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Smileyy's Storyfactory
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Behind Closed Doors
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Chapter One
„Government Office For Youth Welfare Scawsby, unsere Leitungen sind derzeit nicht besetzt. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Hinweiston mit ihrem Namen, ihrer Telefonnummer und dem Grund für ihren Anruf. Wir melden uns so bald wie möglich.“ Es folgte ein lauter Piepton. „Hallo, mein Name ist Harry Styles und ich brauche dringend Hilfe. Mein Vater ist ...“ Die Leitung wurde von einem Knacken durchbrochen. Harry sah sich um. Sein Vater stand hinter ihm. Er hatte die Telefonleitung gekappt. Sein Blick war streng, seine Augen glühten, als könnten sie Laserstrahlen aussenden. Harry spürte beinahe, wie er unter seinem Blick vor Angst verglühte. Der Junge schloss die Augen und ließ das Telefon sinken. Es vergingen Sekunden, die sich anfühlten wie Stunden. „Ich bin was?“, fragte sein Dad ihn. Harry drehte sich der Magen um wie in einer Waschmaschine. „Nichts“, stotterte er. Sein Adoptivvater schlug ihm das Telefon aus der Hand und zerrte ihn am Oberarm mit sich. Harry zitterte wie Espenlaub. Sein Atem kam stoßweise; er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Heute machte sein Vater sich gar nicht erst die Mühe, ihn mit sich nach oben ins Schlafzimmer zu zerren. Stattdessen schleifte er ihn nur bis in den Nebenraum und schubste ihn auf den Boden. Harry landete bäuchlings auf dem Teppich, er konnte sich noch schwach mit seinen Händen abbremsen. „Du weißt, was du falsch gemacht hast?“, fragte er ernst. „Ja.“ Er hörte seine Knie zu beiden Seiten neben ihm auf den Boden aufkommen. „Sag es.“ „Ich habe beim Jugendamt angerufen.“ „Und?“ „Und ich werde es nicht wieder tun.“ Ein Ruck und er lag vom Nabel bis zu den Knien frei da. „Was meinst du, wäre eine Strafe jetzt angebracht?“ „Ja.“ Nein. Noch so eine ruckartige Bewegung. Obwohl Harry es vorhergesehen hatte, erschrak er sich wieder darüber. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Er durfte nicht. Seine Finger schlossen sich krampfhaft um einen Fetzen des Teppichs und er presste sein Gesicht hinein. Es würde für ihn immer das grausamste Gefühl auf der Welt sein. Sein Atem zitterte. Er schloss die Augen und wünschte sich wieder einmal, irgendjemand Anderer zu sein. Egal wer. Nur nicht Harry Styles. Aber egal, an welchen Ort er sich wünschte, er war und blieb dort. Er hatte nicht die Kraft, seine Phantasien real werden zu lassen. Denn wenn es so wäre, dann wäre er längst nicht mehr dort, würde vielleicht gar nicht mehr leben. Es hatte alles erst angefangen, als vor bald fünf Jahren Harrys Adoptivmutter gestorben war. Da hatte Harry aufgehört, Kind zu sein. Deshalb wünschte Harry sie sich in solchen Momenten oft zurück. Seine Kindheit, seine Mutter. Ihr Verlust hatte das verborgene, wahre Ich seines Vaters zum Vorschein kommen lassen. Am Anfang war es nur selten, aber irgendwann immer häufiger. Es war zu seinem kranken Vergnügen und für Harry immer eine Strafe, für die es keinen Grund gab. Und so war es noch. Aber das würde nicht die einzige Strafe für heute bleiben. Wie konnte ich nur so dumm sein?, fragte Harry sich selbst innerlich. Hatte er nichts aus den letzten Jahren gelernt? Es war ihm so richtig und so einfach vorgekommen. Er hatte den Plan schon länger gehabt. Da sein Vater die Telefonleitungen immer abschaltete, wenn er zur Arbeit ging oder Harry alleine ließ, war die einzige Möglichkeit anzurufen, wenn er unter der Dusche stand. Es hatte bloß zu lange gedauert. Er hätte sich mehr beeilen sollen. Sein Vater stand auf und ging nach oben. Harry blieb einfach auf dem Boden liegen. Es machte keinen Unterschied mehr, sein Vater würde ihm jetzt sowieso noch das letzte wegnehmen, was ihm noch geblieben war. Sein Bett. Zu Anfang war es nicht schlimm gewesen, rückblickend. Sein Dad hatte ihm Spielzeug weggenommen. Als nichts mehr übrig geblieben war, sein Handy. Dann hatte er angefangen, ihm sein Leben zur Hölle zu machen. Ganz simpel, indem er sein Zimmer zu einem Ort machte, an dem er sich nicht mehr wohlfühlte. Kein Schreibtisch, kein Schrank, sein Regal war auch weg, sein Nachttisch. Da stand nur noch sein Bett, umrandet von kahlen Wänden und kalter Leere. Seine ganzen Sachen hatte er in einem anderen Zimmer weggeschlossen. Für Harry völlig unzugänglich. Es war, als würde er Harry jedes Mal ein Stück seines Lebens wegnehmen und ihm das unvollkommene Übrige zurücklassen. Was blieb ihm jetzt noch? Leere. Kahle, kalte, leere Leere. Harrys Tränen wurden von dem kratzigen Teppich unter seinem Körper aufgesaugt. „Steh auf und geh in dein Zimmer“, befahl sein Vater ihm harsch. Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Harry hatte schon gehört, wie er die Treppen hinunter gekommen war. Bei jedem Schritt war er zusammen gezuckt, wohl bewusst, dass sein Vater ihn durch das Geländer hindurch sehen konnte. „Und hör auf zu heulen. Du bist doch kein Mädchen“, hängte er noch abfällig hinzu. Seiner Stimme folgte das Knirschen des Rädchens von einem Feuerzeug, das aufflammte. Harry ging in sein Zimmer, schenkte seinem Vater keinen einzigen weiteren Blick. In seinem Zimmer lag noch die Matratze, ein Kissen und die Bettdecke. Harry war erleichtert, andererseits schmerzte ihm bei dem Anblick auch der Magen. Er hatte immer noch etwas zu verlieren, er hatte immer noch etwas, an das sich sein ganzes Herz band. Die Matratze war sein Leben. Harry hatte sonst nichts. Harry hatte niemanden, nur sich selbst. Er schloss die Tür und setzte sich. Die Matratze war das Einzige, was er noch hatte. Umso schlimmer würde es sein, wenn er auch sie noch verlor. Und er wusste, das würde er. Aber dann wäre wenigstens endlich der Tag gekommen, an dem er nichts mehr zu verlieren hatte und sich ohne auch nur einen einzigen verbleibenden Hoffnungsschimmer, ohne ein schlechtes Gewissen, das Leben nehmen konnte. Harry erledigte seine Hausaufgaben langsam und mit Geduld. Seine Hand zitterte, die Blätter wellten sich unter der Nässe seiner Tränen. Es dauerte lange, bis er sich wieder gefasst hatte. Am liebsten hätte er sich unter die Dusche gestellt und das Wasser noch bis zum jüngsten Tag auf sich herab prasseln lassen. Die Schande würde er nicht abwaschen können, seine Menschenwürde käme nicht wieder und sein Körper würde sich nie wieder rein anfühlen. Ihm blieb nur die Illusion, dass es so wäre. In Wirklichkeit konnte Harry sich jedoch ein anderes Leben gar nicht ausmalen. Ein Leben, in dem seine Mutter noch am Leben war und er in einer intakten Familie lebte. Sein Leben wäre wahrscheinlich ganz anders. Er hätte Freunde, mit denen er sich auf dem Fußballplatz zu einem Spiel am Nachmittag verabredete, ein Handy wie alle anderen in seinem Alter, ein Zimmer mit Fußballpostern, grellen Farben an der Wand und Möbeln und einen Kopf mit mehr schönen Erinnerungen als schlechten. Er wäre vielleicht ein glücklicher Junge. Als er mit den Hausaufgaben fertig war, war sein Vater glücklicherweise schon weg. Harry verließ sein Zimmer, das sich schon lange nicht mehr wie sein Zimmer angefühlt hatte, und testete, ob das Atelier zugesperrt war. War es. Er schlug mit den blanken Fäusten einmal fest gegen die Tür. Es war wie die Tür zu einer anderen Welt. Die Tür zu einem besseren Leben. Harrys ganze Besitztümer befanden sich dort. Und er hatte keinen Zugang zu ihnen. So nah und doch so fern. Er hatte wieder einmal gehofft, dass sein Dad vergessen hatte, abzuschließen. Hatte er natürlich nicht. Das hatte er erst einmal. Harry war es sehr zum Verhängnis geworden, als er ihn mit den weggenommenen Sachen vorgefunden hatte. Schon allein deshalb sollte er es eigentlich besser wissen und sich von diesem Zimmer fernhalten. Aber er konnte nicht. Es war nicht fair. Harry sank vor der Tür in sich zusammen, weinte um das Leben, das er nicht haben konnte. Es hatte schon Abende gegeben, da hatte ihn das alles völlig kalt gelassen. Abende, an denen er keine einzige Träne vergossen hatte. Das waren nicht unbedingt die Abende gewesen, an denen ihm ein Spielzeug weggenommen worden war, denn diese hatte er eigentlich immer für wichtiger als sein Bett gehalten. Schließlich konnte man mit einem Bett nicht spielen. Ein Bett hatte keine Fernsteuerung, war unbeweglich und – außer zum Schlafen – absolut unnütz. So hatte ihn als Junge der Verlust einiger Spielsachen hart getroffen. Dass sein Schreibtisch oder sein Nachttisch, auf dem er später die Hausaufgaben erledigt hatte, weg waren, hatte ihm nicht so viel ausgemacht. Den Boden hatte es schließlich auch noch als Schreibunterlage gegeben. Sein Bett allerdings war ein Heiligtum für Harry, seit es kein einziges Spielzeug mehr gab, kein Handy, keinen Ball und auch keine andere Beschäftigung. Es war nämlich das Bett, das er schon seit langem hatte. Seine Eltern hatten es schon vor dem Tod seiner Mutter erworben und diese hatte ihn dort abends oft in den Schlaf gelesen oder gesungen. Es hingen Erinnerungen daran, die sich durch nichts anderes ersetzen ließen. Harry hatte oft in dem Bett gelegen und sich abends oft vorgestellt, wie seine Mutter ihren Arm um seine Schulter legte und ihm sein Lieblingsmärchenbuch vorlas. Es hatte ihn oft wütend gemacht, dass sie nicht mehr da war. Das hatte alles verändert. Mit ihrem Tod war nicht nur die Familie zerrüttelt worden, sondern die Beziehung von Harry zu seinem Vater hatte sich stark verändert. Anfangs nicht ganz so sehr, dann langsam immer mehr. Der Lockenkopf erinnerte sich mit einem müden Lächeln daran, wie sein Dad ihm den gelben Kipplaster weggenommen hatte. Er hatte den ganzen restlichen Tag geweint, weil es sein liebstes Spielzeug gewesen war. Er hatte sich auf dem Boden herumgewälzt, gestrampelt und mit seinen kleinen Fäusten auf den Boden geschlagen. Jetzt kam es Harry schon fast albern vor, wie er sich damals benommen hatte. Nur wegen eines Spielzeuges. Gleichzeitig wusste er aber, dass er niemals so auf diesen Moment herabblicken würde. Seinen jetzigen Nervenzusammenbruch wegen seines Bettes. Das war nicht albern und das würde es auch niemals sein.
