#universalgeschichte der schrift
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Wonach greift die Hand? Welchen Gegenstand der Künstler in der Bronzezeit in Dänemark in einen Stein gemeisselt hat, können wir nur vermuten. (Bild: CM Dixon / Heritage Images) Warum schreibt der Mensch, und warum ist er sesshaft? In einer weit ausholenden Studie erzählt Jürgen Kaube von menschheitsgeschichtlichen Umbrüchen. Einfache Antworten gibt es keine, auch nicht auf die naheliegendsten Fragen. Thomas Macho, 22.9.2017, 05:30 Uhr Es erfordere Mut, «sich auf Anfänge festzulegen», schrieb Jürgen Kaube einmal. Es setze ausserdem eine «hohe Ansprechbarkeit durch Geschichtsphilosophie voraus». Mut und solche Ansprechbarkeit bezeugt Kaube, Feuilleton-Chef und Mitherausgeber der «FAZ», nun in einer umfangreichen Studie, deren Titel eine Enzyklopädie der Anfänge verspricht. Jürgen Kaube trägt damit drei Entwicklungen neuerer Geschichtswissenschaft Rechnung: erstens dem Interesse an Globalgeschichte, jenseits der Beschränkung auf Europa und Nordamerika, zweitens dem Interesse an einer longue durée der Universalgeschichte, beflügelt nicht zuletzt durch den Erfolg von Yuval Noah Hararis Sapiens-Projekt, drittens dem wieder erwachten Interesse an narrativen Formen der Geschichtsschreibung, etwa in David Van Reybroucks Geschichte des Kongo (2010). Während sich die global- und universalgeschichtlichen Zugriffe beinahe von selbst verstehen – wie sonst sollte über die Anfänge des aufrechten Gangs, der Sprache, der Kunst oder der Religion gesprochen werden? –, überzeugt die narrative Kompetenz des Autors gerade an jener fernen Grenze, an der Geschichtsphilosophie und Evolutionstheorie miteinander zu verschmelzen scheinen. Kaube erzählt «So könnte es auch gewesen sein»-Geschichten über die Anfänge des Menschseins; mit nachvollziehbarem Vergnügen wendet er Befunde und referiert die darauf bezogenen Hypothesen, die einer anderen Hypothese widersprechen. Das Gesetz des Kreislaufs Die Vielfalt möglicher Anfänge zeigt auch: Anfänge sind keine Ursprünge, die zu politischen Rechtfertigungen taugen. Gültig bleibt die Kritik eines «ursprungsmythischen Bewusstseins», wie sie Paul Tillich bereits 1933 formuliert hatte – und nach ihm der Berliner Religionswissenschafter Klaus Heinrich. «Der Ursprung enthält in sich das Gesetz des Kreislaufs», schrieb Tillich in «Die sozialistische Entscheidung»: «Was von ihm kommt, muss zu ihm zurück. Wo der Ursprung herrscht, kann es das Neue nicht geben. Die Herrschaft des Woher macht die Ernsthaftigkeit des Wozu unmöglich.» Doch Jürgen Kaube geht es gerade um das Wozu, freilich nicht im Sinne eines blanken Funktionalismus. Gerade die Technikgeschichte wird weitgehend ausgeklammert. Nicht die Anfänge der Nutzung des Feuers, sondern die Geschichte des Kochens und ihre Implikationen, die Zeiten der «Zähne und Feste», werden im zweiten Kapitel diskutiert; nicht die Anfänge des Pflugs, sondern der Landwirtschaft, nicht die antike Erfindung des Krans, sondern die Geschichte der Stadt. Nicht materielle Techniken, sondern symbolische Operationen stehen im Mittelpunkt des Interesses: die Anfänge des Sprechens und der Sprache, der Kunst, der Religion, der Musik, der Schrift oder der Mathematik, die Anfänge des Tanzes, des Staates, des Rechts oder des Geldes, die Anfänge des Erzählens oder der monogamen Ehe. Eine methodische Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass die Rekonstruktion der Anfänge symbolischer Operationen auf materielle Zeugnisse angewiesen bleibt: auf archäologische Funde, die dem zeitlichen Verfall trotzen konnten. Eine weitere Schwierigkeit betrifft die Singularität von Begriffen wie Sprache, Kunst, Religion oder Recht, die nicht nur eine Vielfalt von Phänomenen beschreiben sollen, sondern auch eine Trennschärfe simulieren, die eher die im 19. Jahrhundert etablierte Systematik der Wissenschaften repräsentiert als die historischen Prozesse. Wir können heute die paläolithischen Höhlenbilder – in prachtvollen Bildbänden, Filmen und musealen Rekonstruktionen – bewundern; aber wir wissen nichts über die Motive ihrer Herstellung und über mögliche kultisch-rituelle Hintergründe, wie sie beispielsweise der Kunsthistoriker Max Raphael mit seiner Spekulation über eine «Wiedergeburtsmagie» der Altsteinzeit postuliert hat. Sprache, Kunst, Religion oder Musik bildeten wohl einen engen Zusammenhang, der sich aus den Bildern auf den Höhlenwänden nicht erschliessen lässt. Wie sollen wir die zahlreichen Handabdrücke interpretieren? Als «Signaturen» und «stolze Gesten», die «ich» und «hier» sagen, wie Martin Schaub 1996 mutmasste? Dürfen wir abstrakte Zeichen wie Striche oder