#Halbwelten
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Lili – und wie sie die Welt sieht
«Chönd Sie mir säge, wie spot s‘isch?» Es dauert einen Augenblick, bis die Worte ganz zu mir durchdringen. Und bis ich verstanden habe, dass sie an mich gerichtet sind. «Zwanzgvoreis», rufe ich. «Danke!», ruft sie und fügt an, dass der Hund ein ganz schöner sei. «Schöni Söckli» hat er nämlich an und ist auch sonst ein ganz Hübscher. Und ein Braver. Ist er, beides, pflichte ich ihr bei – und würde seine Nase lieber weiter ins Gebüsch stecken, als auf dem Kiesweg zu warten, denke ich mir. Und trotzdem, ich bleibe stehen, während sie von ihrem letzten Hund erzählt, «eine kleine, schwarze Kugel, wissen Sie. 18 Jahre ist er alt geworden und dabei so fit gewesen wie am ersten Tag.» Wunderbar, finde ich das, aber wir müssen trotzdem los. Die Wolken werden dicker und ausserdem wollen Texte geschrieben werden. Die Bemerkung, wir wollten vor dem Regen zu Hause sein, wischt sie mit einer Handbewegung weg. «Zu viel Struktur», sagt sie mit Blick auf die Wolken und Kennermiene. Der Regen komme erst gegen Abend, sagt sie und erzählt, dass sie gleich ins Kino geht. Ich solle das auch mal wieder machen, der Bär in mir sei sehr gut, zwei Mal habe sie ihn schon gesehen. «Ein Schweizer Film. Der Filmer legt sich einfach zu den Grizzlys ins Gras. Und die Bären sind ja gross und müssen ein halbes Jahr hungern. So lange bis die Fische kommen. Und in dieser Zeit essen sie nur Gras. Und wer kein Gras mag, der hungert halt ein halbes Jahr.» Ich nicke, verzichte auf Besserwisserei, blicke stattdessen auf das Kinoprogramm, «isch halt eis us Züri», und frage mich dabei ernsthaft, wann ich zuletzt im Kino war. Sie sei 80, also 79, «aber wenn man 79 Jahre alt ist, dann ist man im achtzigsten Lebensjahr», und gehe regelmässig ins Kino. Das lohne sich. Sie sagt «uf wiederluege», dankt für die Offenheit, hält dann einen Augenblick erschrocken inne. Ihre Haut ist seltsam wächsern, seltsam grau, die Augen aber sind wach und klar. «Knapp neben der Schleimhaut. Dann gehts. Aber wissen Sie, ich war mein Leben lang Krankenschwester. Da sieht man so einiges. Und in den Schleimhäuten … Nein, das ist nicht gut. Ich habe einen jungen Mann begleitet, wissen Sie, der hatte so ein Ding in den Schleimhäuten. Karzinom. Das ist wirklich sehr schlimm. Er ist gestorben. Das wäre doch schade um Sie.» Das finde ich auch, stimme ich ihr zu und bedanke mich. «Lili», sagt sie und lächelt. «Janine», sage ich und strecke ihr die Hand entgegen, sie weicht zurück. «Oh nein, ich war viel zu lange auf der Intensivstation, resischtenti Chäfer, wüssed Sie.» Wir verabschieden uns, «rüefeds mi, wenn i Sie mol nöd sött gseh!» Werde ich natürlich, auch wenn man sie hier nicht oft sehe, da sie eigentlich in S. zu Hause ist und nicht oft herkäme. Sie sieht mich noch einmal an, lächelt und sagt: «Nöd i de Schliimhüt! Jetzt wissen Sie es auch. Und können es weitersagen. Nöd i de Schliimhüt!» Wir winken uns noch einmal zu, die ersten Regentropfen fallen.
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Der «train à grande vitesse» und die Entschleunigung
«Mein‘ Damen un‘ ‘erren. Bitte, zu Ihrer eigenen Sischer‘eit, achten Sie darauf, dass Ihre Bagasch nicht unbeaufsichtigt bleibt. Melden Sie Bordpersonal jedes verdächtnise Stück.»
Im TGV stellt sich immer ein bisschen Ferienstimmung ein, auch wenn es nur eine Minigeschäftsreise ist. Die noch nicht mal über die Grenze führt. Und trotzdem: Im französischen Wagen herrscht eine andere Atmosphäre als in jenen der SBB. Die Durchsagen klingen anders, nicht nur wegen des charmanten Accents, nein, die Anweisungen sind anders, deutlicher, direkter; das Gepäck beispielsweise sei an den dafür vorgesehenen Orten, am besten in den Zwischenabteilen, zu deponieren. Und die Böden, Sessel und Wände im Waggon sind so dick gepolstert, dass selbst die Rollkoffer kaum zu hören sind. Oder liegt das an den deutlichen Ansagen?