Harry lag lange auf dem Boden herum, schniefte und weinte und wünschte sich, er wäre jemand anderer. Es dauerte fast eine Stunde, bis er sich beruhigt hatte. Er schlüpfte in ein paar bequeme Schuhe, zog seinen schwarzen Hoodie über, den er immer trug und ging nach draußen. Etwas frische Luft würde ihm gut tun. Seine Tränen versiegten im kühlen Wind. Ihm war kalt, aber das hätte er im Leben nicht zugegeben. Er setzte sich auf eine Schaukel auf dem Spielplatz um die Ecke. Dort hatte er als Kind immer gespielt, aber die Erinnerungen waren fern. „Hi.“ Harry erschreckte sich fürchterlich über die ihm fremde Stimme und schwenkte den Kopf in die Dunkelheit. Es war ein brünetter Junge, der aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war und sich auf die freie Schaukel neben ihm setzte. „Hey“, erwiderte er leise und musterte seinen Nachbarn kurz. Er war etwa so alt wie Harry, vielleicht gingen sie sogar zur selben Schule, er war sich nicht sicher. Vielleicht hatte er ihn schon einmal gesehen, vielleicht bildete er sich das auch nur ein. „Ich bin Louis“, stellte er sich vor und zog aus der Innentasche seiner Jacke eine Zigarette. „Harry“, nannte auch der mit den Locken seinen Namen. „Dachte ich mir schon. Ich kenne dich aus der Schule. Du bist der, der nie mit jemandem redet.“ Also gingen sie doch zur selben Schule. Harry wandte den Kopf ab. Er hatte nicht gewusst, dass andere Schüler an der Schule über ihn redeten. Sie kannten ihn schließlich überhaupt nicht. Er empfand etwas ähnlich wie Scham dafür, dass ihn anscheinend alle nur als den kannten, der nie mit anderen sprach. „Ich hab mir aber schon gedacht, dass du außerhalb der Schule nicht so bist.“ „Ja?“, hakte er nach. Er schubste sich etwas mit den Füßen an. Der Junge antwortete mit einem Nicken und ließ das Klicken seines Feuerzeugs erklingen. „Wieso bist du hier?“, wollte er wissen, „Bist du nicht schon etwas zu alt für den Spielplatz?“ Harry war hier, weil er sich gerne an die unbeschwerten Zeiten erinnerte, in denen er sich noch mit anderen Kindern um Eimer und Schäufelchen stritt. Manchmal sah er sich selbst als kleinen Jungen in dem Sandkasten ein paar Meter vor ihm. Obwohl er Louis nicht kannte, hätte er das niemals vor ihm zugegeben. Es wäre dann nur das nächste gewesen, worüber an der Schule gesprochen wurde. Deshalb zuckte er nur mit den Schultern und tat so, als wäre es ihm ganz gleichgültig, was Louis von ihm dachte. „Ich wollte nur von zuhause weg.“ Er wollte es so beiläufig wie möglich klingen lassen. Fragen zu sein Privatleben wollte er nicht hören. Das ging niemanden etwas an außer ihn selbst, seinen Vater und vielleicht dem Jugendamt, obwohl Harrys Dad das nicht so sah. „Und du?“, fragte er dann zurück. Er unterhielt sich tatsächlich mit einem Gleichaltrigen, so als wäre er ein ganz normaler Junge. Das sollte nichts Besonderes sein, für Harry war es das aber doch. Normalerweise tat er das nämlich nicht. „Hab mich mit meiner Mom gefetzt. Deswegen.“ Mit dem letzten Wort hielt er symbolisch den Glimmstängel hoch und schnippte die Asche am glühenden Ende weg. „Hast du noch eine?“, fragte Harry nach kurzem Zögern. Er rauchte eigentlich nicht, er hatte es auch noch nie ausprobiert. Aber im Moment bot sich ihm die Gelegenheit, einen Freund zu finden, und dafür hätte er alles getan. Zumal er auf die entspannende Wirkung hoffte, wie sie immer von Leuten angepriesen wurde, die dafür ihre Gesundheit hergaben. Louis schüttelte den Kopf. „Sorry, ist die letzte. Aber ich lass dich mal ziehen, wenn du willst.“ Er schien nett zu sein. Harry nahm ihm die Kippe aus der Hand, hielt noch einmal kurz inne, um sich zu fragen, ob es das auch wirklich wert war, und nahm dann einen Zug. Der bittere Geschmack im Mund sagte ihm nicht zu, so blies er den Rauch gleich wieder heraus und gab Louis seine Zigarette wieder zurück. „Dein erstes Mal?“, fragte Louis, als er Harrys angewiderten Gesichtsausdruck bemerkte. Er nickte zur Antwort. „Glückwunsch.“ Der Andere schmunzelte. Machte er sich etwa über ihn lustig? Harry war sich unsicher. Er senkte den Blick auf seine Schuhe und fragte sich, warum er nicht einfach ein ganz normaler Junge wie Louis sein konnte. „Ich geh jetzt lieber nachhause“, sagte er und stand auf. „Danke … für die Kippe … und den Smalltalk.“ Er wandte sich um und ging. „Hey, Harry?“, rief Louis ihm nach. Er drehte sich um. „Du bist ganz in Ordnung. Schade, dass es niemand außer mir weiß.“ Er lächelte und Harry lächelte zurück. Dann machte er sich auf den Weg nachhause.
