#antizipatorische trauer
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inkognito-philosophin · 10 months ago
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Leben mit Depressiven – Depression als Familien-Krankheit
Wenn die Diagnose Depression fĂ€llt, hat sich innerhalb der Familie lĂ€ngst eine Leidensgeschichte entwickelt, die ĂŒber viele Monate oder Jahre zurĂŒckreicht.
Unsicherheit, Überforderung und fehlende Anerkennung prĂ€gen seit geraumer Zeit das Leben der Angehörigen von depressiven Menschen.
Außerdem erschweren die vielfĂ€ltigen Symptome und Auswirkungen einer Depression nicht nur den Alltag der Erkrankten, vielmehr erschĂŒttern sie auch das Leben jedes einzelnen Familienmitglieds in den Grundfesten.
Depressionen besetzen den physischen, emotionalen & kognitiven Raum
Depressionen nehmen immer mehr Raum ein, nach und nach beeintrĂ€chtigen sie sĂ€mtliche Lebensbereiche. Zum Beispiel Ă€ndert sich die emotionale Stimmung im Haus schleichend. Wo einst Lachen und Leichtigkeit waren, macht sich nun eine bedrĂŒckende Stimmung breit. Nicht selten unterbrochen von einer spannungsgeladenen AtmosphĂ€re. 
Angehörige, die mit depressiv Erkrankten zusammenleben, finden sich hĂ€ufig in einer Doppelrolle wieder. Sie sind gefordert, den Alltag allein zu managen, wĂ€hrend sie gleichzeitig fĂŒr den depressiven Menschen da zu sein sollen. Der Spagat zwischen Arbeit, Haushaltspflichten und FĂŒrsorge lĂ€sst kaum Raum fĂŒr persönliche Auszeiten oder Entspannung. Auch soziale Kontakte werden seltener, Verabredungen oft abgesagt. Die Welt der gesamten Familie schrumpft.
Vgl. Depression beim Partner – extreme Auswirkungen auf Beziehungen
Angehörige befinden sich in einer Krise
Als Angehörige:r sorgst du dich um das Wohl des Partners, die Familiendynamik und die eigene Belastungsgrenze. Du fragst dich, wie lange du das alles noch tragen kannst und was die Zukunft bringt.
Auch dein Körper bleibt von den vielfachen Belastungen nicht unberĂŒhrt: Schlafmangel, Stresssymptome und psychosomatische Beschwerden sind hĂ€ufige Folgen fĂŒr Angehörige und Partner von depressiven Menschen.
Das Leben vor der Diagnose
Unberechenbarkeit & Selbstzweifel
Viele Familien mit depressiven Angehörigen erzĂ€hlen von einer Zeit vor und einer nach der offiziellen Diagnose. Depressionen entwickeln sich oft schleichend. Entsprechend löst das verĂ€nderte Verhalten des Betroffenen zu Anfang bei Angehörigen viele Zweifel und Ängste aus.
Beispielsweise, wenn dein Partner oder deine LebensgefĂ€hrtin immer weniger spricht, sich zurĂŒckzieht, gereizt und unberechenbar reagiert. Viele glauben dann, der andere hĂ€tte das Interesse an einem verloren. Auch die Kommunikation leidet und ruft weitere Probleme hervor. Wird die Depression nicht erkannt, trennen sich viele Paare sogar. Vgl. Depressiven Partner in Ruhe lassen?
Außerdem ist da noch die unberechenbare Natur der Depressionen. Sie verlaufen in Phasen. So kommt es auf Dauer immer mal wieder zu punktuellen Verbesserungen. Sind die Betroffenen kurzzeitig wieder sie selbst, fragst du dich als Angehörige:r, ob es vielleicht doch nicht so schlimm ist, wie du dachtest und jetzt alles wieder gut wird.
Also versuchst du cool zu bleiben und schöpfst Hoffnung. Bis dann doch die nĂ€chste Phase ausbricht und du fĂŒrchten musst, an der Überlastung zu zerbrechen.
Wenn Depressive endlich einen Arzt aufsuchen, dann geschieht das meist auf DrÀngen der Familie und Partner hin. 
Das Leben nach der Diagnose 
Herausforderungen ĂŒber Herausforderungen
Als Familienmitglied sorgst du dich um die kranke Person. Und setzt deine ganze Hoffnung in die medizinische bzw. psychotherapeutische Behandlung. Gleichzeitig wirst bist du immer wieder mit der schweren Stimmung, AggressivitÀt und PassivitÀt der Betroffenen konfrontiert.
