an wie abgewaschenes Treibholz angeschwemmt werden, bestritten sie nun ihre Leben. Auch dies wird sichtbar in den Bildern: Es sind Leben im Prekariat, sicher, andererseits scheinen es Leben zu sein, in denen wahrhaftig gelebt wird. Andraschek wurde bald zur Komplizen dieser beider Frauen, und adaptierte den Rhythmus, den sie vorlebten. So vermittelt ‚Wait Until the Night is Silent‘ eine Gelassenheit, ein in den Tag Hinein- und wieder Hinausbummeln, das das Konzept von Zeit nicht zu kennen scheinen.
Auch der Zeitsprung von einer Dekade, die zwischen der in zwei Zyklen entstandenen Serie liegt, scheint irrelevant. Nichts, noch nicht einmal die Frauen selbst, scheinen sich in der Abwesenheit der Fotografin verändert zu haben –sie sind die gleichen geblieben, dort in ihrer kanadischen Seifenblase. Und so wirft Andraschecks Buch noch eine weitere Frage auf: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? In der modernen Welt gibt es viele Möglichkeiten, Mensch zu sein und als dieser in Beziehung zu anderen zu treten. Die Anthropologie befasst sich seit ihrer begrifflichen Geburtsstunde in dem in Leipzig im 16. Jahrhundert veröffentlichten Buch ‚Antropologium’ mit der Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Die Antwort auf diese Frage ist ständigem Wandel ausgesetzt; ganz so wie die Welt, oder besser Welten, in denen wir leben, kein statisches Konstrukt ist. Wo sich die Anthropologie mit den Leben sogenannter ‚primitiver Menschen’ befasste, umfasst sie heute die Betrachtung aller Menschen –Zeitgenossen wie Menschen der Vergangenheit, Menschen die uns fremd sind, sowie Menschen, die wir als uns selbst nah und artverwandt empfinden. So erinnern unsere heutigen Realitäten – gleich ob ‚real’ oder virtuell– vielmehr an lose Geflechte subjektiver Wahrnehmungen und kollektiver Erinnerungen, die sich im Limbo der Gegenwart immer wieder neu formieren.
„Eines muss ich Dir noch erzählen", sagt Andrascheck noch zum Schluss, und erzählt wie es dazu kam, dass die für ihre Ostwärts gerichteten Geschichten bekannt gewordene Autorin Esther Kinsky ihren Text ‚Missisauga’ zum Buch beisteuerte. „Als ich Kinsky, nachdem ich sie angefragt hatte einen Text für mein Buch zu schreiben, in Wien traf, erzählte sie mir, dass sie als zwanzigjährige mit ihrem kleinen Baby in Kanada gestrandet war.“ So wurden Andraschecks Bilder zum Anlass für die Autorin, ihre Erinnerungen, die wie die einer weiteren Schwester der drei Frauen klingen, für ‚When the Night is Silent’ aufzuschreiben.
Wait Until the Night is Silent Iris Andraschek Esther Kinsky, deutsche Ausgabe Fotohof Edition 2015, 126 S., 33 €
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EMANZENGEWITTER ÜBER MEXIKO STADT
Zuerst zur Erklärung - auch wenn es mir peinlich ist: Ich bin keine schöne Frau – attraktiv ja, aber eher auf die harmlose Art eines ‚Funny Valentine’ als eine von Russ Meyers ‚Supervixen’.
Ich habe darüber ehrlich nie so nachgedacht, bevor ich vor drei Jahren nach Mexiko kam und mich diese Blicke zu streifen begannen – seltsam feindliche und doch gebeutelt wirkende Blicke von anderen Frauen und unangenehme, die Oberfläche meines Körpers und Haares scannende Blicke der Männer. Während Berlin immer weiter in seinen Kontrasten und Gegensätzen abzuflachen scheint, die einst ihren Reiz ausmachten, bleibt Mexiko Stadt auf reizvolle Weise in sich gespalten; in seinen Kontrasten zwischen arm und reich, seiner populären- und seiner Hochkultur, seinen Nutten, Transvestiten und Straßenkindern, die sich vor der selben Szenerie bewegen wie die Geschäftsmänner und Damen der höheren Gesellschaft.
Ich bin blond, und die Sonne Mexikos hat das Straßenköterblond in ein warmes Gold verwandelt. Hier in Mexiko bin ich so die ‚wuerra’ – „Bitte wie?" hatte ich gefragt, als ich das zu ersten Mal hörte, „la guerra (der Krieg)?" „Ne – ‚wuerra’" wurde mir gesagt, das Blondie.
Seit Jahrhunderten läuft zwischen den USA und Mexiko ein reger Austausch: Billige Arbeitskräfte, Bodenschätze, gutes Essen und Drogen kommen aus dem Süden in den Norden. Umgekehrt sind amerikanische Ideale wie persönliche Freiheit, Selbstvertrauen und Reichtum nach Mexiko gewandert. Gerade Letztgenanntes ist zu einem Fetisch für die mexikanische Gesellschaft geworden. Die Blondine ist in Mexiko das Wesen, das gerade letzteres verkörpert. So reagieren Männer auf mich wie die Stiere auf das rote Tuch der Stierkämpfer. So werde ich also als Wohlstandsblondine bestaunt, und Männer Keuchen, andere lachen wenn ich vorbeigehe, es wird gestaunt, gehustet, gegrüßt, gelechzt, gezischt und gepfiffen. Wieder andere schauen beinahe ängstlich, als hätten sie einen Geist gesehen.
Dazu knirschen Absätze auf dem zementierten Bürgersteig, wenn ich an den Männern vorbeilaufe und diese eine 180-Grad Wendung machen, um auch mein Hinterteil betrachten zu können; Autos, die auf der Straße fahren, halten abrupt an und es pfeift und johlt aus dem Inneren ein Männerchor, oder aber ich werde von einem Fahrer enthusiastisch geschnitten, während ich die Kreuzung überquere, und aus dem Fenster verlautet lässig ein weiteres ‚wuerrita’, ‚mamita’, chiquitita, bonita, perrita oder sonstiges. Das ‚-ita’, Diminutiv am Ende jedes dieser Worte, kann die unterschwellige Aggression, die von diesen Ausrufen ausgeht, nicht vertuschen. Schon nach kurzer Zeit wird Frau, egal ob Blondine, Brünette oder Schwarzhaarigen bewusst, dass dieser ‚Flirt’ kein Spiel ist: Die Männer, die sich dort äußern, sehen bei ihren Äußerungen niemals in das Gesicht der Frauen. Es gibt keinen Blickkontakt, keinen Austausch, keine Verständigung. Keine Chance für die Frau zu sagen: ‚Hey, du hast recht, ich bin eine heiße Muddi – schön das du das auch so siehst, schönen Tag noch’.
Während man diese verbalen, und auf Blicken basierenden Anmachen gerade noch so ignorieren kann – indem man sich mit Kopfhörern zustöpselt und an den Männern vorbeischaut - so gibt es doch eine weitere Sache, die sich nicht so leicht aus der Selbsterfahrung in dieser Stadt retuschieren lässt. Betritt man als Frau das 226 Kilometer lange Liniennetz der U-Bahn, das täglich von über 1,5 Millionen Passagieren genutzt wird – oder aber einen der schicken, neuen Metrobusse, die 2003 eingeführt wurden, um den Kartellen der die Luft verpestenden Kleinbusse etwas entgegenzusetzen. Dort drängen sich dann Männlein wie Weiblein aneinander, als sei man inmitten des halb vergnüglichen, halb aggressiven Geschunkel bis das passiert, was 6 von 10 Frauen irgendwann in ihrem Leben in Mexiko erfahren: Und zwar kommt ‚Mann’ auf die Idee sie direkt dort im vollgepackten Wagon zu begrabschen.
‚Tortas’ sind die belegten Brötchen, die es an unzähligen Fressständen an jeder zweiten Ecke der Stadt zu kaufen gibt und die, dick belegt mit allerlei köstlichen Schweinereien, aus allen Nähten platzen. ‚Tortas’ heißen auch die Pobacken der Frauen, und ‚tortear’ heißt es, wenn man den Frauen an eben diese grabscht. Was lustig klingt, ist es nicht. Doch darüber wird tapfer hinweggeschaut, und kaum eine der Frauen, die in der U-Bahn schon einmal sexuell belästigt wurde, hat dies jemals zur Anzeige gebracht. Eine Torta-Geschichte, scheint jedoch fast jede Frau zu haben. So erzählte mir die 62 jährige Rosa, dass sie vor zehn Jahren einmal auf dem Weg zur Arbeit war. Sie trug einen knielangen Faltenrock, und stand dicht bei der U-Bahn Tür. Kurz vor dem Ausstieg spürte sie, wie ihr jemand von hinten unter den Rock ging und in einer schnellen Bewegung ihr zwischen die Beine Griff. „Ich war wie versteinert“, sagt die zarte Frau und schüttelt mit dem Kopf. „Ich habe gar nichts machen können, gar nichts“.
Doch es regt sich etwas im Bewusstsein der mexikanischen Frauen, denn nun ist über die Pipeline des übermächtigen Nachbarn dort im Norden eine neue Bewegung in das erzkatholische Land getröpfelt. Feminismus macht sich breit – nicht nur auf den Billboards und den darauf folgenden Raubkopien, die an jeder Ecke noch vorm Kinostart zu haben sind, mit offensichtlich auf Krawall gebürsteten Frauenzimmern wie Charlize Theron in Mad Max IV, Cate Blanchett in ‚The Hunting Ground’, der Janis Joplin Doku ‚Janis: Little Girl Blue’ und nun auch noch Daisy Ridley in ‚Star Wars: Das Erwachen der Macht’, und nun Jennifer Lawrence in ,Joy'.
Nun würden mich mexikanische Feministinnen sicher schimpfen, hat der Feminismus in Mexiko doch eine lange Tradition (interessant!), der vielleicht sogar schon bei den Aztekischen Wahrsagerinnen begann, sich über die in Ihrer Poesie als Lesbierin outende Nonne Sor Juana de la Cruz zu Künstlerinnen wie die Kommunistin Frida Kahlo fortsetzt, die sich dies andere Frau-Sein wiederum der kommunistischen Skandalnudel Tina Modotti abgeguckt hat. Das Nachwirken dieser Frauen und andere spiegelt sich auch heute in den Sphären der weiblichen Intelligenzia des Landes bis hin zu der Star-Journalistin Carmen Aristegui wider, die in ihrer Radiosendung Noticias MVS so viele Missstände aufdeckte, dass dem Sender zu heiß wurde und er sie vor die Tür setzte.