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Chapter Two
Harry dachte noch lange am Abend an das knappe Gespräch mit Louis. Das Schlafen ohne Bett fiel ihm schwer. Sein Zimmer hatte schon lange nichts mehr von einem Zuhause, es war leer und hatte seinen Charme, all seine warme, liebliche Atmosphäre verloren. Sein Schrank, sein Schreibtisch, seine Kommode mit den Fotos darauf, die Fußballposter seiner Lieblingsmannschaft, seine Spielsachen und all der andere kleine Krimskrams, den er schon von Kindertagen an besessen hatte. Von manchen Dingen hatte er sich nie trennen wollen. Er erinnerte sich daran, als sein Zimmer voll mit kahlen Möbeln gewesen war, die Wände nackt und er sich gedacht hatte, schlimmer könnte es kaum sein. Er hatte sich so geirrt. Es war nicht so, als hätte sich Harry nicht ständig und unentwegt bemüht, sich keinen einzigen Fehler zu leisten, aber es waren kleine, menschliche Dinge, die eben unvermeidbar waren. Schlechte Noten, mal eine zerrissene Jeans, ein blaues Auge als Souvenir aus der Schule oder ein Brief von der Schulleitung, es war völlig egal, was sich Harry leistete. Für seinen Vater kam alles gleich. Louis konnte sich auch noch so sehr bemühen, er bekam nichts von dem zurück, was ihm weggenommen wurde. Zu Weihnachten oder zum Geburtstag konnte er sich vielleicht etwas erhoffen, aber das würde beides noch ein halbes Jahr dauern. Louis hatte es an diesem Abend jedoch geschafft, ihm nur mit einem einzigen Satz das Gefühl zu geben, er wäre nicht so ein schrecklicher Sohn wie es ihn sein Vater oft fühlen ließ. Er kannte ihn zwar überhaupt nicht und würde bestimmt nicht noch ein Wort mit Harry wechseln, wüsste er diese eine Sache, die sein Leben von dem Leben anderer unterschied. Louis’ Lächeln war wie eine strahlend rote Rose in seiner schwarz-weißen Welt gewesen. Eine Abwechslung, die ihn so sehr beeindruckt hatte, dass er nicht mehr ohne sie sein wollte. Louis sollte ein fester Bestandteil in seinem Leben werden. Harry wünschte sich nichts sehnlicher an diesem Abend. Am Morgen schreckte er durch die zufallende Tür aus seinem leichten Schlaf. Er drehte sich herum und ihm jagte sogleich ein schmerzhaftes Ziehen durch seine steife Wirbelsäule, die so über den Verlust seines Bettes klagte. Harry gab ein leises Murren von sich. Daran würde er sich gewöhnen müssen. Sein Bett kam nicht wieder, so sehr er es sich auch wünschte. Harry stand auf und streckte sich. Was für eine schmerzhafte Bestrafung, die er allerdings bestimmt verdient hatte. So ein großes Risiko war er nie eingegangen, aber woher hätte er auch wissen sollen, dass sein Dad schon fertig gewesen war. Normalerweise brauchte er länger im Badezimmer, wenn er sich für die Arbeit fertig machte. Harry hatte es für todsicher gehalten, allerdings wurde ihm rückblickend klar, dass er es einfacher gewesen wäre, zuerst die Nummer des Jugendamtes herauszusuchen, noch bevor er seinen Plan in die Tat umsetzte. Woher hätte er schon wissen sollen, dass es so lange dauerte, diese blöde Nummer in dem altmodischen Telefonbuch herauszusuchen? Harry ging hinüber in die Küche, wo sein Vater bereits in der offenen Kühlschranktür stand. Was ihm ein Abendessen war, war seinem Sohn das Frühstück. Es war kein großer Unterschied, nur aß Harry Toastbrot und sein Vater Schwarzbrot oder Körnerbrot. Statt Wurst und Käse aß er Marmelade oder Nutella. Während des gesamten Essens trafen sich ihre Blicke nur zweimal. Harry mied es, seinen Vater anzusehen, konnte jedoch nicht anders. Er musste wissen, ob und wie wütend er noch war. Sein Gesicht war ausdruckslos, er konnte nicht erkennen, ob er einfach nur müde und ausgelaugt von der Arbeit war oder ihm seinen gestrigen Anruf beim Jugendamt noch so sehr vorwarf, dass er mit erneuter Bestrafung rechnen musste. „Wie war es bei der Arbeit?“, stammelte Harry. Ihm war das kalte Schweigen, das sich in diesem Haus sehr oft willkommen fühlte, unangenehm. „Nichts Besonderes. Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“ Harry nickte. Hinter dieser Frage verbarg sich die unausgesprochene Aufforderung, sie ihm vorzuzeigen. Seit vor ein paar Wochen ein Brief von der Schulleitung eingetrudelt war, in dem stand, dass Harry nicht zuverlässig die Hausaufgaben erledigte, kontrollierte sein Vater täglich seine Hausaufgaben. Harry hatte nicht viel gegessen, aber er bekam auch nichts herunter, deshalb stand er gleich auf und ging in sein Zimmer hinüber, um seine Ordner und Hefte zu holen. Sein Vater aß noch fertig und ließ Harry den Tisch abräumen, während er durch die Seiten blätterte. Sie waren trocken und ganz zerknittert und knisterten beim umblättern. „Hast du Wasser verschüttet oder geheult?“, fragte sein Dad und richtete seinen argwöhnischen Blick auf Harrys Gesicht. Er wollte nicht antworten. Sein Vater jedoch zog ihn grob am Ellbogen zurück und packte ihn mit der Hand am Kiefer. Sein starker Griff schmerzte, aber er traute sich nicht zu klagen. „Ich hab dich zu einem Mann erzogen, nicht zu einem Mädchen.“ Harry bekam das Gefühl, er müsse sich dafür schämen, wie sensibel er war. Es war jedoch nichts, was er ändern konnte, so sehr er es wollte. Am liebsten wäre ihm sein Vater nämlich völlig egal gewesen und was er ihm antat und wie er ihn bestrafte. Am liebsten wäre ihm alles egal gewesen. Das war es aber nicht. „Hast du verstanden?