Die bedrĂŒckende AtmosphĂ€re und die Leiden der Krankheit wirken sich unmittelbar auf das Wohlbefinden aller Angehörigen aus. Nicht, weil sie so sehr mitleiden, sondern weil sie der verĂ€nderten AtmosphĂ€re zuhause nicht entkommen könne, sie wohnen ja schließlich dort.
Zum Beispiel, wenn der depressive Mensch derart agitiert ist, dass er nachts in der Wohnung herumtrippelt, seinen Kopf gegen die Wand hĂ€mmert oder von nĂ€chtlichen Panikattacken gequĂ€lt wird – dann ist logischerweise auch der Schlaf der anderen gestört. ZusĂ€tzlich verstĂ€rken die eigenen Sorgen und Ängste die Schlafprobleme bei Angehörigen. Schwer wiegt zudem der wachsende RĂŒckzug Betroffener.
Gerade die typischen Depressionssymptome – Anhedonie (Freudlosigkeit), stĂ€ndiges GrĂŒbeln, schnelle Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit – empfinden viele Angehörige als Belastung. Und sie sind auch eine psychisch-emotionale Belastung von besonderem Ausmaß. 
Schrecklich mitanzusehen sind die körperlichen Probleme, die mit einer Depression einhergehen. Wenn Betroffene stĂ€ndig Schmerzen haben, sich schwindlig fĂŒhlen, vor Erschöpfung kaum zu einer Bewegung imstande sind, wĂ€chst deine Angst um den Zustand des Erkrankten ins Unermessliche.
Vgl. auch Larvierte Depression (versteckte Depression) sowie Depression: körperliche Symptome in der Philosophie (Korporifizierung)
SchuldgefĂŒhle und Trauer
Laut Stöckel (3) gaben in einer Studie rund 50 % der befragten Angehörigen an, aufgrund der Depression ihres Partners, Kindes, Elternteils oder Geschwisters GefĂŒhle von Verlust, Schuld und Trauer zu empfinden. Viele verspĂŒren hauptsĂ€chlich SchuldgefĂŒhle, weil sie sich stĂ€ndig fragen, ob sie eine Mitschuld an der Depression tragen oder wie sie besser damit umgehen sollen.
„Sowohl die Kinder, aber auch die Eltern der Erkrankten können SchuldgefĂŒhle erleben, die fĂŒr den depressiv Erkrankten eine zusĂ€tzliche Belastung darstellen können. Das depressive Familienmitglied bekommt die Botschaft, alle anderen von Schuld freisprechen zu mĂŒssen. Dazu fehlt aber krankheitsbedingt die Kraft.” (3)
Trennungsgedanken & Frust sind normal
Gedanken an eine Trennung zÀhlen zu den meistgenannten emotionalen Reaktionen unter Menschen von Partnern mit Depressionen.
Sie wurzeln in Kommunikationsproblemen und Schwierigkeiten innerhalb der Partnerschaft, die sich durch die Krankheit ergeben.
ZusĂ€tzlich fĂŒhlen sich viele „gesunde“ Partner so ĂŒberfordert, dass sie am liebsten aus der belastenden Situation fliehen wĂŒrden. Trennungsfantasien sind da nur eine natĂŒrliche Folge, weil sie sich verzweifelt nach einem Ausweg sehnen. Gleichzeitig rufen diese GrĂŒbeleien SchuldgefĂŒhle und Wut gegenĂŒber dem Erkrankten hervor.
Ca. 40 % der Angehörigen erkranken
Die Angehörigenforschung weiß, dass die Leiden und Belastungen fĂŒr Familien, die mit depressiven Menschen zusammenleben, extrem sind. Noch viel extremer als bei Angehörigen von AlkoholabhĂ€ngigen. Wer diese enorme Last meistert, ohne selbst körperliche oder seelische Beschwerden auszubilden, hat meist ein stabiles, soziales Umfeld, das tatkrĂ€ftig UnterstĂŒtzung bietet. 
Doch in 40 % der FÀlle entwickeln Angehörige depressiv Erkrankte ebenfalls Schlafstörungen, starke Unruhe, depressive Symptome und andere gesundheitliche Probleme.
Kein Wunder, wenn man sich klarmacht, was Familienmitglieder allein auf emotionaler Ebene ertragen mĂŒssen: Vereinsamung, Allein-Verantwortung, Zukunftssorgen, Frustration, EnttĂ€uschung, Ärger und SchuldgefĂŒhle, Hilfslosigkeit, Nicht-gesehen-werden – das sind aber nur die subjektiven Belastungsfaktoren. 