Ich sitze in der ersten Reihe des Metrobusses, in Mexico Stadt und die grelle Mittagssonne scheint mir ins Gesicht. Ich hatte diesen Platz gleich hinter dem Fahrer eingenommen, nachdem sich die Wogen, die ich wenige Minuten zuvor heraufbeschworen hatte, wieder geglättet hatten. Seit zwei Wochen, seit dem letzten Mal, das auch meine `Tortas`beim Aussteigen aus dem überfüllten Wagons der U-Bahn begrabscht wurden, habe ich mich der Sache der mexikanischen Frau verschrieben und trete nun zumindest einmal pro Tag als eine, meine Mit-Passagierinnen Aufwiegelnde in der U-Bahn auf.
Die Sache ist nämlich die: Es gibt Regeln, die Frauen vor den übergriffig werdenden Männern schützen sollen, und zwar in Form von einem Frauenabteil. In jeder U-Bahn gibt es ein eigens, und durch Markierungen am Bahnsteig gekennzeichnetes Abteil. Nur wird der Anspruch an diesem Refugium für Frauen von jenen nicht eingefordert, und so stehen tagtäglich etliche Männer –grabschend oder nicht, dort inmitten der Frauen, `Torta an Torta, und Nase an Nase. Einem von denen tippte ich eben auf die Schulter "Verzeihung der Herr, sie stehen hier falsch. Dies ist das Frauenabteil“ sagte ich. Keine Reaktion. „Señor?!“ Meine Stimme wird schrill, und ich atme heftig.
Da ist sie wieder, diese unbändige Wut, die seit neustem aus mir herausbricht, wenn mich einer von ‚denen’ anmacht oder ohne Respekt begegnet. „Señor, würden sie bitte in den hinteren Teil des Zuges gehen. Hier ist nicht ihr Ort“ sage ich laut und höre dabei selbst die Verzweiflung, die dort mitschwingt. Bei dem letzten, der mich beim Aussteigen aus dem Abteil der U-Bahnstation ‚Hidalgo’, angefasst hatte, ist mir die Sicherung durchgebrannt. „Schwein“ schrie ich, und trat mit einer weit ausholenden Beinbewegung gegen jeden Mann, der mit mir den Geburtskanal der immer viel zu kurz geöffneten Türe herausgequetscht wurde. Keiner von ihnen hatte reagiert. Wie ein Pflock weißer, stumpf dem Herdentrieb folgender Schäfchen hatten sie das Schwarze von ihnen in die Mitte genommen und mit nach draußen gedrängt. Auch auf dem Bahnsteig ausgespuckt, blickte ich in Männergesichter, die sich still, ganz still wohl bei sich dachten ‚die ist verrückt, die `wuerra` da. Der Mann murmelt, ohne sich dabei umzudrehen, was mich das denn angehe, und dass er ja bald aussteigen würde. „Das macht keinen Unterschied“ rufe ich, und mein Spanisch hat wieder diese Ladehemmung, die es immer bekommt, wenn ich mich aufrege. „Sie müssen nach hinten“ und stupse ihn mit steifen Fingern unsanft gegen die Schulter.
Diesmal, bevor auch mich der Blackout der roten Carpa ereilt, höre ich jedoch eine Stimme, die mein Reden gehört hat und mir beistehen will „Das Mädchen hat recht, dies ist das Frauenabteil. Zeigen sie Respekt und treten sie nach hinten durch.“ Meine Helferin ist eine ‚chaparrita’ eine kleinwüchsige Frau, Mitte Fünfzig, deren Lach- und Sorgenfalten von dem Bangen, Arbeiten, Lieben und Umsorgen zum Wohl der Familie gezeichnet wurden. Ein junges Mädchen in Schuluniform stellte sich zu uns und deutete auf ein Piktogramm, das eine durchgestrichene Männerfigur zeigte: „Aber da steht’s doch!“ D
Und plötzlich erhebt sich ein Chor von Frauenstimmen: „Wirklich?“ „Ist ja toll!“ „Sie sollten Respekt zeigen“ ruft es, „Nun hören sie schon auf und treten sie doch nach hinten durch“. Als der Mann an der nächsten Haltestelle endlich aussteigt und zu den hinteren Eingängen des Busses eilt, schauen wir Frauen im Frauenabteil uns alle für ein paar Momente zufrieden an. Und für wenige Momente steht ein Gefühl von Gemeinschaft im Abteil, bevor sich eine nach der anderen abwendet und wieder in die Anonymität abtaucht.
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NEMA
Ich
der Antichrist
spaziere herein
ich
bin der Neue
Alte
Als Sterbender betrat ich das Foyer
und sah dort sitzen euch Tote
im Weltaufenthaltsraum
In mir spiegelt sich
Eure Weltfremdheit
Denn ich
bin der Welt Fremdheit
der Vampyr
der
der Zaudert mir der Welt
Von Ewigkeit
Zu Ewigkeit
Nema
Ein Kolosseum bin ich
Spielfläche für euer Begehren
Ein Hort für eure Dramen
Kinderchor
Für eure Totgeburten
Vielstimmig und schrill
Doch die Kantaten verklingen
Im hohlen Raum der Erinnerung
So lasst
mich
sein
Von Ewigkeit
Zu Ewigkeit
Nema
Ein lachen baut sich auf
Es verreißt mir das Gesicht
Ein Raubtier wird’ ich
Außer sich vor Hohn
Den Spott des Wissens
Unerträglich geworden,
stürzt als blutrote Kotze
auf den kahlen Boden
Der Ewigkeit
Zu Ewigkeit
Nema
Hier
Im Raume
hier
im Weltanschauungsraume
Im Transmitter-Hagel
verharre ich
der Vampyr
still und kalt
ob der Ideologien
Gespeist aus dem Nichts
Von Ewigkeit
Zu Ewigkeit
Nema
Kameraden
Ihr Toten
In klirrender Kälte
Euch holt die Zukunft
Hinterrücks
Zurück in die Gegenwart
Eine Fratze schneidend
Hässlich wie ein schlechter Fick
Und bleibt dann zurück
Blass
Im Nebel
Der Bedeutungslosigkeit
Von Ewigkeit
zu Ewigkeit
Nema
ESTUDIO AMORALES presenta: DALE LIKE
Presentacion especial de la Sonora Aeroclub y Corinna Koch, curaduría: Gabriel Mestre.
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HÜHNERKACKE UND DIE KUNST DAS RECHTE ZU TUN
Wir betreten die Stadt in der Mittagshitze, die in der drückenden Schwüle der Küstenregion unerträglich ist. In einem Touristenbüro, in dessen Räumen die ethnisch-abstrakten Malereien eines vom Institute Francais gesponserten Malers hängen, fragen wir ganz platt wo es denn hier zu der nächsten Voodoo-Performance geht. Seit vier Wochen sind wir nun schon unterwegs und ich kann gar nicht mehr genau sagen zu welchem Zeitpunkt genau wir begonnen haben, die Eintönigkeit der Tage in diesem platten, westafrikanischem Land, mit Voodoo zu versüßen. Wahrscheinlich war es der Beerdigungszug im Norden Togos, von dem wir dachten es sei ein Karnevalsumzug, bis wir den mächtigen Sarg, der an der Spitze des Zuges von ein paar hübschen Männern getragen wurde, erblickten. Wir liefen da einfach mit, tanzten ein bisschen, wie wir dort so langsam voranschritten und nahmen immer längere Züge von dem Selbstgebrannten, der uns grinsend angeboten wurde. Wir schritten hinauf zu einem heiligen Berg, wo ein Huhn geköpft wurde, die Frauen singend die Hüllen fallen ließen und Prinzen und Könige des Dorfes dem Toten ein letztes Mal Spalier standen. Dann ging es wieder hinab, der Tote, der, wie uns gesagt wurde bereits seit drei Monaten tot und bis zu diesem Tage eingefroren worden war, wurde ebenfalls wieder vom Berg herunter geschleppt. Und dann begann die Party. Auf einem staubigen Dorfplatz versammelten sich zirka 300 Menschen, formten Kreise und tanzten, während der Sarg, mobilisiert von seinen nun vom Teufel beseelten Trägern, immer wieder wie ein großer Rammbock auf die Menge zuhielt, welche dann kreischend auseinander stob. In dem Tohuwabohu hatte ich meinen Anhang verloren, und hielt hinter einem Baum kauernd nach ihnen Ausschau. Bald sah ich Aaron, den jungen Technojünger aus Chicago, der händehaltend in einem großen, sich immer wieder wegen des herannahenden Sarges verformenden Kreises, Ringelreihe tanzte. In seinem Gesicht stand die Glückseligkeit geschrieben. Der Clash mit dem Tod elektrifizierte ihn, die Besucher aus der alten Welt, in der der Tod, als gesellschaftliches Ereignis, schon lange nicht mehr unter uns weilt.
Inzwischen frequentieren wir alle möglichen Voodoo Performances als seien sie Afterhours im Berghain, wo bei den ersten Sonnenstrahlen, die in den Club fallen, manchmal kurz dieses Gefühl der gemeinschaftlich erfahrenen Ektase aufflackert. Der freundliche Mann hinter dem Schalter hol war nur gerade irritiert über den Wechsel der zeiten – von vergangenheit zu präsens nun eine in Plastik geschweißte Preisliste heraus, die verschiedene Voodoo-Zeremonie-Module auflistet. Es gibt eine Zeremonie am Abend, die wir aber mit ein paar gezielte Fragen als eine Touristenattraktion enttarnen. ‚Ah, vous êtes des connaisseurs!’ sagt er daraufhin und schaut auf die Armbanduhr. ‚Es gibt eine Zeremonie in einer kleinen Nachbarschaft am Meer – ganz authentisch. Aber da müssten wir eigentlich gleich los.’ Er erklärt sich bereit uns auf seinem Moped hinzufahren. Kurz darauf nehmen Aaron und ich auf dem Rücksitz hinter dem Angestellten Platz und klammern uns wie rammelnde Kaninchen an den jeweiligen Vordermann, um nicht beim nächsten Schlagloch herunterzupurzeln. ‚Es ?ist? die Geschäftsgründung zweier junger Männer, die ihr Unternehmen mit einer Zeremonie auf den rechten Weg schicken wollen’ ruft uns der Angestellte über die Schulter zu, als er auf die ganz aus Beton gebaute Siedlung zuhält. Der Tempel ist ein schmuckloser Betonkubus, innen wie außen unverputzt. Gleich daneben steht der Schutzpatron und persönliche Götterbote des Dorfes, der Legba. Ich habe schon viele seiner Art gesehen, in jedem Dorf steht einer, (dann? Anderer Anschluss vielleicht bzw. neuer Satz) gibt es den Hauslebga, der auf dem Kaminsims steht und Böses wollende Besucher verwünscht und auch den Reiselegba im Taschenformat, der einem Ü-Ei ähnelt, nur das er aus Lehm geformt ist und eine Kippe im Mund hat. Dieser Dorflegba ist nicht mehr als ein großer Fladen á la Jabba The Hut, nur mit einem riesigem Penis ausgestattet, der stolz in die Luft ragt.