“ Sein Griff wurde fester. „Ja“, quäkte Harry und atmete auf, als sein Vater ihn losließ. Er steckte das Besteck und die schmutzigen Teller in die Spülmaschine und ging anschließend auf sein Zimmer. Nachdem er sich ein paar frische Klamotten geholt hatte, verschwand er im Badezimmer, duschte und putzte sich die Zähne. Danach stand er noch eine ganze Weile lang vor dem Spiegel und sah sich selbst an. Ihm gefiel sein eigener Anblick nicht. Er verbrachte viel Zeit damit, sich für sich selbst zu schämen, obwohl ihm niemals jemand eingeredet hatte, er wäre hässlich. Aber er selbst empfand sich nicht als gut aussehend. Diese Locken, sie saßen auf seinem Kopf, wirr und ohne Sinn. Zu einem Mädchen hätten sie gepasst, aber nicht zu einem Jungen. Sie waren Harry viel zu feminin. Er hätte sich am liebsten den Kopf kahl rasiert. Seine Augen waren von einem milchig-blassen Grün, das ihm nicht gefiel, seine Lippen waren knallig rot und hätten ebenfalls besser an einem Mädchen ausgesehen, seine Haut war zu unrein und auch seine Statur hätte er gerne verändert. Er wäre gerne muskulöser, das hätte ihm bestimmt etwas Selbstbewusstsein verliehen. Harry lächelte in den Spiegel, während er sich kurz der absurden Vorstellung hingab, wie er – stark, muskelbepackt – seinen Vater verdrosch, der völlig wehrlos alle Schläge hinnehmen musste. Harrys Welt könnte viel besser sein, hätte er auch nur ein einziges Detail ändern können. Sein Blick schweifte zum Fenster, durch das er sehnsüchtig in die Ferne starrte. Wenn er doch nur einfach den Mut gehabt hätte, wegzurennen. Weit weg, so weit ihn seine Füße trugen. Vielleicht nach Norden, bis nach Manchester, vielleicht auch südlich bis Portsmouth. Und dann mit einem Frachtschiff weiter bis zu einem anderen Kontinent, bestenfalls bis Neuseeland, weit, weit weg von seinem Vater. Es klopfte an der Badezimmertür. Harry machte auf und ließ seinen Vater hinein, verließ das Bad daraufhin. „Darf ich fernsehen?“, fragte er schüchtern. „Wenn du leise schaust.“ „Harry nickte. „Danke, Dad.“ Er huschte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Sein Vater würde jetzt schlafen gehen, deshalb stellte er die minimale Lautstärke ein. Es war früher Samstagmorgen, es lief nur Frühstücksfernsehen, ein paar Wiederholungen von Serien und auf dem Kinderkanal liefen alte Disney-Cartoons, von denen Harry sich selbst jetzt, mit 15 Jahren, noch nicht trennen konnte. Sie waren voll gestopft mit Unschuld und Träumen, Verheißungen auf ein wunderschönes Leben, wie es sich jeder wünschte, jedoch für niemanden in Erfüllung ging. Sein Vater erschien in seinem Blickfeld, als er gerade dabei war, sich mit einem Schmunzeln über Tweety und seine Machenschaften zu amüsieren. Ihm wich sofort das Lächeln aus dem Gesicht und er setzte sich auf. „Ich dachte, du wolltest schlafen gehen.“ Er schlang die Arme um sich selbst in der Hoffnung, so würde er sich beschützter fühlen. Sein Dad setzte sich ans andere Ende des Sofas. Harry wurde unwohl. „Ich würde mich lieber mit dir über gestern Abend unterhalten.“ Harry wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich redeten sie so gut wie nie. „Hast du das Gefühl, ich behandle dich falsch?“ Seine Stimme war ruhig, aber unter seiner gelassenen Oberfläche brodelte Wut. Harry wich seinem Blick aus, sah stattdessen an seiner Schulter vorbei auf den Boden. „Dad...“ Wie sollte er darauf bloß antworten? Ehrlich sein und erneute Bestrafung riskieren oder lügen und versuchen, mit der Genugtuung zu leben, die er seinem Vater damit gab. „Du hast beim Jugendamt bestimmt nicht angerufen, um dich über das Wetter zu unterhalten. Es ist aber ziemlich … kränkend, dass du nicht vorher mit mir gesprochen hast, was dich an meinen Erziehungsmethoden stört.“ Er durfte nichts Falsches sagen, es könnte schwerwiegende Folgen haben, wenn das Gespräch ausartete. Folgen für Harry. Deshalb ließ er sich ein paar Sekunden Zeit, bis er eine passende Antwort gefunden hatte. „Ich hatte Angst davor.“ Noch immer mied er es, seinem Blick zu begegnen. „Ich hab dich nicht erzogen, Angst vor allem und jedem zu haben.“ Sein Blick war schneidend, Harry bereute es sofort, aufgesehen zu haben. Sein Vater hatte versucht, ihn so zu erziehen, dass er keine Angst haben musste, war mit der Härte seiner Bestrafungen aber kläglich daran gescheitert. Harry hatte Angst vor seinem Vater, davor zu versagen, etwas falsch zu machen, vor körperlicher Nähe und vor Enge. Er hatte Angst davor, den Mund aufzumachen, wenn ihm etwas nicht passte, und davor, dass irgendjemand erfuhr, was sich hinter verschlossenen Türen abspielte. Deshalb hatte er keine Freunde, ganz schlicht und einfach deshalb, weil er Angst hatte, dass irgendwer früher oder später erfuhr, was niemand erfahren durfte. Er hatte Angst davor, dass es als Gerücht an der Schule, ach was, in der ganzen Stadt kursierte oder sich sogar noch weiter verbreitete. Er hatte Angst vor dem Moment, an dem er angesehen wurde und jeder ihn als kranken, widerlichen Abschaum ansah, weil er sich von seinem Vater missbrauchen ließ. Die Leute würden einen großen Bogen um ihn machen, denn er wäre abstoßender, widerwärtiger Dreck für die Leute und nichts weiter. Davor hatte er am meisten Angst. „Ich habe Angst vor vielen Dingen, was sagt dir das?“, sagte Harry leise, aber klar verständlich. Sein Vater hasste es, wenn er undeutlich sprach. Er sah ihn mit eng gewordenen Augen an. „Sag es“, forderte er. Seine Stimme war wie das leise, giftige Zischen einer Schlange, die gleich aus dem Hinterhalt angreifen könnte. Harry schluckte. „Du solltest vielleicht nachdenken … über deine Erziehung.