«Isch do no frei?»
Ja, ist es. Ja, auch der Platz neben mir in Fahrtrichtung ist frei. Sie muss nicht vorwärts fahren, macht das aber lieber, weil man dann mehr sieht. Mach ich auch immer so, denke ich und nicke. Was ich lese, fragt sie, und ob es stört, wenn sie mit mir spricht. Ihre Eleganz, ihre Eloquenz und Ihre Ostschweizer Aussprache sind so entwaffnend, dass ich mich beinah an der bissigen Bemerkung verschlucke, die mir auf der Zunge lag. «Nein», sage ich, «‹Zum Glück›, eine Broschüre mit Geschichten aus der Edition Unik.» Ich erzähle ihr vom Biographieprojekt und davon, dass ich zum Treffen mit den aktiven Schreibenden unterwegs bin. Sie ist interessiert, ihr gefällt der Ansatz, dass jede Biographie – im Wortsinn – bemerkenswert ist. Und fängt an zu erzählen. Seit über dreissig Jahren lebt sie schon hinter Zürich, unverheiratet ist sie, aber das ist gut so, «die Wohnung wär‘ sowieso zu klein. Und da choge Wöhnigli gibi nöd uf!» Sie ist nah an der Stadt, noch näher am See, den sie vom kleinen, schmucken Balkon aus sieht. Und sie erzählt von der Keramik. Sie fertigt selbst Gegenstände, «nur Gebrauchsgegenstände», die zwar auch hübsch sein dürfen, aber die immer für etwas gebraucht werden können, «nöd nu fös Umestoh.»
Sie lächelt die ganze Zeit und strahlt eine Zufriedenheit aus, um die ich sie beneide. Das Töpfern helfe ihr seit Jahrzehnten, ausgeglichen zu bleiben. «Ich war zeitlebens Lehrerin, Primarlehrerin. Ich habs geliebt!» Manchmal seien die Kinder anstrengend gewesen, «ja, aber Kinder sind nun mal so und das ist gut so!» In ihren Augen blitzt der Schalk und ich kann mir gut vorstellen, dass sie manchen Seich verziehen hat, für den man sich dieser Tage wohl mindestens ein klärendes Gespräch mit Lehrerschaft und Eltern eingehandelt hätte. «Heute werden die Tiffigen mit Ritalin ruhig gestellt. Dabei könnte das Töpfern helfen.» Sie erzählt von den Flatterhaften, die im Klassenzimmer keine Minute still sitzen konnten, mit einem Klumpen Ton aber hätten sie sich stundenlang beschäftigen können. Und am Ende sei dabei immer etwas Wundervolles entstanden. Einlassen müsse man sich eben, nicht nur auf die Kinder, auf Menschen überhaupt. Das hat sie übrigens von ihrem Keramiklehrer gelernt, den sie ebenfalls seit Jahrzehnten immer wieder in seinem Atelier aufsucht. Manchmal zur Teilnahme in Gruppenkursen, manchmal für Einzelseminare. Sie spricht vom Kursbesuch wie von einer Begegnung mit dem spirituellen Meister. Und vielleicht ist es das auch, denke ich mir. Von ihr geht etwas so Beruhigendes aus, dass ich mich ertappt fühle. Es ist noch keine zwei Stunden her, dass ich aus dem Haus gestürmt bin, weil ich mal wieder zu knapp dran war, dies und das wollte schliesslich noch erledigt werden, bevor ich mich auf die Minigeschäftsreise machen konnte. «Sie müssen sich ganz auf die Masse und den Prozess einlassen, wenn sie das nicht tun, dann funktioniert es nicht. Wenn Sie hetzen, hat die Vase einen Sprung, noch bevor sie gebrannt wurde», erzählt sie weiter. «Das kenn‘ ich!», höre ich mich zu meiner Überraschung sagen, «das ist wie beim Brot: Der Teig geht halt so lange auf, wie er aufgeht. Und das Brot wird so lange gebacken, bis es hohl klingt.» Sie blinzelt, dann strahlt sie und sagt: «Sie backen Ihr Brot selbst? Das ist gut. Und tut gut!»
Zur kostenlosen Lektüre: «Zum Glück - Lebensgeschichten aus der Edition Unik».
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