Wir treten ein. Eine den Raum umspannende Betonbank ist in die Seitenwände eingelassen, worauf der Priester bereits Platz genommen hat. Wir drücken uns ebenfalls in eine Bank und vorsichtig betrachte ich das Gesicht über dem massigen Körper, dessen Ausdruck scheinbar bereits vor langer Zeit einen faulen wie selbstgefälligen Ausdruck angenommen hat. Er ignoriert uns Besucher weitgehend, während die anderen Familienmitglieder und Freunde der zwei jungen Unternehmer uns freundlich zunicken und die Teenager hinter vorgehaltener Hand tuscheln, wie es Teenager halt so tun. ‚Sie sehen es als ein gutes Zeichen, dass ihr da seid, ihr symbolisiert hier Reichtum und Wohlstand’ sagt der Angestellte. Der Priester lässt eine greise Frau die Zeremonie anstelle seiner vollziehen und gibt ihr breitbeinig auf seiner Bank sitzend lediglich dann und wann eine Anweisung, wie sie die heiligen Dinge zu erledigen habe. Eine Ziege wird geopfert (oder komma und und weg (weil gleich kommt nochmal ein und) dann noch zwei Hühner, deren Blut in Schalen aufgefangen und dem Legba hingestellt. Die Alte taucht nun die Fingerspitzen in das Blut und wirft ein paar Steine ins Orakel. Die Resultate der ersten zwei Würfe werden mit einem sorgenvollen Aufstöhnen quittiert. ‚Es sieht nicht gut aus’ munkelt der Angestellte. Der dritte Wurf ist dann aber ein Volltreffer und(dasselbe, vllt.und raus) die Versammelten atmen erleichtert auf und stimmen gleich drauf einen Gesang an, den sie mit sanften Schlägen auf die Brust begleiten. Dann setzen die Trommeln ein, die ersten Tänzer erheben sich, um mit heftig schlagenden Armen einen Vogeltanz aufzuführen, der, so sagt man mir, zur Abschreckung von Hexen dient, die gerne mal in den Körper kleinerer Vögel schlüpfen, um bei den Nachbarn herumzuspionieren. Die Session nimmt immer mehr Fahrt auf, den schwitzenden Tänzern werden Münzen an die Stirn geheftet und immer wieder, immer schneller wechseln sich die Tanzenden ab. Schließlich kommen auch wir Fremden an die Reihe, wobei jeder Hüftschwung und jeder Schlag mit Wohlwollen aufgenommen wird. Als ich schließlich alleine tanze, ruft einer ‚Mammi Wata’, und ehrt mich mit dem Vergleich der derzeitigen Lieblingsgöttin des Landes, die so beliebt ist, dass ihr Auftauchen in der profanen Welt die sozialen Netzwerke glühen lässt und sogar im Radio gemeldet wird. Das liegt vor allem daran, dass die ewig jugendliche Göttin solch fesche Sportwagen fährt und ihre vor Wasser glitzernden Sportswear-Outfits auch modisch voll im Trend liegen. In Benin ist Voodoo Staatsreligion und die Vodúnsí, wie sich die Voodoo-Jünger nennen, sind überall und ihre das gesellschaftliche Leben bestimmenden Rituale sind omnipräsent. So nützt es den 25 % Christen nicht viel, Christ zu sein und auch die 15% Moslems kämen nicht weit, hielten sie sich lediglich an die eigenen Praktiken. Jeder Hausbau, jede Geschäftseröffnung, jede Heirat, jede Reifeprüfung und vor allem jeder Todesfall muss gefeitert werden in Benin. Es gibt Götter nicht nur für die Liebe, die Macht, das Geld, sondern inzwischen auch für Mobiltelefone und Satellitenschüsseln. Was das Christentum in Deutschland nicht schafft ist gelebter Alltag – die profanen Dinge und alltägliche Rituale werden zu tatsächlichen. Und da wo man in Deutschland eine Versicherung abschließt – sei es für das neue Maibook, oder auch die Brustimplantate, wird in Benin ein Deal mit den Göttern vereinbart. Das kostet. Voodoo ist mit seinen klaren Hierarchien von Gott zu Götterbote, Priester und Anhänger ein System der Macht, daran besteht kein Zweifel.
Am späten Nachmittag werden wir wieder ausgespuckt. Ratlos darüber, was man außer Voodoo machen könnte, durchkreuzen wir die Straßen. Maxim, mein zweiter Begleiter taucht auf, der selbsterklärte Hippie aus Versailles, der nachdem er den Mittag Bourbon trinkend an der Bar unseres schäbigen Hotels verbracht hatte, nun ebenfalls auf der Suche nach einem kleinen Spiri-Kick war. ‚Am Schlangentempel erzählten sie mir, dass ich zum großen Mangobaum gehen solle – da gäbe es immer Zeremonien.’ Sagt er, und schließt sich uns an. Ein paar Straßen weiter tut sich dann tatsächlich ein weitläufiger Platz vor uns auf. Dort sehen wir die Vodúnsí unter einem gigantischen Mangobaum, dessen Stamm von einer Gruppe ernst dreinblickender Priesterinnen umtanzt wird. Es ist das größte Spektakel das wir bisher gesehen haben und das Publikum ringt sich zahlreich um den Zeremonienboden. Von seinem mit einem Baldachin überspannt Posten aus, blickt der hier leitende Priester in vornehmer Regungslosigkeit auf das Treiben seiner Vodúnsí. Wir werden zu den Plastikstühlen in der ersten Reihe / oder im ersten Reigen geleitet und nehmen neben zwei Backpackern aus Spanien platz. Maxims Stuhl bleibt leer, er ist in der Masse hinter uns abgetaucht.
Plötzlich geht ein Raunen durch die Masse, eine der eben noch tanzenden Priesterinnen stößt einen grellen Schrei aus und richtet den Finger auf jemanden hinter uns in der Masse. Das Publikum, als sei es ein einziger Körper, reißt die Köpfe herum und blickt auf diesen wirren Haarschopf, der zu dem dummen Touristen gehört, der da gegen die Regeln des Vodún verstoßend die Kamera gezückt und die Zeremonie abgelichtet hat. Der Zug der Priesterinnen ist blockiert von der Alten, deren Schrei in ein wütendes Zetern übergegangen ist. Immer mehr Priesterinnen fallen ein in das Gezeter, wobei sie nun alle die Arme erhoben haben und in die Richtung meines Reisegefährten weisen. An den tritt nun ein Mittelsmann, abgestellt, um die paar Touristen auf ihre Plätze zu weisen, tritt zu ihm heran und spricht mit ihm hinter vorgehaltener Hand, wobei ihm der Schweiß aus der Stirn tritt. Maxim soll eine Strafe über 200 Dollar zahlen berichtet er später, doch er weigert sich mit den Worten ‚Voodooo ist für alle da’. Ein spanischer Tourist neben mir beugt sich herüber und ruft vor Ärger speiend, dass wir alle es meinem Freund dort zu verdanken hätten, dass die Zeremonie nun abgebrochen wurde. Ich schaue hinüber zu dem Oberpriester, zu dessen Füssen der elendig schwitzende Mittler herangekrochen war, um diesen über den Hergang der Dinge zu informiert. Ich erkenne wie in dem immer noch gefassten Gesicht die Kieferknochen zu arbeiten beginnen. Er erhebt die Hand nur leicht, als er den Erklärungen des Mittlers Einhalt gebietet. Die Party ist vorbei,und ich beschließ zu gehen, solange man mich noch lässt.
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¡VERSIÓN ESPAÑOLA! ¡VERSIÓN ESPAÑOLA! ¡VERSIÓN ESPAÑOLA!
TORMENTA E ÍMPETU
Quien sea que haya vivido esa tormenta (que surgió/ provenía de California y de allí se expandió hacia el resto del mundo) hoy sentirá nostalgia al mirar esos viejos videos de skate que muestran a estos chicos en sus atuendos holgados, patinando bajo el sol de San Francisco. Estos videos son testimonios de cuán inocente y liberador se sentía seguir esa vocación, y subvertir la función escrita/predeterminada del espacio público, y durante una tarde hacer lo que quisieras con él, en momentos de absoluta felicidad. Sin importar la apabullante velocidad con la que esta escena juvenil se transformó en una eficiente máquina de hacer dinero, exprimiendo el efectivo de los jóvenes en todo el mundo, todavía queremos conservar la imagen que teníamos entonces de nuestros hermosos antihéroes, los jóvenes skaters que se volvieron profesionales en los noventas.
Los ojos verdes de Dennis McGrath brillan misteriosamente a la luz de la pantalla, mientras se excusa por no haber comprendido las funciones de Skype para responder a mi solicitud de contacto. Se agacha hacia la cámara con su gorra de béisbol volteada hacia atrás, y el visor negro forma una media luna sobre su frente, coronando su rostro bien proporcionado con un halo oscuro. Tiene cuarenta y dos y es un skater, siempre lo ha sido y siempre lo será. “Siempre pensé que los patinadores somos una especie de individuos francos y no nos importa lo que la gente piense de nosotros. Nos expresamos de una manera muy infantil, así que eso nos mantiene jóvenes en espíritu, en realidad.” Dice McGrath, con su jerga que parece haber permanecido intacta con los años y que prueba su punto. Patina con una tabla pequeña, de madera, con ruedas de caucho sobre las superficies de concreto de lo que llamamos el espacio público. Esta es otra faceta de las energías juveniles que buscan cambiar el status quo de la sociedad. La escena del skate puede verse como un espacio de formación para jóvenes que siguen la vocación proto-Romántica del “Sturm und Drang” que Schiller mostró de manera tan verosímil en su ‘Die Raüber’ de 1781. Es un eslabón/miembro más en una cadena larga de jóvenes con ideas semejantes, luchando contra la sociedad.
