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Leben mit Depressiven – Depression als Familien-Krankheit
Wenn die Diagnose Depression fällt, hat sich innerhalb der Familie längst eine Leidensgeschichte entwickelt, die über viele Monate oder Jahre zurückreicht.
Unsicherheit, Überforderung und fehlende Anerkennung prägen seit geraumer Zeit das Leben der Angehörigen von depressiven Menschen.
Außerdem erschweren die vielfältigen Symptome und Auswirkungen einer Depression nicht nur den Alltag der Erkrankten, vielmehr erschüttern sie auch das Leben jedes einzelnen Familienmitglieds in den Grundfesten.
Depressionen besetzen den physischen, emotionalen & kognitiven Raum
Depressionen nehmen immer mehr Raum ein, nach und nach beeinträchtigen sie sämtliche Lebensbereiche. Zum Beispiel ändert sich die emotionale Stimmung im Haus schleichend. Wo einst Lachen und Leichtigkeit waren, macht sich nun eine bedrückende Stimmung breit. Nicht selten unterbrochen von einer spannungsgeladenen Atmosphäre.
Angehörige, die mit depressiv Erkrankten zusammenleben, finden sich häufig in einer Doppelrolle wieder. Sie sind gefordert, den Alltag allein zu managen, während sie gleichzeitig für den depressiven Menschen da zu sein sollen. Der Spagat zwischen Arbeit, Haushaltspflichten und Fürsorge lässt kaum Raum für persönliche Auszeiten oder Entspannung. Auch soziale Kontakte werden seltener, Verabredungen oft abgesagt. Die Welt der gesamten Familie schrumpft.
Vgl. Depression beim Partner – extreme Auswirkungen auf Beziehungen
Angehörige befinden sich in einer Krise
Als Angehörige:r sorgst du dich um das Wohl des Partners, die Familiendynamik und die eigene Belastungsgrenze. Du fragst dich, wie lange du das alles noch tragen kannst und was die Zukunft bringt.
Auch dein Körper bleibt von den vielfachen Belastungen nicht unberührt: Schlafmangel, Stresssymptome und psychosomatische Beschwerden sind häufige Folgen für Angehörige und Partner von depressiven Menschen.
Das Leben vor der Diagnose
Unberechenbarkeit & Selbstzweifel
Viele Familien mit depressiven Angehörigen erzählen von einer Zeit vor und einer nach der offiziellen Diagnose. Depressionen entwickeln sich oft schleichend. Entsprechend löst das veränderte Verhalten des Betroffenen zu Anfang bei Angehörigen viele Zweifel und Ängste aus.
Beispielsweise, wenn dein Partner oder deine Lebensgefährtin immer weniger spricht, sich zurückzieht, gereizt und unberechenbar reagiert. Viele glauben dann, der andere hätte das Interesse an einem verloren. Auch die Kommunikation leidet und ruft weitere Probleme hervor. Wird die Depression nicht erkannt, trennen sich viele Paare sogar. Vgl. Depressiven Partner in Ruhe lassen?
Außerdem ist da noch die unberechenbare Natur der Depressionen. Sie verlaufen in Phasen. So kommt es auf Dauer immer mal wieder zu punktuellen Verbesserungen. Sind die Betroffenen kurzzeitig wieder sie selbst, fragst du dich als Angehörige:r, ob es vielleicht doch nicht so schlimm ist, wie du dachtest und jetzt alles wieder gut wird.
Also versuchst du cool zu bleiben und schöpfst Hoffnung. Bis dann doch die nächste Phase ausbricht und du fürchten musst, an der Überlastung zu zerbrechen.
Wenn Depressive endlich einen Arzt aufsuchen, dann geschieht das meist auf Drängen der Familie und Partner hin.
Das Leben nach der Diagnose
Herausforderungen über Herausforderungen
Als Familienmitglied sorgst du dich um die kranke Person. Und setzt deine ganze Hoffnung in die medizinische bzw. psychotherapeutische Behandlung. Gleichzeitig wirst bist du immer wieder mit der schweren Stimmung, Aggressivität und Passivität der Betroffenen konfrontiert.