Objektive Belastungsfaktoren beim Leben mit depressiven Menschen
Finanzielle Schwierigkeiten:
ArbeitsunfÀhigkeit des erkrankten Partners
teilweise oder vollstĂ€ndige Aufgabe der eigenen ErwerbstĂ€tigkeit zur Pflege und UnterstĂŒtzung
Mehrfachbelastung:
Allein-Verantwortung fĂŒr HaushaltsfĂŒhrung, AktivitĂ€ten und Kinderbetreuung
Gleichzeitiges Management von Beruf und Pflegeaufgaben
Übernahme zusĂ€tzlicher Pflichten und Aufgaben (Mental Load)
EingeschrÀnkte Freizeitgestaltung:
Nicht umsetzbare FreizeitplÀne aufgrund der Erkrankung des Partners
keine Urlaube oder Reisen
Reduzierung sozialer AktivitÀten
Verlust von sozialen Kontakten:
Freunde und Verwandte ziehen sich aufgrund der Krankheitssituation zurĂŒck
Abnahme sozialer UnterstĂŒtzung und Netzwerke
fehlender emotionaler RĂŒckhalt
4 Phasen der Verarbeitung fĂŒr Familien mit depressiven Menschen
Nach Bischkopf (2) durchlaufen Angehörige von depressiven Menschen im besten Fall 4 typische Phasen, nachdem die Depression diagnostiziert wurde:
1) Informationssammlung und Hoffnung
Anfangs suchen Angehörige nach Informationen, um die Krankheit zu verstehen. Der Beginn der Behandlung gilt als Hoffnungsschimmer, um sich auf die verÀnderte Lebenssituation einzustellen. Diese Phase ist geprÀgt von Optimismus und der Zuversicht, dass sich die Dinge zum Positiven wenden werden.
2) Anpassung und Realisierung
Die Erwartungen der Angehörigen sind oft zu hoch. Sie erkennen sowohl ihre eigenen Grenzen als auch die BeschrĂ€nkungen, die die Behandlung der Depression mit sich bringt. Diese Phase kann mit GefĂŒhlen der Trauer und des Verlusts einhergehen, wenn die Angehörigen realisieren, dass nicht alles so wird, wie sie es sich gewĂŒnscht haben.
3) Verantwortung und Abgrenzung
In dieser Phase begreifen die Angehörigen, wie wichtig es ist, die eigenen Hilfsmöglichkeiten und Grenzen anzuerkennen. Es kann zu einer emotionalen Achterbahnfahrt kommen, da die Verantwortungsbereiche zwischen Patient und Angehörigen oft erst ausgelotet und abgesteckt werden mĂŒssen.
4) Neuausrichtung und Bilanzierung
In der letzten Phase reflektieren die Angehörigen die EinflĂŒsse der Krankheit auf ihr eigenes Leben. Sie analysieren die VerĂ€nderungen, die durch die Krankheit hervorgerufen wurden, und beginnen, ihren Alltag und ihre Zukunft neu zu ordnen. Zum Beispiel, indem sie sich neuen AktivitĂ€ten zuwenden oder Ziele anpassen, um wieder mehr LebensqualitĂ€t zu gewinnen.
Fazit: Leben mit depressiven Menschen
Leider werden die Strapazen von betroffenen Familien oder Ehepartnern noch heute von Psychiatrie und Psychotherapie ĂŒbersehen oder sogar als „ÜberfĂŒrsorge“, Co-AbhĂ€ngigkeit etc. abgetan (vgl. Co-Depression). Vgl. Depressionen: Angehörige – Das unsichtbare Leid der Familie.
Das Zusammenleben mit depressiven Menschen ist sehr belastend. Ich will noch einmal betonen: Die Ressourcen vieler Angehöriger und Partner sind zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits erschöpft.
Das sollte von Anfang an in der Behandlung bedacht werden.
Quellen:
1) Bischkopf, Jeanette: So nah und doch so fern. Mit depressiv erkrankten Menschen leben. Köln 2015. 2) Dies.: Das Leid der Angehörigen. Wie Depression die Familie krank machen kann (Archiv Freie UniversitĂ€t Berlin), 2008 3) Stöckel, Britta: Das Leben mit der Depression – Konzepte der Beratung fĂŒr Familien, 2019 4) Lea Melikjan & Marianny Triviño: Wenn ich auf einmal alleine in der Partnerschaft bin 
 Beratung von Partnerinnen und Partner depressiver Menschen in der Sozialen Arbeit.
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