Heaven, el primer libro de Dennis McGrath, apareció en mayo bajo el sello Seem publishing, y se agotó después de tres semanas en el mercado, como si fuera el último lote de los zapatos Airwalk’s de 1989 de Steve Schneer que había estado escondido en algún almacén. Pero el libro es mucho más que sólo otra historia de jóvenes. Narra vívida y placenteramente (por no hablar de sus propias capacidades fotográficas) la historia de una amistad y la voluntad de sostener esos sueños que los compañeros de McGrath trajeron a la vida en su juventud. Lennie Krik, la figura central en Heaven, nació en una institución para mujeres en Carolina del Norte. Este niño fugitivo, uno de los jóvenes promesas del Alien Workshop de la escena a mediados de los noventas, era una de esas bellezas rebeldes que se veían tan cool en los anuncios bien diseñados de la compañía. La carrera como skateboard de Kirk sólo duró tres años. Antes de volverse profesional, en 1996, tuvo un accidente patinando en el Presidio, el distrito del puerto del norte de San Francisco, donde el Puente Golden Gate clava sus pies en el suelo. El hermano de McGrath estaba filmando, trabajando en el video de Timecode, para Alien Workshop que poco después volvería famoso a Kirk. Cuando patinaba en un basurero, en un muelle de carga, Kirk hizo un flip y se golpeó la parte de atrás de la cabeza en el concreto de la calle. Cuando su compañero corrió hacia él, estaba sangrando de las orejas y perdió la vista.
Después de ese incidente, algo comenzó a ir terriblemente mal en la vida de este hermoso rubio que tenía el look endiablado de un joven Schwarzenegger. Quizás uno podía presentir las sombras del futuro sobre el presente ya desde entonces. Fue el mismo Larry Clark quien le aconsejó a McGrath, el joven estudiante de fotografía, que conservara ese amigo, y que lo fotografiara en todas partes. Sin embargo, seguir a Lennie Kirk implicó una enorme aflicción/tristeza, que ahora se refleja en los ojos de McGrath, al contar la historia: “El día del accidente todo cambió. Nació de nuevo, y todo ese asunto cristiano fue tan intenso para él, que cuando se iba en tours de skate con compañías que lo patrocinaban, le decía a los niños que eran pecadores y que se irían al infierno si no se salvaban –no sé por qué quería salvar a todos. Así que cuando los niños comenzaron a contarle a sus padres estas cosas que les habían dicho en los shows de skate, los padres se levantaron en armas. Llamaban a las tiendas de skate y decían: ‘no queremos a este bárbaro psicópata sermoneando a nuestros hijos’, y las tiendas de skate llamaban a las compañías de skate diciendo ‘ya no queremos comprar tablas de Lennie Kirk’. Obviamente, esto tuvo un efecto negativo en la comerciabilidad de Lennie, y pronto lo abandonaron”.
Cuando se convirtió en un marginado de la industria que lo había mantenido, que pagaba su renta y otros costos desde su adolescencia, Lennie Kirk comenzó a asaltar gente en la calle. Justificaba sus acciones malintencionadas basándose en la estructura diabólica de la sociedad, y diciendo que Jesús estaba de su lado. Estuvo en la cárcel, salió y volvió a entrar, mientras que sus amigos, entre ellos McGrath, comenzaron a ajustarse a la vida adulta, y se integraban a una sociedad mas híbrida, y que evolucionaba a una enorme velocidad. McGrath rompió con las nuevas reglas de efectividad y productividad de estas sociedades y se tomó todo el tiempo del mundo en terminar su proyecto. Cuando Lennie salió de la cárcel por segunda vez, visiblemente dañado por la experiencia y más aferrado aún a su dogmatismo cristiano, McGrath comenzó a llamar a los amigos y familia de Lennie. Reunía artefactos de la vida de su amigo y con cuidado los fue colocando en esas fotografías blanco y negro que le tomó a sus amigos y colegas en el transcurso de veinte años.
El resultado fue Heaven, una novela fotográfica que se inscribe en la tradición del libro Looking for Love on the Leftbank, de Ed van der Elsken, que es una referencia emblemática. Pero a diferencia de su predecesor, Heaven busca ser fiel a una especie de verdad, mediante reproducciones/tomas de viejas cintas de VHS de la película de Kirk, Timecode; tablas que por deseo de Lennie fueron diseñadas con escenas de la santa Biblia, acompañadas de una carta del fundador de Alien Workshop, Mike Hill, en donde pide con delicadeza que Kirk apruebe el diseño. Estos documentos del tiempo, mostrados a veces de manera neutral, como si fueran objetos arqueológicos que confirmaban el transcurso de los eventos, a veces llenos de dibujos y etiquetas, juegan con la autoridad que emana de ellos.
Un puñado de cartas, escritas por el mismo Kirk, guían al lector a través de los años. Lo convierten en un observador silencioso, que es testigo del diálogo privado entre los dos amigos. La última carta fue enviada desde la correccional La Palma Correctional Centre en Arizona, a donde Lennie Kirk fue enviado después de secuestrar a su ex novia y llevarla a la fuerza en su coche a quién sabe dónde. Esto convenció a McGrath de terminar por fin el proyecto y cortar los lazos entre él y su amigo, que con los años se había vuelto alguien muy distinto a él. McGrath, que llevaba mucho tiempo ganándose la vida como fotógrafo de estudio en Los Ángeles, canceló todos sus trabajos, dejó todo de lado durante las siguientes semanas, fue a la tienda a comprar cartulinas y se encerró para armar Heaven.
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¡VERSIÓN ESPAÑOLA! ¡VERSIÓN ESPAÑOLA! ¡VERSIÓN ESPAÑOLA!
STATU QUO
Statu Quo de la escena del arte en México, es un fragmento de una extensa historia oral acerca del arte mexicano contemporáneo, contada por sus actores. La investigación, todavía en curso, es de Corinna Koch, escritora, editora y fotógrafa alemana, que radica en México.
COLECCIONISMO Y MERCADO
FELIPE EHRENBERG: Lo que desconocemos los capitalinos, probablemente el grupo humano más provinciano, aislado y desconocedor de toda la República, son las leyes, confundimos gobierno con los que lo ocupan, no sabemos como se consti- tuye una cooperativa: qué privilegios legales y responsabilidades existen. Porque, a final de cuentas, no se puede llevar un país con dobles libros o juntando en el fisco las cosas y demás. Al modelo le dieron en la madre perfectamente bien hacia las fechas en que el consejo se formó... por ahí los grupos se disolvieron, cada quien comenzó a individualizarse, a buscar chamba en otras cosas, a despreocuparse por vender su trabajo como buen profesional y tratar de ser estrellas de rock con ese individualismo fetichista de fama y todo lo que han promovido totalmente las industrias culturales y que obviamente emparenta al 100% la colección Jumex con el MUAC, que es la misma cosa: MUAC es gobierno y Jumex es privado, pero son casi indistinguibles.
CUAUHTÉMOC MEDINA: Desde mi punto de vista hay una transformación muy importante: por primera vez en una década –duró hasta que la Fundación Jumex decidió suicidarse–, parece que la clase alta decidió formar parte del arte contem- poráneo, un papel que no juega desde el siglo XX. En parte por la orientación polí- tica, por una sección del arte en México después del siglo XXI, pero también por la lógica cultural de la clase alta mexicana después de la revolución, que cuenta con elementos nostálgicos en torno al periodo colonial. Así que su identidad se filtró a través de la negación del presente y el futuro. La relación entre los artistas y la clase dirigente de México fue precaria, durante algunas décadas. Durante los últimos años han ingresado al negocio de representar su prestigio a través de la producción artística.
FELIPE EHRENBERG: Entonces, para el artista el problema es el “cubo blanco”, preocuparse por museos... en fin. Yo caminé en Turquía, en San Felipe, Tehuante- pec y caminé en un mundo con el que yo me he comunicado toda la vida, pero del cual no conozco un sólo artista debajo de los 33 que haya entrado al cubo blanco. Hay algunos esfuerzos como el de Melquiades Herrera quien hizo unos grandes trabajos para imbuir un poco de sangre roja en el “cubo blanco”. Pero el “cubo blanco” sigue siendo así como una meta. Yo soy un romántico que todavía cree que hay sensaciones y sentimientos, que lo más importante para el artista es dialogar con un público, con su público, no con el que organiza una feria en Basilea o en Zona Maco, no, no, su público: mi tía, mis primos, el mecánico, el que tiene una maquila para zapatos, ése es mi público. Eso es lo que yo pienso y ahí se cobra lo que se puede, a según el sapo la pedrada, si el producto es bueno la calidad es igual.
CHRIS SHARP: Exagerando un poco, se podría decir que aquí es casi un tabú producir objetos. La gente parece tener una verdadera alergia a cualquier cosa que parezca prestar atención al mercado o a la mercantilización del objeto, como si fuera de alguna manera inherentemente malvado. Pintar es uno de esos tabúes, así que no verás mucha pintura en la escena del arte contemporáneo. No significa que no existe, es sólo que no cuenta con el derecho cultural.
ALEX BECERRA: Lo que quiero en el pabellón de mi galería dentro de Zona Maco es que la pintura, o en general el arte, tenga una aproximación más alegre del que ahora existe, para que modifique la manera en que la gente contempla, como si dijera «wow, esto es pintura, verdadera pintura. ¡Alguien realmente puede seguir haciendo eso!». Estoy haciendo esto especialmente para los jóvenes artistas que parecen estar demasiado impresionados por la celebridad, que son tan apretados en lo que se refiere a la atenta lectura de sus carreras, como si llevaran los zapatos de Orozco y compañía. Después ves a gente comiendo, en sus mesas VIP; proba- blemente les importe un carajo lo que sucede a su rededor. Hace rato había una actriz de televisión en mi pabellón, una especie de estrella de telenovela española. Tomaba fotos frente a mis pinturas. Entonces mi galerista le dijo: «Oye, disculpa: el artista está aquí, ¿quieres una foto con él?» Se giró hacia mí y contestó: «no». Esto ilustra perfectamente que no hay respeto por lo que sucede alrededor: hay gente que no tiene el mínimo cariño por el arte, que sólo vienen a exponer su ri- queza. Están bien vestidos, mostrando el rostro y conviviendo con estrellas de televisión. Con esa actitud, el panorama del arte está condenado a cumplir un papel secundario, del evento-espectáculo.