Die bedrückende Atmosphäre und die Leiden der Krankheit wirken sich unmittelbar auf das Wohlbefinden aller Angehörigen aus. Nicht, weil sie so sehr mitleiden, sondern weil sie der veränderten Atmosphäre zuhause nicht entkommen könne, sie wohnen ja schließlich dort.
Zum Beispiel, wenn der depressive Mensch derart agitiert ist, dass er nachts in der Wohnung herumtrippelt, seinen Kopf gegen die Wand hämmert oder von nächtlichen Panikattacken gequält wird – dann ist logischerweise auch der Schlaf der anderen gestört. Zusätzlich verstärken die eigenen Sorgen und Ängste die Schlafprobleme bei Angehörigen. Schwer wiegt zudem der wachsende Rückzug Betroffener.
Gerade die typischen Depressionssymptome – Anhedonie (Freudlosigkeit), ständiges Grübeln, schnelle Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit – empfinden viele Angehörige als Belastung. Und sie sind auch eine psychisch-emotionale Belastung von besonderem Ausmaß.
Schrecklich mitanzusehen sind die körperlichen Probleme, die mit einer Depression einhergehen. Wenn Betroffene ständig Schmerzen haben, sich schwindlig fühlen, vor Erschöpfung kaum zu einer Bewegung imstande sind, wächst deine Angst um den Zustand des Erkrankten ins Unermessliche.
Vgl. auch Larvierte Depression (versteckte Depression) sowie Depression: körperliche Symptome in der Philosophie (Korporifizierung)
Schuldgefühle und Trauer
Laut Stöckel (3) gaben in einer Studie rund 50 % der befragten Angehörigen an, aufgrund der Depression ihres Partners, Kindes, Elternteils oder Geschwisters Gefühle von Verlust, Schuld und Trauer zu empfinden. Viele verspüren hauptsächlich Schuldgefühle, weil sie sich ständig fragen, ob sie eine Mitschuld an der Depression tragen oder wie sie besser damit umgehen sollen.
„Sowohl die Kinder, aber auch die Eltern der Erkrankten können Schuldgefühle erleben, die für den depressiv Erkrankten eine zusätzliche Belastung darstellen können. Das depressive Familienmitglied bekommt die Botschaft, alle anderen von Schuld freisprechen zu müssen. Dazu fehlt aber krankheitsbedingt die Kraft.” (3)
Trennungsgedanken & Frust sind normal
Gedanken an eine Trennung zählen zu den meistgenannten emotionalen Reaktionen unter Menschen von Partnern mit Depressionen.
Sie wurzeln in Kommunikationsproblemen und Schwierigkeiten innerhalb der Partnerschaft, die sich durch die Krankheit ergeben.
Zusätzlich fühlen sich viele „gesunde“ Partner so überfordert, dass sie am liebsten aus der belastenden Situation fliehen würden. Trennungsfantasien sind da nur eine natürliche Folge, weil sie sich verzweifelt nach einem Ausweg sehnen. Gleichzeitig rufen diese Grübeleien Schuldgefühle und Wut gegenüber dem Erkrankten hervor.
Ca. 40 % der Angehörigen erkranken
Die Angehörigenforschung weiß, dass die Leiden und Belastungen für Familien, die mit depressiven Menschen zusammenleben, extrem sind. Noch viel extremer als bei Angehörigen von Alkoholabhängigen. Wer diese enorme Last meistert, ohne selbst körperliche oder seelische Beschwerden auszubilden, hat meist ein stabiles, soziales Umfeld, das tatkräftig Unterstützung bietet.
Doch in 40 % der Fälle entwickeln Angehörige depressiv Erkrankte ebenfalls Schlafstörungen, starke Unruhe, depressive Symptome und andere gesundheitliche Probleme.
Kein Wunder, wenn man sich klarmacht, was Familienmitglieder allein auf emotionaler Ebene ertragen müssen: Vereinsamung, Allein-Verantwortung, Zukunftssorgen, Frustration, Enttäuschung, Ärger und Schuldgefühle, Hilfslosigkeit, Nicht-gesehen-werden – das sind aber nur die subjektiven Belastungsfaktoren.