Spiralen – mit dem französischen Paläontologen André Leroi-Gourhan – als Geschlechtersymbole deuten? Oder sollen wir Jürgen Kaube folgen, der die Bilder und Handidole als Ausdruck eines «interesselosen Wohlgefallens» an ihrer Schönheit betrachtet? Warum wurden wir sesshaft? Ebenso fesselnd wie die stummen Höhlenbilder oder Knochenflöten sind die Fragen, die sich auf die Anfänge der Religion richten. Hier sind es die Funde und Spuren früher Bestattungen mit Grabbeigaben, die erneut ein reiches Spektrum von Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Wurde der Tod damals schon als Antritt einer «Reise» wahrgenommen, die es nötig machte, die Gestorbenen mit unentbehrlichem Handgepäck auszustatten? Und wie hat man sich das Ziel einer solchen «Reise» vorgestellt? Oder war es der persönliche Besitz eines Toten, der ihm ins Grab mitgegeben wurde? Gab es überhaupt schon Konzepte von Eigentum? Oder wurden solche Konzepte erst im Zuge der Sesshaftwerdung der Menschen, der Anfänge von Ackerbau und Viehzucht, der seit Vere Gordon Childe so genannten «neolithischen Revolution» entwickelt? Und warum sind die Menschen überhaupt sesshaft geworden, wenn doch – wie Kaube betont – der «Verzicht auf Mobilität zunächst sowohl die Menge als auch die Bandbreite der erreichbaren Nahrung reduzierte»? Vermutlich waren es keine einzelnen Faktoren – Klimaveränderungen, Überjagung oder gar die Entdeckung des Prinzips der Gärung und des Rauschs (nach Josef H. Reichholf) –, sondern die zufällige Verdichtung verschiedener Probleme und Lösungsansätze, wie Kaube argumentiert, die den mehrtausendjährigen Übergangsprozess zum agrarischen Zeitalter begünstigten: nach seiner Einschätzung «weniger eine technische und ökonomische als eine symbolische Revolution». Die Erfindung der Schrift Die Konturen dieser «symbolischen Revolution» werden erst greifbarer nach der Erfindung der Schrift, die zunächst nicht der Aufzeichnung des mündlich Gesprochenen diente, sondern der Verwaltung, der Erstellung von Listen und Registern, nicht zuletzt der Zeitrechnung, die vielleicht sogar ein eigenes Kapitel verdient hätte. Denn Kalender und Zeitordnungen ermöglichten ja erst komplexere soziale Organisationsformen, mit Terminen für Aussaat und Ernte, Opferfeste und Steuerabgaben, Gerichtsprozesse und Jubiläen. Die Schrift stand wohl anfänglich dem Zählen – lange vor der Erfindung der Null, die Kaube ausführlich kommentiert – viel näher als dem Erzählen und der Dichtkunst. Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit den Anfängen des Geldes und der Monogamie. Auch hier werden Fragen aufgeworfen und verbreitete Hypothesen in Zweifel gezogen, etwa über die Vermutung, Geld habe den Tauschhandel erleichtert. Und was hat es mit der Monogamie auf sich? Das Schlusskapitel wirkt nicht mehr ganz so inspiriert wie die vorangehenden Überlegungen; und so weckt die knappe Skizze einer Kulturgeschichte des Paares vor allem die Neugier auf ein fehlendes Kapitel, und zwar zu den Anfängen der Verwandtschaft. Aber warum sollte ein so fundiertes Buch der Fragen und Zweifel nicht mit einer Frage enden? Insgesamt eröffnen «Die Anfänge von allem» inspirierende und kurzweilige Lektürechancen. Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem. Rowohlt Berlin, Berlin 2017. 448 S., Fr. 32.90. https://www.nzz.ch/feuilleton/warum-schreibt-der-mensch-und-warum-ist-er-sesshaft-ld.1317778
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Auch heute noch ist der Gedanke weit verbreitet, daß das Menschsein eigentlich erst mit dem Schreiben beginnt. In der Geschichtswissenschaft hält man an der grundsätzlichen Trennung zwischen Vorgeschichte und Geschichte fest, wobei man unter Vorgeschichte die Zeit versteht, als Schrift noch unbekannt war, und Geschichte als das Entwicklungsstadium der Menschheit gilt, in der der schriftlose „Barbar“ kultiviert wird. Alle die Ansichten jedoch, die den zivilisatorischen Fortschritt direkt mit dem Besitz der Schrift und der „Kunst“ des Schreibens verknüpfen, haben einen merkw��rdigen Beigeschmack, sei es nun eine Portion naiver Unbefangenheit oder sogar eine gute Dosis Kulturchauvinismus. Hinter einer einseitigen Hochachtung der Schrift verbirgt sich eine Geringschätzung des gesprochenen Wortes und der in vielen Teilen der Welt lebendigen mündlichen Überlieferung von Literatur (orale Tradition genannt). Außerdem unterschätzen diejenigen, die das sprachgebundene Schreiben verherrlichen, daß es viele sprachunabhängige Technologien gab und gibt, Gedanken mitzuteilen und Informationen zu fixieren.
(Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift, 1990.)
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