MICHEL BLANCSUBÉ: ¿Cómo puedes ser crítico con el capitalismo mientras trabajas en una poderosa galería, tal vez el escaparate más avanzado del capitalismo en el mundo? Un artista que se haya comprometido políticamente no debería formar parte de una galería. Existen estos aspectos del mundo artístico enfocados al mercado, sé que existen y, de alguna manera, parecen acaparar todo el panorama ahora. Esta postura fue formulada muy bien por Giuseppe Morra –presidente de la Fundación Morra, en Nápoles, que alberga el museo de- dicado a Hermann Nitsch– cuando dijo después de la plática que el mercado está en todas partes y cuando estamos frente a un verdadero artista como Nitsch hay cierto tipo de pánico. También hay un comentario del artista Jean-Luc Moulène, cuando dijo que ahora, cuando ve el arte contemporáneo, siente la mayoría de las veces que está frente a productos de arte y no frente a objetos de arte. Esto nos lleva de regreso a cuando Carlos Amorales decía en su texto que el trabajo artístico no debería tener sólo un valor económico, sino que deberían poder imaginar que hay algo detrás del trabajo, un concepto filosófico inherente en el arte que desafía ir más lejos.
FERNANDO MESTA: En México, cada coleccionista es completamente diferente a al otro, y no se puede adivinar un patrón, sólo el hecho de que están coleccio- nando. Sin embargo, hay dos o tres coleccionistas jóvenes que están haciendo un gran trabajo y es increíble encontrarse con ellos. Tomará tiempo, si quieres tener una buena colección, creo que un coleccionista que es serio con lo que hace se plan- tea problemas: «¿Qué estoy haciendo aquí? ¿Qué significa coleccionar arte? ¿Qué implica?» Para algunos de mis mejores coleccionistas, comprar arte se convierte en algo casi relacionado con problemas existenciales. Uno de mis clientes me pre- guntó una vez: «No quiero ser un coleccionista, ¿en qué me convierto si comienzo a acumular arte?» Contesté que investigar acerca del arte es mucho mejor que sólo coleccionar dinero; haciendo eso, no apoyas sólo el arte, sino diferentes discursos y posturas radicales.
MOISÉS COSIO: He coleccionado desde hace ocho años y he hecho amistad con muchos otros coleccionistas. No creo que sea un buen coleccionista. Walter Benjamin, en Desempacando mi biblioteca, habla acerca de coleccionar libros, describiendo perfectamente lo que es un coleccionista: el deseo de una persona por cierto objetos vinculado a la idea de que ese objeto estará mucho mejor si se encuentra entre sus posesiones. Entonces lo que hace un coleccionista es perseguir ciertas piezas para poseerlas, incluso si nunca lee el libro o cuelga el cuadro: la cuestión es tenerlo. No es mi caso, nunca me he obsesionado con tener una pieza en específico. Aunque sí me obsesiono con el artista como sujeto, con los libros que lee, su pensamiento, su postura y las cosas que hace. De pronto siento la urgencia de tener piezas suyas. ¡Es como canibalismo! En cuanto a la obra, no sé si es buena o mala, no me intereso por una pieza específica. Para mí, tiene que ver con el proceso de pensamiento de una persona, que es inherente a la obra.
CARLOS AMORALES: Lo que veo en México es que la gente reduce el merca- do, lo minimizan a algo que tiene que ver con adular, tener buenas relaciones o ser burgués. La gente parece creer que en el mercado hay corrupción, es casi un pensamiento mágico. Sin embargo, cuando lo ves desde dentro, es mucho más complejo, más trabajo y más juegos arriesgados. Siempre pienso en esta analogía: qué sucediera si fueras panadero y tuvieras un prejuicio en contra de vender pan a tus clientes, pensando: “malditos clientes, ¿ahora qué quieren que presente? ¡Mi pan!”. Se vuelve ridículo. Creo que si los artistas tuvieran una relación más sana con el mercado, podrían fortalecerse, porque si sabes que la universidad funciona y es profesional que forcejea con el mercado para formarse, lo valorarás. Es más probable que valores los esfuerzos si te percatas de que el éxito no es casualidad. ¿Por qué desafiar un gobierno que ni siquiera te voltea a ver?
CHANTAL PEÑALOSA: No tengo la experiencia del mercado. Pero me parece que una idea sobre el éxito en el arte –que tiene que ver con muchos factores– está ligada a cierta visibilidad con cómo se desarrolla la obra de un artista en términos curriculares hasta su inserción en el mercado. Volver esto un indicio para la pro- ducción de obra y hasta de un posible discurso me parece problemático, me hace pensar en una analogía con una carrera de caballos. La competencia como premi- sa. ¿Quién o qué decide qué se vuelve trascendente en un sistema de arte? ¿Qué tanto el mercado legitima el discurso de un artista? ¿Quién decide qué es el éxito?
YOLLOTL ALVARADO: Tengo una relación verdaderamente extraña con el mer- cado. Intenté lidiar con el sistema de una galería y realicé la pieza más difícil de vender. Entonces, para mí, el mercado siempre fue algo irritante, con gente a tu espalda presionando para que produzcas algo fácil de vender. Desde donde lo veo, el mercado siempre va a interferir; no sólo en las formas de la obra, sino en la estructura y los tiempos de la vida, la autonomía y las decisiones sobre cómo se quiere llevar la vida y hacer arte. Para mí, el mercado representa todo lo que odio en el mundo. Es una versión miniatura de lo que, en general, sucede con el sistema económico en el mundo, con sus elementos jerárquicos y su idea del arte, que desprecio. En ese mundo también hay artistas, exposiciones y discusiones in- creíbles, pero al mismo tiempo, para mí, es como si hubiera crecido para aprender que ese tipo de cosas simplemente me llevan lejos de lo que quiero hacer.
MÓNICA MAYER: En el imaginario colectivo mexicano del arte contemporáneo, arte contemporáneo es lo que venden Kurimanzutto y Jumex, para mí eso no es “el arte contemporáneo de México”, sino un pedacito de lo que sucede en este sector del mundo de arte. Pero además hay muchos mundos del arte y lo que pasa en ese mercado es minúsculo comparado con la producción artística actual en México. En este contexto Zona Maco no es representativa, aunque sea lo que se conoce afuera. Hay mucho trabajo colectivo que se ve en las calles, proyectos en cárceles y otras comunidades, hay trabajo aficionado y muchos tipos de profesionales, de entrada porque existen más de cincuenta escuelas de arte en todo el país. Cuando mucho el 0.5% de los artistas de México vive exclusivamente de su trabajo artístico. Seguramente Teresa Margolles y Gabriel Orozco viven muy bien de su trabajo, pero eso no sucede ni siquiera con todos los artistas de la Kurimanzutto.
FERNANDO MESTA: Parece que los galeristas europeos que vienen a México esperan que será muy fácil aquí, pero las ventas son malas y nunca regresan. Lo he visto muchas veces. Siempre está el riesgo de no vender; por ejemplo, cuando estuve en el Frieze de Londres, fue muy caro y no vendí nada. Hay ferias en las que las ventas son malas y ni siquiera estás en un país donde todo es barato, se comienzan a comportar como si estuvieran de vacaciones; lo veo en algunos gale- ristas que vienen a México. Pero cuando estás en una feria de Londres, ¡no es tan divertido porque sólo piensas que estás gastando libras y te quieres suicidar! No es como que haya ido a pasarla bien. Me parece un colonialismo silencioso pensar
«iré con mi galería europea y les encantará». Quiero decir, voy a Nueva York seis veces al año, a Berlín tres veces y después a París, así que investigo y es por eso que conozco la escena. Como mexicano, creo que estamos muy conscientes de que tenemos que hacer este tipo de cosas. Cuando un galerista extranjero me dice «ah, no vendí un carajo» les contesto que primero vengan de visita.
CARLOS AMORALES: Soy muy claro acerca de lo que quieren vender de mi obra en el mercado. De hecho lo disfruto, creo que es parte de la articulación de mi obra y quiero tener la libertad que otorga vivir de mi trabajo. Mis padres nunca lo hi- cieron, enseñaron toda su vida. Bien por ellos, encontraron algo que satisficiera su compromiso político. Vivir de la producción artística claro que es un reto, porque en algún momento se espera que produzcas cierta obra y cuando eso se establece, la gente quiere más y más y más de lo mismo.
NAOMI RINCÓN GALLARDO: Cuando no vives de tu arte, y sigues produciendo como un artista devoto, corres el riesgo de cansarte muy rápido con la sobrecarga que se lleva en los hombros, y se entra a un estado de constante autoexplotación. Esto me parece peligroso en términos de la tensión personal que uno experimenta tratando de balancear su tiempo entre la obra que le da de comer, y la producción artística. Sin embargo, yo tengo muy claro que no me interesan las galerías como un formato para el arte. Me interesa generar un tipo de experiencia que pueda exceder el espacio del público del arte para trasladar otras cosas.
CARLOS AMORALES: Pero debes desafiarte a ti mismo, lo interesante con el mercado es que el desafío se vuelve real. Después, el mercado te permite tener un estudio, trabajar de manera independiente y ¡te da el tiempo para leer sobre anarquía! También puedes desafiar al mercado, creo que para un buen galerista es más desafiante vender una obra difícil que la “fácil”. He notado esto con mi ga- lerista, en el momento en que debe vender una pieza increíblemente extraña y lo consigue. Lo hace más interesante para todos.
NINA HÖCHTLI: Puedes notar que, en nuestros días, la autoexplotación sucede en todas las profesiones. Desde periodistas hasta químicos, diseñadores o amas de casa; por lo mismo, considero que ser artista de tiempo completo es muy difícil, porque para la mayoría implica autoexplotación. Debes estar en las ferias, trabajar en tu obra, generar ediciones limitadas, documentar, después el coleccionista quiere otro video similar al que primero compró, que no quieres hacer necesariamente pero lo venderás bien. Todo este trabajo es difícil y contradictorio. Talvez emplees un asistente y tengas que buscar un estudio más grande; así vas creando un sistema de trabajo. Es muy probable que reproduzca condi- ciones de trabajo explotador, pero tienes a alguien ahí que depende económica y socialmente. No parece haber alternativas efectivas para los modos de trabajo de autoexplotación, es omnipresente y hace que el sistema neoliberal de trabajo globalizado funcione fluidamente.
ARTE POLÍTICO VS. POPULISMO
CHANTAL PEÑALOSA: Me parece que en los últimos años hubo una sobrepro- ducción de arte que intenta incidir en cuestiones políticas y sociales. Ahora, me parece que tendríamos que replantear ciertas preguntas. ¿Qué se entiende por activismo político? ¿Cómo se entiende desde las artes? Son dos cosas distintas que suceden en realidades distintas. Una termina ocupando un lugar simbólico en el arte y la otra se puede volver en una política realista. Hay maneras de articular un comentario político desde el arte a través de dispositivos tradicionales, es decir, cuando la mera utilización del medio (fotografía, video, pintura, etc.) apunta hacia un foco que automáticamente politiza la imagen. La constante apropiación de narrativas que se construyen fuera del arte y que después aparecen como parte de un discurso dentro de este campo, me hace preguntarme: ¿es posible generar una traducción del lenguaje que se produce desde el arte para aproximarse de ma- nera concreta a una realidad inmediata? ¿Qué tanto una representación simbólica favorece en este tipo de contextos o cuándo terminan en la espectacularidad? ¿Se intenta devolver conocimiento significativo a dichos mecanismos y campos de estudio con los cuales el arte se relaciona?