“ Er sagte es nur, weil sein Vater ihn dazu aufgefordert hatte. Unter normalen Umständen hätte er sich das niemals getraut. Er hätte sich nicht getraut, irgendwelche Kritik an seinem Vater zu äußern, egal was es war und wie bedeutend. Unmittelbar auf Harrys Worte folgte ein lautes Krachen, als sein Dad seine flache Hand auf den Tisch schlug. Harry zuckte zusammen. „Ich habe dich groß gezogen, verdammt. Allein. Ich habe immer getan, was ich konnte. Du müsstest mir dankbar sein. Geh in dein Zimmer.“ Harry stand ruckartig auf und stolperte in sein Zimmer, wo er sich nur ein ganz kleines bisschen sicherer fühlte. Er lehnte kurz an der Tür und fragte sich, ob das alles gewesen war, das er heute von seinem Vater zu erwarten hatte. Bestimmt nicht, aber er hielt sich so gerne an der abstrakten, ungreifbaren Hoffnung fest, das es so wäre. Er kauerte sich auf seiner Matratze zusammen. Seinem Alles. Dem einzigen, was ihm geblieben war. Er saß dort bis zum Abend, ohne zu bemerken, wie die Zeit an ihm vorüber zog. Er traute sich erst eine gute halbe Stunde, nachdem sein Vater zur Arbeit gegangen war, wieder sein Zimmer zu verlassen. Bevor er gegangen war, hatte er noch einen Blick in Harrys Zimmer geworfen, nachgesehen, ob er noch da war. Harry war ganz weggetreten gewesen, sein Vater hatte ihm wieder ein Stück von sich genommen. Der Lockenkopf bekam die Bilder nicht aus dem Kopf, aber er versuchte, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, denn dann kamen ihm wieder die Tränen. Er ging nach unten in die Küche und nahm das Telefon in die Hand. Sein Vater würde es diesmal ganz bestimmt nicht mitbekommen, denn er war bei der Arbeit. Harry suchte die Nummer vom Jugendamt heraus, tippte sie ein und drückte auf die Taste mit dem grünen Hörer. Es pfiff eine Melodie am anderen Ende, dann wurde er von einer roboterhaften, weiblichen Stimme darauf hingewiesen, dass kein Festnetzanschluss bestand und er nach der Ursache dafür suchen sollte, bevor er es erneut versuchte. Harry legte auf. Sein Vater war so ein Kontrollfreak. Er zog sich seinen dicken, schwarzen Kapuzenpulli über, schlüpfte in seine ausgetretenen Billigschuhe und machte sich auf den Weg zum Spielplatz so wie gestern auch. Er fragte sich, ob Louis auch da sein würde, und war er ehrlich zu sich selbst, hoffte er sogar darauf. Vielleicht würde er wieder dort sitzen, eine Zigarette rauchen und sich mit seinen unbedeutenden Problemen beschäftigen, falls er überhaupt welche hatte. Harry verspürte etwas wie Neid gegenüber Louis. Er fragte sich, warum er nicht auch so ein einfaches Leben haben konnte. Es war nicht wirklich fair. Harry hatte nie etwas schlechtes getan, hatte nie jemandem absichtlich geschadet oder gegen irgendwelche Regeln verstoßen. Wieso passierte also ausgerechnet ihm so etwas? Er setzte sich auf eine Schaukel und schubste sich leicht mit den Füßen an. Die Gedanken prasselten auf ihn ein und er konnte nichts dagegen tun. „Hi.“ Louis’ Stimme erschreckte Harry so sehr, dass er fast von der Schaukel fiel. Er wischte sich mit dem Ärmelende seines Hoodies über die Wangen und hoffte, dass Louis nichts bemerkt hatte. Er blinzelte ihn an und hatte ein Déjà vu. Er stand da und hielt eine Kippe zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, die andere Hand hatte er in seine Jackentasche gesteckt. „Alles klar?“, fragte er. Harry antwortete mit einem komischen Zwischending zwischen Nicken und Kopfschütteln. „Ja, alles okay“, fügte er hinzu, als Louis ihn daraufhin leicht verwirrt anlächelte. „Hier, ich hab dir eine mitgebracht.“ Der Junge griff in seine Tasche, holte eine Zigarette heraus und reichte sie Harry, bevor er sich auf die Schaukel neben ihm setzte. „Woher hast du gewusst, dass ich herkomme?“, fragte Harry. „Ich hab’s nicht gewusst, ich hab’s gehofft.“ Louis lächelte und Harry fühlte sich plötzlich nicht mehr ganz so mies. „Danke.“ Er steckte sie sich an und Louis hielt sein Feuerzeug an das vordere Ende. Harry hatte es gestern eigentlich nicht gefallen, aber er wollte nicht Nein sagen, denn er hatte sowieso schon keine Freunde. Außerdem hatte er das Gefühl, dass er das jetzt gerade brauchte. Der bittere Nikotingeschmack in Harrys Mund wurde mit jedem Zug etwas weniger abstoßend und eklig. Es fing sogar an, ihm zu gefallen.
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Chapter Three
Am Montag sah Louis Harry wie immer in der Mittagspause in der Cafeteria. Er saß dort mit seinem besten Freund Niall an ihrem Stammplatz, Harry holte sich gerade vorn an der Ausgabe etwas zu Essen. Der letzte vor ihm nahm gerade sein Tablett und balancierte es zu einem der Tische. Harry wollte der Frau an der Theke gerade sagen, was er essen wollte, als er von einem Jungen weg geschubst wurde. „Weg da, Styles“, brummte dieser nur und er wusste, dass Harry sich nicht wehren würde. Das machte es ihm umso leichter. „Hier wird nicht gedrängelt“, murrte die rundliche Frau an der Ausgabe gelangweilt. Sie scherte sich eigentlich einen Dreck darum, wer wann was wollte und ob dabei gedrängelt wurde oder nicht. „Er hat mir nur den Platz freigehalten, stimmt’s, Harry?“ Er drehte sich zu ihm um. Harry sagte nichts, senkte den Kopf und schloss für einen Moment lang die Augen, um sich zu besinnen. Er konnte sich nicht gegen ihn durchsetzen, das wusste er, daher versuchte er es gar nicht erst. „Warte kurz“, sagte Louis ein paar Tische weiter zu Niall und stand auf. Er ging hinüber zur Ausgabe und zog den Jungen aus Harrys Jahrgang aus der Reihe. „Stell dich hinten an, du Idiot.“ Harrys Blick begegnete dem von Louis. Der Junge aus seiner Klasse sah zu Louis und dann zu Harry. „Oh, Styles, holst du jetzt schon deinen großen Bruder aus der Oberstufe?