Objektive Belastungsfaktoren beim Leben mit depressiven Menschen
Finanzielle Schwierigkeiten:
Arbeitsunfähigkeit des erkrankten Partners
teilweise oder vollständige Aufgabe der eigenen Erwerbstätigkeit zur Pflege und Unterstützung
Mehrfachbelastung:
Allein-Verantwortung für Haushaltsführung, Aktivitäten und Kinderbetreuung
Gleichzeitiges Management von Beruf und Pflegeaufgaben
Übernahme zusätzlicher Pflichten und Aufgaben (Mental Load)
Eingeschränkte Freizeitgestaltung:
Nicht umsetzbare Freizeitpläne aufgrund der Erkrankung des Partners
keine Urlaube oder Reisen
Reduzierung sozialer Aktivitäten
Verlust von sozialen Kontakten:
Freunde und Verwandte ziehen sich aufgrund der Krankheitssituation zurück
Abnahme sozialer Unterstützung und Netzwerke
fehlender emotionaler Rückhalt
4 Phasen der Verarbeitung für Familien mit depressiven Menschen
Nach Bischkopf (2) durchlaufen Angehörige von depressiven Menschen im besten Fall 4 typische Phasen, nachdem die Depression diagnostiziert wurde:
1) Informationssammlung und Hoffnung
Anfangs suchen Angehörige nach Informationen, um die Krankheit zu verstehen. Der Beginn der Behandlung gilt als Hoffnungsschimmer, um sich auf die veränderte Lebenssituation einzustellen. Diese Phase ist geprägt von Optimismus und der Zuversicht, dass sich die Dinge zum Positiven wenden werden.
2) Anpassung und Realisierung
Die Erwartungen der Angehörigen sind oft zu hoch. Sie erkennen sowohl ihre eigenen Grenzen als auch die Beschränkungen, die die Behandlung der Depression mit sich bringt. Diese Phase kann mit Gefühlen der Trauer und des Verlusts einhergehen, wenn die Angehörigen realisieren, dass nicht alles so wird, wie sie es sich gewünscht haben.
3) Verantwortung und Abgrenzung
In dieser Phase begreifen die Angehörigen, wie wichtig es ist, die eigenen Hilfsmöglichkeiten und Grenzen anzuerkennen. Es kann zu einer emotionalen Achterbahnfahrt kommen, da die Verantwortungsbereiche zwischen Patient und Angehörigen oft erst ausgelotet und abgesteckt werden müssen.
4) Neuausrichtung und Bilanzierung
In der letzten Phase reflektieren die Angehörigen die Einflüsse der Krankheit auf ihr eigenes Leben. Sie analysieren die Veränderungen, die durch die Krankheit hervorgerufen wurden, und beginnen, ihren Alltag und ihre Zukunft neu zu ordnen. Zum Beispiel, indem sie sich neuen Aktivitäten zuwenden oder Ziele anpassen, um wieder mehr Lebensqualität zu gewinnen.
Fazit: Leben mit depressiven Menschen
Leider werden die Strapazen von betroffenen Familien oder Ehepartnern noch heute von Psychiatrie und Psychotherapie übersehen oder sogar als „Überfürsorge“, Co-Abhängigkeit etc. abgetan (vgl. Co-Depression). Vgl. Depressionen: Angehörige – Das unsichtbare Leid der Familie.
Das Zusammenleben mit depressiven Menschen ist sehr belastend. Ich will noch einmal betonen: Die Ressourcen vieler Angehöriger und Partner sind zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits erschöpft.
Das sollte von Anfang an in der Behandlung bedacht werden.
Quellen:
1) Bischkopf, Jeanette: So nah und doch so fern. Mit depressiv erkrankten Menschen leben. Köln 2015. 2) Dies.: Das Leid der Angehörigen. Wie Depression die Familie krank machen kann (Archiv Freie Universität Berlin), 2008 3) Stöckel, Britta: Das Leben mit der Depression – Konzepte der Beratung für Familien, 2019 4) Lea Melikjan & Marianny Triviño: Wenn ich auf einmal alleine in der Partnerschaft bin … Beratung von Partnerinnen und Partner depressiver Menschen in der Sozialen Arbeit.
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