CUAUHTÉMOC MEDINA: En México existe una clara politización de las prácti- cas, como los trabajos de Teresa Margolles, de Santiago Sierra o Francis Alÿs, que debaten acerca de las condiciones del arte y sus límites respecto a temas políticos. Pero otra cosa es tener un número significativo de artistas que se pregunten cómo relacionar su obra para que sea útil en la práctica o generar intervenciones útiles. Es una cuestión de acción inmediata. En 2012 eso estaba relacionado para girar en torno a ciertos discursos: uno era la noción de comunidad y la idea de que hay algo más substancial que se expresa a sí mismo en diferentes niveles de conocimiento o ingenuidad, dentro de lo que se conoce como comunidad. No necesariamente la comunidad artística, sino la idea de que hay una práctica horizontal y una actividad política que gira en torno a la noción de comunidad, más allá de los partidos, la sociedad civil o el Estado. El otro elemento consistió en la reaparición de militantes anarquistas, en oposición al liberalismo marxista o simplemente para cuestionar el remordimiento político. Ahí es donde se encuentra el tercer factor, que es la justificación de un cierto linaje de ultra izquierda.
NINA HÖCHTL: Creo que el arte transdisciplinario, en genral, es complicado. Digamos, que un grupo zapatista se une con un grupo de artistas; sería necesario mucha negociación, mediación y quién sabe qué más; quiero decir, no encontra- rían su sitio de inmediato. Principalmente porque hay diferencias estructurales. ¿Por qué y cómo las combinas? ¿Qué haces con esa combinación y con qué propósito? ¿Quién es responsable de las consecuencias? Si tienes un grupo artístico que se encuentra con los zapatistas, el hecho es que la reunión no convierte a los artistas en un grupo político, ni a los zapatistas en uno artístico. Ciertamente parece
haber necesidad de compromisos políticos y sociales en el mercado del arte, pero eso no significa que los artistas ni sus prácticas sean automáticamente políticos.
MICHEL BLANCSUBÉ: Tal vez el activismo político simplemente no debería ayudar al arte. Por ejemplo Nitsch, quien no estaba participando en la gran acción llamada Kunst un Revolution, que sucedió en la Universidad de Viena, en 1968. Sólo estaban Günter Brus, Otto Muehl, Oswald Wiener y Peter Weibel. Sencillamente, Nitsch no tenía interés en eso; incluso Brus dijo después que no había ido ese día a la universidad para hacer algún tipo de expresión artística, sino para provocar y joder algunas cosas; y las jodió bien. Al final, Brus también dijo que el Grupo de Viena, junto a todos sus seguidores, estaba más obsesionado con algún tipo de espíritu anárquico que con cualquier otra cosa. Dicho eso, no creo que sepa o entienda de qué va exactamente el arte político. Comúnmente se reduce a una actitud exhibicionista del artista o el curador, para mostrar su buena conciencia al mundo que lo rodea.
CARLOS AMORALES: Las nuevas participaciones de artistas en política comen- zaron hace dos años, cuando Peña Nieto era candidato. Era un movimiento que trataba de detener la elección de Peña Nieto bajo el título Arte por la izquierda. Me involucré y fui a algunas reuniones, pero al final había algo disfuncional en torno a ello; honestamente me encontré con algo muy triste: éramos cien artistas y teníamos reuniones en SOMA, pero no podíamos llegar a un acuerdo todos juntos. Era una locura, inmediatamente caímos en viejas prácticas pensando «somos artistas, ¿qué hacemos? Oh, hay que hacer una pancarta». Treinta años han pasado desde la última protesta masiva y aún no podemos encontrar nuevas formas de protestar. Algo estaba muy mal entonces.
JUAN A. GAITÁN: No creo que Ayotzinapa haya desencadenado un arte político en México. Hay una exposición de Pablo Vargas Lugo en el Tamayo, estará Francis Alÿs, Francisco Toledo ha estado presente en las noticias. El arte político no necesita ascender, ha estado ahí desde hace tiempo. De cierta manera, todos estamos activos políticamente, eso es todo lo que puedo decir. Aunque espero que los artistas asuman una posición, esto no significa que deberían convertir su trabajo en una ilustración de su posición política. Por otra parte, tampoco creo en el arte desde un punto de vista funcionalista, tal vez estés preguntándole a la persona equivocada. Necesitamos ser más creativos, política y socialmente, y este es papel que los museos y las obras deberían proveer para la sociedad. Más que anunciar las inclinaciones políticas –para mí ése no es el sentido del arte–, necesitamos mejorar nuestra imaginación política y nuestra sensibilidad en torno a imágenes y la manera en que afectan tanto nuestra vida cotidiana como las políticas públicas de nuestro país.
MICHEL BLANCSUBÉ: No creo que haya ninguna verdadera postura política innovadora haciendo eco en el arte, en nuestros días. Siento que la sociedad ahora se informa más rápido que antes, así que los artistas se encuentran corriendo detrás de estos desarrollos y no están, bajo ningún término, revelando nada que las redes sociales no hayan mostrado antes. El arte político tiene, al menos, que dejar simplemente de reproducir algo que ya está sucediendo en otra parte de la sociedad. Debe añadir algo, en un sentido crítico; así que si se hace un cartel depende de dónde se cuelgue, porque el material es una cosa pero después está la cuestión: qué espacio se escoge para hacer visible la protesta. El artistas suizo Markus Geiger, por ejemplo, colocó una kipá precisamente encima de la secesión de Viena, en 1992: el objeto por sí mismo era atractivo pero tomó un significado más profundo por el lugar donde apareció.
YOSHUA OKÓN: Cuando se piensa en el arte político, es interesante revisar la figura del terrorista. Es la excusa perfecta para la violencia, la represión, la guerra y la persecución por parte de los Estados y las corporaciones. En México, el narco ocupó el lugar en esta figura. Ha habido una continua persecución de activistas políticos y periodistas, miles han sido asesinados durante los últimos sexenios pre- sidenciales, y el Estado siempre culpa al narco. Con el horrible asesinato de 43 estudiantes activistas en Ayotzniapa, con pruebas irrefutables de que el Estado cometió el crimen, el teatro se les cayó. Aún así, si el asesinato de 43 ha desencadenado algo, particularmente entre artistas jóvenes, espero que sea algo que perdure.
YOLLOTL ALVARADO: No creo que haya algo como “tiempos radicales para reacciones radicales” en el arte político. No creo que exista algo que provoque que los artistas conviertan su práctica en algo político. Para mí es sólo el hecho de vivir en cierto contexto y estar permeado en él. El campo político cambia de manera rápida, en nuestros días; al menos eso es lo que mi conciencia política me permite considerar, todo está sucediendo muy rápido de manera compleja. La cuestión es cómo te quieres involucrar en estos cambios y qué tanto quieres modificar tus prácticas. No me gusta la idea de las tendencias, el “momento” del arte político o el momento coyuntural cuando todos salen a las calles. Quiero decir, sí voy a protestar para demostrar, pero tomé la decisión de que quiero cambiar las cosas basándome en el trabajo diario. Hay artistas que pueden formular problemas den- tro de la escena artística, pero no están viviendo estos problemas en su vida coti- diana, sólo tomando estos problemas para que se discutan en la esfera artística. No hay nada que suceda ahí.
MÓNICA MAYER: Hablando sobre qué mundos nos interesan y cuales no; algo que yo misma no me había dado cuenta hasta que empecé a hacer obras sobre los archivos, era la cantidad de performances que se daban en las manifestaciones. En la generación de los grupos está contemplado, Proceso Pentágono y Mira y Germinal, y otros varios en los que estuvo Ehrenberg. Su trabajo en las manifes- taciones viene en los libros (aunque todo el trabajo feminista no está). Esto sigue sucediendo, a pesar de que hay grupos como Producciones y milagros, agrupación feminista A.C. que son Ina Riaskov y Rotmi Enciso, que tienen un archivo impre-
sionante en el Internet con todos los performances en manifestaciones de feminis- tas y lesbianas en México, desde hace más de veinte años. Y Rotmi lleva desde de los ochenta documentando la producción artística en las manifestaciones y han hecho piezas que son virales. A ellas no les interesa ni el mercado del arte, ni los museos, pero a mí me parece importante que su trabajo se difunda y sea conoci- do en este sector, por lo que siempre procuro incluir su trabajo en conferencias y textos. No porque ellas lo necesiten o busquen, sino para abrir definiciones en el mundo artístico. No todo es la Kurimanzutto.
YOSHUA OKÓN: Es muy importante entender la distinción entre arte que se compromete con la esfera política y el activismo. Hay una sutil diferencia que se- para a ambos, pero que los coloca en lados opuestos. La mayoría de la gente, par- ticularmente la que no se especializa en arte, pierde de vista la distinción entre el arte que opera en el campo político y el activismo: el arte nunca es activismo. El arte no cuenta con el lenguaje que necesariamente implementa la política. Además, el arte no tiene agendas políticas específicas. El activismo habla –debe hacerlo para ser efectivo– un lenguaje que es capaz de lograr metas específicas (por ejemplo, prevenir la privatización del agua). Estas no son disciplinas autoex- cluyentes, se puede ser al mismo tiempo artista y activista en tiempos distintos, pero sí existe una distinción.
NAOMI RINCÓN GALLARDO: Entonces si hay artistas que afirmen que tienen problemas con plantear una línea entre su arte y sus acciones políticas, talvez signifique que sencillamente no hay acciones políticas. Además, creo que la ma- nera en que se trabaja, cuando se hace visible el arte y las posturas políticas son inherentes en la obra, realmente no se puede hacer esa distinción.
MÓNICA MAYER: En el México de hoy la realidad política se ha filtrado a la obra de todo tipo de artistas –desde los que pintan hasta los que hacen performance; es tema para los artistas buenos y para los malos, para los jóvenes y para los mayores. Si sólo le rascas a la superficie vas a acabar repitiendo los nombres ya conocidos, como Francis Alÿs, Teresa Margolles y Santiago Sierra que ya son reconocidos y han sido legitimados por el mercado. Si te quieres limitar al arte conocido internacionalmente y que es parte del mercado, a mí no me incluyas, ¡yo no soy artista en este esquema!