“ „Er ist nicht mein Bruder und jetzt stell dich hinten an.“ Er riss sich aus Louis’ Griff los und ging mit argwöhnischem Blick ans Ende der Schlange. „Danke, das war echt nett, aber das wäre nicht nötig gewesen, wirklich“, murmelte Harry, während er sich sein Essen geben ließ. „Er hat nicht das Recht, dich herumzuschubsen und sich vorzudrängeln, und das muss ihm jemand zeigen.“ Dass Louis es damit wahrscheinlich nur noch schlimmer gemacht hatte, traute er sich nicht zu sagen. „Ich komme auch allein gut klar, Louis.“ „Das sah nicht danach aus.“ „Ich brauche keinen Beschützer“, murmelte Harry leise. „Willst du dich trotzdem zu uns an den Tisch setzen?“, fragte er und nickte mit dem Kopf in Richtung des Tisches, an dem Niall gerade allein in seinem Essen herum stocherte. „Nein, lieber nicht.“ Er stellte sein Tablett auf einem leeren Tisch ab und setzte sich. Louis war verwirrt. Harry hatte gestern so nett gewirkt, ganz anders als jetzt. Er war völlig verschlossen, redete kaum und wirkte eingeschüchtert. Vielleicht lag es nur an der Situation, aber Louis hatte das Gefühl, dass Harry nichts mit ihm zu tun haben wollte. Zwar hatte sich Harry vor ihrem gestrigen Gespräch nie anders verhalten, hatte nie mit jemandem geredet, hatte immer allein an dem Tisch in der Mitte gesessen und für sich allein gegessen und war in den Pausen immer abgeschottet von den anderen gewesen, aber Louis hatte gedacht, sie hätten jetzt einen Draht zueinander. Aber da hatte er sich wohl geirrt. Gestern hatte Louis zum ersten mal den Eindruck gehabt, Harry wäre wie jeder andere, aber das war wohl doch nicht der Fall. Er wollte schlichtweg keine Freunde haben, so wirkte es zumindest. Jeder an der Schule wusste, dass mit Harry etwas nicht stimmte, aber niemand hatte ihn je darauf angesprochen. Es schien immer, als lebte er in seiner eigenen Welt, manchmal sah er ganz abwesend aus. Louis erwischte sich während der Mittagspause noch ein paarmal dabei, wie er über seine Schulter hinweg zu Harry blickte, wie er allein dort saß und aß. Niemand setzte sich zu ihm an den Tisch, so wie fast immer. Und wenn es doch mal geschah, dann räumte Harry sein Tablett auf, selbst wenn er noch nicht mit dem Essen fertig war, und ging einfach. Louis musste sich eingestehen, dass er wohl mehr als nur manchmal auf Harry geachtet hatte. Er war eben sonderbar. Während die meisten an der Schule ihn für irre hielten, sah Louis an ihm seit dem gestrigen Abend eine neue Seite. Er war nicht irre, eher sonderbar. Er war eben nicht wie alle. Er versteckte sich, isolierte sich. Es war nicht so, dass er schüchtern war, er antwortete auch nicht, wenn man ihn etwas fragte. Er war einfach in seiner eigenen kleinen Welt, in der es nur ihn selbst gab. „Er ist ein Freak, wieso hast du ihm geholfen?“, Niall holte seinen besten Freund in die Realität zurück, denn er starrte den Lockenkopf, der allein am Tisch saß, schon eine ganze Weile lang an. „Er ist kein Freak.“ Louis schüttelte den Kopf. „Als ob du davon eine Ahnung hättest.“ Niall schnaubte. Louis spielte kurz mit dem Gedanken, ihm von ihrer kurzen Unterhaltung gestern Abend zu erzählen, entschied sich aber doch dagegen. „Ich glaube, er ist eigentlich ganz normal“, sagte er stattdessen. „Er ist nicht normal. Die ganze Mittelstufe weiß es und du auch.“ Niall sprach mit vollem Mund. Es klang ekelhaft und sah auch so aus, aber Lou war die Marotten seines besten Freundes bereits gewohnt. Louis beließ es dabei. Es brachte ja doch nichts, darüber zu diskutieren. Niall hatte wahrscheinlich sowieso recht, denn Harry hatte sich heute von einer wieder neuen Seite gezeigt, die er nicht gekannt hatte. Es war nicht so, als wollte Harry keine Freunde haben. Wirklich nicht. Er hätte sich gefreut, hätte er jemanden gehabt, mit dem er sich unterhalten konnte, Spiele spielen und was immer Jugendliche so taten. Harry war sich gar nicht sicher. Fußballspielen, Videospiele und sich über ihre Handys schreiben. Harry hatte aber gar kein Handy. Er konnte auch nicht wirklich gut Fußball spielen, das hatte er schon lange nicht mehr getan. Er konnte auch keine Freunde zu sich einladen, denn er hatte nur eine Matratze. Videospiele hatte er auch nicht, er hatte ja nicht mal eine Konsole. Er konnte auch keine spielen, denn das hatte er noch nie. Keiner dieser Gründe war jedoch der wesentliche Grund dafür, warum er keine Freunde hat und es überhaupt mied, mit allen Menschen zu sprechen. Er hatte Angst. Angst davor, dass es aufkam, dass es jemand erfuhr. Und noch mehr Angst hatte er vor den Folgen, die es mit sich zog. Niemand wollte etwas zu tun haben mit einem Jungen wie Harry. Er hatte keinerlei Durchsetzungsvermögen oder Selbstsicherheit. Er war nur ein Junge, der restlos von seinem Vater ausgenommen wurde. Jeder hätte es als krank, abscheulich oder einfach nur widerlich angesehen. Niemand würde in Harry noch Harry sehen, sondern nur noch das, was ihm sein Vater antat. Nach der Mittagspause hatte Harry Sport. Er war ziemlich unsportlich und hatte auch dementsprechende Noten. Er war eben nicht so wie die anderen schon seit Jahren in einem Fußball-, Basketball- oder Handballverein oder schwamm oder machte sonst irgendwie Sport. Harry durfte eigentlich gar nicht vor die Tür und er tat es auch nicht. Um sich selbst zu schützen. Auf dem Weg von den Umkleidekabinen zu den Sporthallen erhaschte Harry einen kurzen Blick auf Louis und war verwirrt. Er ging in die selbe Sporthalle wie die anderen auch. Der Lehrer machte eine Ankündigung, um die allgemeine Verwirrung von Harrys Klasse aufzuklären. „Wegen des kurzfristigen Ausfalls von Mr. Goldfield über einen wahrscheinlich längeren Zeitraum, werden die elften Klassen vorübergehend mit den zehnten Klassen gemeinsam Sport haben. Das bedeutet, wir haben eine größere Klasse und ich habe weniger Zeit euch alle zu benoten. Also lasst uns keine Zeit verlieren und baut die Geräte auf.