#sehnsuchtsorte2020 Butjadingen Nordsee Reetdachhaus
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Sehnsuchtsorte? Gibt es die heute überhaupt noch? Sofern man nicht gänzlich utopische und fern jeder Realität liegende Wunschträume in diese Rubrik einordnet, sind sie mit einem Monatsgehalt und einem Jahresurlaub fast alle erreichbar. Die Reiseindustrie leistet mit eindrucks- und stimmungsvollen Bildchen und Supersonderangeboten dabei erfolgreich Hilfestellung, sich manchen Traum zu erfüllen. Aber offeriert sie nicht einfach nur eine Vielzahl von Urlaubszielen anstatt der schmerzvoll vermissten Sehnsuchtsorte? Bietet sie nicht vom Geldbeutel, von Statussymbolen und diversen Geschmacksvarianten abhängige Ziele an, aber keine Sehnsuchtsorte? Sehnsucht, so schreibt Wikipedia nämlich, kann Personen, Sachen, Zustände oder Zeitspannen zum Ziel haben. Immer ist sie aber mit dem Gefühl verbunden, den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können. Und, so sollte man ergänzend hinzufügen, der Gegenstand der Sehnsucht ist unweigerlich mit schon Bekanntem verbunden. Denn wer hat Sehnsucht nach etwas, was er nicht kennt oder zu kennen glaubt?
Die Nordsee-Halbinsel Butjadingen, zwischen Jadebusen und Weser gelegen, weckt in diesen Zeiten bei meiner Familie und mir Erinnerungen und Sehnsucht zugleich nach Meer, nach Wellengeplätscher und sanftem Seewind mit Salzgeruch. Nach Radwegen, wahlweise vor und hinter dem Deich, nach dem weiten Blick auf die bei herrlichem Sonnenschein blaue, unendliche Nordsee.
Ein ziemlich stressiges Halbjahr in Büro und Schule lag hinter uns. Unsere Suche nach einem ruhigen Plätzchen an der Nordsee abseits des trubeligen Touristenrummels auf den Inseln hatte uns diesen Ort finden lassen. Die Vorstellung im Internet versprach nicht nur vollmundig kleine idyllische Orte hinter dem Deich, nein, die Beschreibung entsprach der Realität. Straßendörfer mit sieben bis acht mit Reet gedeckten Häusern, mit Vieh auf der Weide, suchten hinter dem Deich vorsorglich Schutz vor kommenden winterlichen Stürmen und Fluten. Jetzt aber im Sommer standen sie verträumt dösend in der Sonne an der Straße und sahen in ihrem traditionellen roten Backsteinbau ganz selbstzufrieden und entspannt aus. Wenn dann ab und an verschwitzte Radfahrer wie wir vorbeifuhren, konnte auch das sie wahrscheinlich nicht aus ihrer stoischen Ruhe bringen.
Genau das hatte uns gefehlt, um wieder von der linken Überholspur auf die rechte Straßenseite einfädeln zu können. Eine an sich schon ruhige Landschaft, die, wären die kleinen Straßen nicht so kurvig gewesen, schon von weitem die nächsten Dörfer vorgestellt hätte. Schattige und kaum befahrene Wege hinter dem grünen Deich führten uns zu einem Melkhuus, in dem die Bauern der Gegend kühle Milchprodukte anboten und vertrauensvoll eine kleine Kasse dazu stellten. So gestärkt war es leicht, die Deichkrone zu erklimmen, um von dort mehr als einen Blick auf die leise heranrollenden Wellen der Nordsee zu werfen. Die dort weidenden Schafe blickten bloß verständnislos auf jeden, der zuerst begeistert und dann verträumt auf die Nordsee blickte und sich dabei erhoffte, wenigstens ein bisschen von dieser selbstzufriedenen Gewissheit bewahren zu können.
Die Corona-Epidemie verlangt uns viel ab und bringt vordergründig Ruhe in das vorher oft trubeligen Leben von vielen. Dabei wechselt aber nur der Schauplatz, denn, salopp formuliert, der Trubel wird vom Äußeren ins Innere verlegt. Ist es daher verwunderlich, sich Bilder ins Gedächtnis zu rufen, die zumindest die Möglichkeit bieten, zur inneren Ruhe zu kommen?
Text und Fotos: Gerhard Keller
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