NINA HÖCHTL: Pero, de nuevo: ¿quién pone los criterios para decidir que una acción política es “verdadera”, y lo que debe ser una obra de arte “valiosa”? Debe haber arte político que realmente se piensa pero que cuando toma forma se des- morona. También hay artistas que son capaces de aplicar ciertas estéticas que no son necesariamente políticas aunque involucren un tema político, pero quieren llamar la atención de cierto círculo de gente, educadas en ciertas escuelas que, de nuevo, está relacionada con cierta clase social y sus criterios, ideologías, gustos y demás. Si te quedas en estos parámetros, la obra puede encontrar su lectura, distribución y mercado entre este círculo. Con frecuencia, esta clase de círculos también tienen mucho dinero que les permite invertir en este tipo de arte que, al final, resulta casi a la medida para ellos. Esto se puede hacer con las mejores intenciones para el complejo momento político o se trata de puro oportunismo, pero ¿quién soy yo para juzgar?
CHRIS SHARP: La producción de arte en Latinoamérica está determinada por ciertos estereotipos; entre ellos, que el arte debe estar comprometido social y po- líticamente, salvo algunas excepciones. Por lo que a mí respecta, estoy interesado por la pluralidad de prácticas y modos de creación. Considero que es importante, más que este tipo de límites o, incluso, la manera determinante de crear obra estrictamente política. ¡Para mí eso es populismo o realismo socialistas, de los soviéticos! Este tipo de requerimientos implícitos realmente limitan y, al final, dañan la producción artística. No estoy, necesariamente, en contra del compromiso político: estoy en contra del compromiso político a expensas del arte. Cuando éste se pone al servicio de ilustrar una agenda clara, se convierte en propaganda. Conozco muchos artistas que están comprometidos políticamente pero consiguen crear una síntesis perfecta entre todos estos distintos elementos dentro de su obra. Eso genera una obra muy compleja y completamente integrada, algo raro en cualquier contexto.
CARLOS AMORALES: Encuentro la postura de algunos artistas mexicanos y colectivos en contra del mercado un poco absurda. ¿Por qué no comprometerse, digamos, de manera crítica? Quiero decir, se tiene una palabra y la manera de encontrar el espacio propio dentro de este mundo. Si no, se sustituye por el Estado o fundaciones o se recibe dinero de los padres. Pero será mejor que se sea rico o de qué otra manera se puede sobrevivir, ¿plantando vegetales para financiar el arte conceptual? Encuentro ese tipo de oposición muy extraña. Dicho eso, diré lo que encuentro difícil con la generación joven de nuestros días: no plantean un desafío. Eso es lo que me moleta: no plantean ningún chingado desafío. Por ejemplo, Cráter Invertido: cuando conoces el proyecto dices “¡ah, estas personas desafían!”, pero luego comienzas a notar que se trata más de una estrategia de supervivencia que de un desafío. Para mí, el problema es que justo cuando comencé a escuchar de estos “anarquistas radicales”, recibí un correo desde los Países Bajos, de una fundación que apoya con dinero a países del “tercer mundo”, preguntando ¿quiénes son estos de Cráter Invertido? Acaban de pedir financiamiento». No respondí porque estaba pensando qué tipo de anarquista pediría financiamiento holandés. Eso es lo que hacen las organizaciones no gubernamentales pero estas ONGs no son anarquistas; hay una diferencia.
MOISÉS COSIO: Creo que conozco a Cráter Invertido bastante bien, tengo una relación personal con tres de sus miembros y no creo que estén usando su arte como una excusa para impulsarse dentro del mercado. Aún así, cuando notas lo que es interesante acerca de lo que sucede en el arte contemporáneo, es el hecho de que cada vez tiene menos que ver con estéticas; en cambio, cada vez es más sobre ideas, y pensar los procesos y las estructuras. Como lo veo, muchos artistas siguen preocupándose sólo por la estética, el arte contemporáneo, haciendo una imitación de algo que no es estético. Termina por ser una imitación estética. ¿Estoy siendo claro? Pero no veo eso en la práctica de los artistas que conozco en Cráter Invertido; para mí son honestos, es claro cuando los ves obsesionados por ciertas cosas y las concluyen. Tal vez, no sea objetivo simplemente porque me caen muy bien, pero no estoy de acuerdo con el argumento de que utilizan su postura política para adentrarse en el mercado. De cualquier manera es difícil hablar de este tipo de temas, por lo abstracto que resultan, además hay muchas posturas distintas y todas ellas son válidas. Al final, creo que lo más importante son este tipo de conversaciones que se generan por el arte. Eso es lo que justifica todo el proceso de coleccionar, hacer exposiciones o talleres en la fundación [Alumnos 47]. Recibir a gente para tomar café, debatir y aprender de cada uno.
CARLOS AMORALES: Creo que el arte también refleja malos sentimientos que individuos tienen acerca de la sociedad, y los artistas ocupan con mayor frecuencia el papel del opositor o del fracasado. Entonces, cuando veo el trabajo de Alighiero Boetti no puedo decir que sus problemas personales se aparten de su obra, siento su lado yonqui. Lo mismo sucede con la obra de Sigmar Polke durante los setenta, sientes en su trabajo que era un yonqui, sientes la oscuridad; me gusta ese tipo de arte. Estos artistas han hablado acerca del lado oscuro y feo de la vida, y me gusta esa parte tanto como la sublimación, el lado de Matisse, de la belleza. Pero creo que como arte activista es como negar eso. El arte es simbólico, las pinturas de Polke no son yonquis pero está representando algo. El problema es que si eres un activista y quieres cambiar algo en la sociedad, te esfuerzas por lograr estos cambios con acciones reales y, si tienes suerte, resultan bien. Con el arte, este esfuerzo se vuelve simbólico: se trata de querer cambiar la sociedad, pero no sobre cambiarla. En el arte también te puedes volver radical y mientras lo expongas en una galería la gente dirá: “¡ah, está tratando con algo serio!” Pero eso no lo resuelve.
CRÍTICA
CHRIS SHARP: Existe una gran posibilidad de que si asistes al Covadonga un viernes por la noche te encuentres con la mitad de la escena artística de México. La falta de crítica es realmente simple, es un problema pragmático. He estado en variadas y pequeñas escenas, y aunque la ciudad de México es una ciudad inmensa, la escena crítica es proporcionalmente pequeña. En las grandes capitales del arte, como Nueva York, Berlín o Londres, no es probable que te encuentres al crítico que destroce tu exposición, y destrozará tu exhibición. Pero si estás en una escena pequeña, esto no sucederá, nadie la destrozará. En la de México hay mucho antagonismo por dentro, muchas peleas internas y aún así, todos son muy amables con el resto.
JUAN A. GAITÁN: En un sentido más amplio, hay debate en México, es sólo que se encuentra disperso. Las universidades constantemente organizan foros y debates entre historiadores de arte y críticos. El problema es que la crítica en los medios de comunicación populares no es muy rigurosa. Pero que no se crea que es un caso únicamente mexicano. La crítica se ha retirado a las universidades, los críticos se han aislado; ya no existen figuras públicas. Ahora hay gente que hace reseñas o crítica de arte en la prensa popular, pero me parece que no están muy informados.
ARTURO DELGADO: La escena de los críticos en México solía ser muy activa desde la década de los sesenta hasta los noventa. Había grandes nombres como Ida Rodríguez Prampolini, Olivier Debroise e incluso Octavio Paz. Aún quedan algunos como Teresa del Conde, pero la mayoría se especializa en arte moderno y el muralismo mexicano del siglo XX, la última de esta línea fue Raquel Tibol, quien falleció en febrero. La crítica de arte en México es especialmente problemática, porque en este país las artes están conectadas con firmeza a lo social. Además su lugar en la prensa es frágil; en un país abrumado con noticias horribles todos los días, si escribes sobre algo tan trivial, aparentemente, como el arte, es probable que llame demasiado la atención. Aunado a esto, está la manera en que el arte se asimila dentro de la cultura mexicana: se percibe como un problema social más que algo que tiene un verdadero significado. En algunos casos, las artes visuales se muestran dentro de las secciones de “nota-rosa” o sociales, dentro de las revis- tas o está relacionado con la moda y el estilo de vida, mientras que la literatura y las artes performativas operan en planos completamente distintos, casi sin diálogo. Entonces el discurso y la narrativa de los críticos son siempre de denuncia, los que significa que si como crítico no estás contra todo el statu quo nadie te tomará en serio y si te atreves a aplaudir la obra de un artista, inmediatamente serás visto como alguien sujeto al costado comercial de las artes. Así, ¿quién estaría dispuesto a hacer este trabajo?
CUAUHTÉMOC MEDINA: Al mismo tiempo está sucediendo algo de lo que me siento particularmente mal, en algunos medios se ha optado por tener algunos críticos de arte increíblemente reaccionarios. Es el caso de la revista Proceso, donde colabora la escritora neofascista Blanca Sotos. Lo que estaba describiendo antes en esta tensión que el arte contemporáneo era insignificante y, por lo tanto, la gente lo veía sin saber realmente de qué se trataba hasta que entramos en la conmoción de la nueva popularidad de este nuevo arte. Después existen voces que básicamente siguen repitiendo lo mismo: «no entiendo», sin darse cuenta que entender no es el problema. Entonces lo que tienes es una escritura analfabeta que no desafía al público para su propio bien –parafraseando a Walter Benjamin y Theodor Adorno–, pero eso es, de hecho, tomar una postura respecto a nuestro cuestionamiento represivo en la práctica contemporánea. Eso es un problema.
Aún así, en comparación con cualquier otro país de América Latina, México lo está haciendo muy bien. En comparación con muchos países de Europa, México está muy bien, ¡lo que significa que estamos en problemas!
GABRIELA JÁUREGUI: En general, hay un problema más en el mundo del arte: no hay incentivos para ser críticos. No hablemos de cualquier persona rara, como yo: mi formación incluye teoría literaria y estética y mi escritura es creativa. O de gente que viene de otras disciplinas, incluso músicos, alguien como David Byrne, quien no estudió historia del arte pero también terminó escribiendo acerca de arte. Hablemos de la crítica como una profesión. La gente que estudió historia de arte, ¿por qué quisiera ser crítico? Si entran a la academia es una historia distinta, pero si están en el mundo del arte, la posición que tiene mayor recompensa, que es más glamorosa y más poderosa es la del curador. Así que si consigues eso, ya puedes dejar el “deprimente” trabajo de escribir textos porque es molesto, nadie paga y cuando lo hacen es poco. Como curador, eventualmente, tienes boletos de avión, lindas cenas, lindos museos, galerías y ferias de arte por todo el mundo, ¿sabes? Eso sin mencionar el poder. Ése es el incentivo, es la recompensa. ¿Por qué quienes estudian historia del arte quisieran ser críticos? Es mucho trabajo y las revistas pagan tarde, si es que lo hacen. Ser crítico dejó de ser un trabajo. Tal vez lo sea en periódicos como New York Times, pero el espacio en medios impresos es muy reducido. Si aún así se sigue con eso es porque realmente se tiene una apasionada necesidad, una urgencia política y ética para hacerlo; de otra manera –y seré cínica– es como pedirle a alguien que se convierta en monje.
CUAUHTÉMOC MEDINA: Soy un crítico en asueto, ¿cierto? Entonces el pro- blema es que todo lo que diga puede fácilmente ser deconstruido como el simple hecho de que debería estar escribiendo. Pero sé perfectamente bien que el sistema de la crítica de arte con el que comencé ha colapsado. Se ha desmoronado hacia distintas direcciones, lo que ha provocado que los textos que escribamos ahora sean cortos, idiotas, emotivos, inmediatos o de oposición; con frecuencia sin tener una postura ante algo en especial. O son textos largos, académicos, complicados, ilegibles y, aún así, son trabajos populares, efectivos y significantes. Mientras tanto, la norma en la crítica de arte, que solía ser la columna de opinión del crítico en algún periódico local de alguna manera se ha desmoronado. En lo personal, disfrutaba mucho la función de ser crítico en un diario gratuito, que tenía la ventaja que ser parte de un medio que básicamente no tenía interés. Comparado con un escritor de política, por ejemplo, el crítico de arte solía tener la libertad de criticar a alguien sin hacerse notar o que el editor dijera «mira, esa persona es la madre, hermano o sobrino de un anunciante del periódico. No puedes escribir sobre eso». Pero el hecho de que venga de la generación de viejos dinosaurios de la crítica no significa que sea la única que debería existir, tampoco que ya no exista. Era una de las tres personas en el mundo que lo hacía, ¡ahora hay dos! Sin embargo, cuando hago una exposición en Londres (o cualquier parte de Europa), un artículo escrito por Adrian Searle es algo que realmente me importa. Adrian es sorprendente e incorruptible, tiene sentido lo que dice y me hace feliz o me hace enojar: es ese tipo de crítico. Si me golpea en la espalda me duele y si me elogia me emociono hasta bailar. Nadie más tiene ese efecto en mí.
GABRIELA JÁUREGUI: Aún así, como crítico de arte profesional no harás dinero, nadie te invitará a algún lugar glamuroso, la gente te odiará, no podrás pedir nin- gún chingado trago porque todos los artistas del bar dirás “ahí viene este pendejo”, ¿sabes a qué me refiero? ¡Es difícil! La manera en que el mundo ha cambiado y no sólo me refiero al arte, sino a los medios impresos, ha provocado que esta profesión esté en vías de extinción. Por supuesto, también están todas estas personas que escriben, curadores que escriben, pero el crítico profesional es una especie que se está acabando. Sin embargo, creo que la crítica, de la manera en que uno se quiera acercar, es necesario. Sólo escribir y pensar acerca del arte es un proceso definitivo para artistas y la escena artística. Es una parte esencial del ecosistema.
MÓNICA MAYER: En nuestro archivo de textos de opinión sobre arte publicados en los diarios mexicanos desde 1991, guardamos tanto lo que escribe un crítico, como un artista, pero también escritores, funcionarios y políticos si se refieren al arte o a su sistema. Todo es interesante y parte de la discusión. Entonces yo no ha- blaría de una critica porque ¿dónde existe? En estéticas talvez la hay, pero serían textos muy académicos. Creo pasa lo mismo aquí en México. Como en el resto del mundo, se cierran los espacios para la crítica en los periódicos. En muchos periódicos donde había crítica ya no hay. Que eran espacios pagados, que para mí es lo importante. En los noventa era muy fácil que si había una exposición escribían al respecto cinco o seis críticos. Ahora la crítica está muy diversificada pero también atomizada. Hay críticos especializados en cómics, performance, arquitectura, arte contemporáneo, etc. Hoy se escribe mucho de arte, hay muchos blogs, muchas revistas independientes pero todo esto es trabajo gratuito. Sin embargo, hay muchos textos. Sólo falta que los lea alguien, ¡ese es el problema!
CUAUHTÉMOC MEDINA: En México hay un crecimiento significativo de gente que obtiene información de Internet, en vez de recibirla de periódicos, por lo que muchas plataformas para la crítica de arte han cerrado. Pero hay nuevos espacios para el debate y la crítica; además, personalmente valoro el espacio corto para el intercambio de opinión inmediato de Twitter y Facebook. Creo que, en cierto sentido, no lo estamos notando pero hay una democratización de la práctica, de esa libertad de expresión que genera mucha crítica rápida, de primera mano, que para atacar funciona muy bien por el flujo de energía, que está determinado por los medios.
MICHEL BLANCSUBÉ: Cuando la asistente austriaca de Nitsch llegó a la ciudad de México a finales de febrero, ella comenzó a ver Metro y ese tipo de tabloides mexicanos. Dijo que sería imposible en Austria, añadiendo que serían atacados judicialmente, por la exhibición de tal violencia.
CARLOS AMORALES: Para mí, lo verdaderamente sorprendente de la cancela- ción de la exposición de Hermann Nitsch es que ningún artista está reaccionando a la censura. En cualquier país cuando se censura algo, la gente reacciona: es- cribe cartas, se publica el descontento en los periódicos. No puedes permitir que censuren a una universidad, sin importar qué pienses de su trabajo; la censura siempre es inaceptable. El momento en que lo aceptas, estás jodido. Lo estamos aceptando, porque todos tienen miedo de Jumex. Me pregunto cuáles son los mo- tivos, si la gente tiene miedo o sólo no piensan en eso. Pero al final, se siente el miedo. Nitsch es un gran artista, tiene un lugar en la historia, el tipo ha estado tres veces en la cárcel por sus ideas y ahora está en México, peleando por su obra. No necesitaría hacer eso, pero viene a mostrar la cara, a decir «esto es lo que hago». ¡Eso me impresiona! Cuando estaba leyendo los comentarios acerca de Nitsch, percibí cierto fascismo; es increíble lo que la gente escribe. Había algo como “¿Quién es este pseudoartista?” ¿Nombrar a Nitsch “pseudoartista”? Ni siquiera conocen el contexto, creen que es un hipster de 25 años, posconceptual, que viene de Viena. Destruir el trabajo sin realmente conocerlo, y después utilizar la misma estética de sangre y violencia para las acciones propias y campañas que supuestamente intentar despertar conciencias. Me siento frustrado por estos activistas, algo similar a la frustración después del fracaso de las protestas por Ayotzniapa. Quiero decir, en noviembre había gente dispuesta a tirar el gobierno y, después de Navidad, de repente todo estaba olvidado. Ahora, con la cancelación de la exposición de Nitsch, algunos se sentirán muy contentos porque finalmente lograron conseguir algo. Es decir, en noviembre decíamos que la primavera ára- be sucedería en México, y en cualquier país, las razones hubieran sido más que suficientes como para comenzar una revolución. Pero aquí es suficiente acabar con la exposición de un artista que nos disgusta por cualquier motivo, y estamos satisfechos con nosotros mismos.
CUAUHTÉMOC MEDINA: Finalmente, creo que de alguna manera, la pregunta de cómo debería trabajar la crítica conlleva más conflictos ahora. Antes, alguien escri- bía a favor o en contra de ciertos artistas o exposiciones y había consecuencias. Hay momentos en que la escritura que produce cierto efecto homogéneo, que parece tener un comportamiento distinto ahora. Algunos de ellos son textos curatoriales, otros son académicos o selecciones curatoriales; ése es un problema muy reciente. De pronto estamos repletos de historia de arte contemporáneo que antes no existía, no se suponía que existiera. El crítico de arte está por convertirse en intrascendente, algo parecido a la universidad, en donde puedes decir lo que quieras sin consecuencias para citar a mi amigo Manuel Hernández, el psicoanalista. La crítica no solía ser así, hay escritos que tienen consecuencias, pero podría argumentar que la crítica ha dejado de tener efecto en la opinión de la gente. Entonces, la forma de la propia crítica de arte o la ubicación de esa forma está cambiando y estoy seguro que sucede en todo el mundo, pues el concepto de la esfera pública, en general, está enfrentándose a cambios drásticos. Sin tomar eso en cuenta, mi argumento es que el efecto de la crítica, que cuando yo escribía cambiaba opiniones de lo que era posible, sigue ahí.
Participan:
Felipe Ehrenberg, artista visual, pieza clave en el desarrollo del performance y los grupos artísticos en México durante la década de los setenta.
Cuauhtémoc Medina, crítico e historiador de arte, curador en jefe del Museo Universitario de Arte Contemporáneo.
Chris Sharp, curador independiente y editor, dirige, junto a Martín Soto Climent, el espacio de arte Lulu, en la ciudad del México.
Alex Becerra, joven artista estadounidense, recientemente estuvo en México durante Zona Maco con la galería LTD, de Los Ángeles.
Michel Blancsubé, curador del Museo Jumex y jefe de registro de obra de la Colección Jumex.
Fernando Mesta, galerista, director de House of Gaga, en la ciudad de México.
Moisés Cosio, coleccionista, presidente de la Fundación Alumnos 47, en la ciudad de México.
Carlos Amorales, es artista, su exposición más reciente es El esplendor geométrico, em la galería Kurimanzutto, en la ciudad de México.
Chantal Peñalosa es una joven artista, becaria del programa de Bancomer BBVA-Carrillo Gil.
Yollotl Alvarado, es un joven artista, miembro de la cooperativa, con sede en el DF, Cráter Invertido.
Mónica Mayer, artista y crítica de arte, en 2011 inició el «proyecto artístico de integración y reactivación de archivos» www.pintormiraya.com.
Nina Höchtl y Naomi Rincón-Gallardo miembros del colectivo mexicano Invasorix, interesado en las «formas de protesta cuir-feminista».
Juan A. Gaitán, director del Museo Tamayo. Fue curador de la 8a Bienal de Berlín.
Yoshua Okón, es artista, fundador de la iniciativa educativa SOMA y del emblemático espacio de arte independiente La Panadería, ambos con sede en la ciudad de México.
Arturo Delgado, director del Centro Cultural del Bosque, en la ciudad de México. Gabriela Jáuregui, escritora, poeta y traductora mexicana.
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