“ „Ich hab gehört, Goldfield hat sich am Knie verletzt. Irgendwas mit der Kniescheibe“, schnappte Harry auf dem Weg in den Geräteschuppen auf. Das kam ihm gerade noch recht. Harry war unfreundlich zu Louis gewesen und wurde nun mit mehreren Monaten des gemeinsamen Unterrichts mit eben jenem bestraft. Das konnte ja noch witzig werden. Harry stellte sich beim Geräteturnen wie immer recht ungeschickt an im Gegensatz zu seinen Mitschülern. Er war eben ein Schwächling und kaum imstande dazu, seinen eigenen Körper hochzustemmen. Meistens war er schon nach der Aufwärmrunde erschöpft und total verschwitzt. Ihm war klar, dass seine Mitschüler ihn oft dafür belächelten, aber was sollte er schon dagegen tun? Heute tat ihm noch dazu der Rücken höllisch weh, weil er mit der Matratze auf dem Boden geschlafen hatte. „Hey … uhm … ich weiß einen Trick, dann tust du dir vielleicht etwas leichter“, quatschte Louis Harry von hinten an. Harry schloss die Augen. Das hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Ich brauche keine Hilfe, schon gar nicht von dir. Harry beschloss, einfach gar nicht mit ihm zu reden. So wurde er die meisten Leute schnell wieder los. Klar, es war unhöflich, aber für Harry war es schwer, sich mit Leuten zu unterhalten. Sie verstanden ihn eben nicht und er sie genauso wenig. Es war als kämen sie von zwei verschiedenen Welten. Keiner von ihnen hatte sich je mit Harrys Problemen herumschlagen müssen, Harry wiederum hatte nie ihr Leben gelebt. „Sorry, falls ich dir vorhin irgendwie den Eindruck vermittelt habe, du könntest nicht für dich selbst handeln. Ich wollte nur … na ja, ich hatte eben das Gefühl, du kommst nicht klar. Wie auch immer. Ich lass es ab jetzt. Du brauchst meine Hilfe nicht.“ Eigentlich brauchte Harry sie sehr dringend und das wusste er auch, nur ging es eben nicht. Harry und Louis konnten keine Freunde sein, das würden sie auch nie. Sie waren einfach zu verschieden. Harry kam eben von einem ganz anderen Stern. Sie würden sich niemals verstehen, wären nicht einmal auf einer Wellenlänge oder würden einander vertrauen. Louis vielleicht Harry, aber nicht umgekehrt. Harry konnte niemandem vertrauen. Es war nicht so, als hätte jemand sein Vertrauen missbraucht, aber er fürchtete sich davor, das jemand etwas nicht für sich behalten konnte. Etwas ganz Bestimmtes. „Wie auch immer, ich wollte dich fragen, ob du später schon was vorhast. Hast du?“ Harry war verblüfft, das tatsächlich jemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, schließlich hatte er nicht wirklich den besten Ruf an der Schule. Hin und wieder hörte er Mitschüler über ihn reden, manchmal sogar, wenn er in der Nähe war. „Keine Ahnung, warum du denkst, du müsstest dich mit mir anfreunden“, keuchte der Jüngere. „Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie du es ablehnen würde, mit jemandem abzuhängen, wenn er es auch noch angeboten bekommt“, erwiderte Louis spitz. „Jemand wie ich?“ „Jemand, der immer allein ist und keinen einzigen an der ganzen Schule hat, mit dem er sich überhaupt unterhalten kann. Du bist nicht wirklich jemand, der sich vor Freunden kaum retten kann. Ich wollte nur nett sein, aber wenn du nicht abhängen willst.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, worauf du es abgesehen hast, aber von mir aus. Ich muss um sieben zuhause sein, vorher kannst du mir ja erzählen, was du überhaupt von mir willst.“ Harry wollte sich wirklich nicht so anstellen, er wusste gar nicht, was in ihn gefahren war, so stur und unhöflich zu sein. Er wollte schon lange wieder einen Freund haben. Nach dem Geräteturnen blieb ihnen noch etwas Zeit, um eine Runde Zombieball zu spielen. Die Regeln waren simpel; Es gab keine Mannschaften, jeder spielte gegen jeden. Es gab drei Bälle, wer getroffen wurde, wurde zum Zombie und hatte damit verloren. Der letzte übrige „Mensch“ hatte dann gewonnen. Harry hasste dieses Spiel. Er fühlte sich dabei wie ein herum gescheuchtes Schaf, das von drei Seiten attackiert wurde. Noch dazu überragten ihn die meisten Elftklässler mit einem ganzen Kopf und kamen so wesentlich leichter an fliegende Bälle heran. Aus dem Nichts traf Harry ein unerwartet harter Ball am Rücken und er fiel um wie ein Sack Kartoffeln. Es tat so weh, dass Harry mehrmals nach Luft schnappte, als er dort auf dem Boden lag. Bei seinem Sturz hatte er sich auch noch das Knie auf dem Boden angeschlagen. Verdammt. Louis kam auf ihn zu gerannt und half ihm auf die Beine. Harry musste die Zähne zusammen beißen und nickte nur auf die Frage, ob alles okay sei. Er schleppte sich etwas humpelnd zu der Bank am Rand der Halle, wo auch die anderen Zombies saßen. Er hielt sich so unauffällig wie möglich den Rücken und rieb über die schmerzende Stelle. Er hätte schwören können, dass der Treffer ihn kurz ohnmächtig hatte werden lassen. Harry war froh, als sie nach der Runde endlich in die Umkleiden durften. Er war aber nur so lange froh, bis er mitbekam, wie sich alle über seinen legendären Sturz lustig machten. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn das verletzte, zog sich schneller um als alle anderen und verließ die Umkleidekabine sofort. Harry hatte sich noch nie über jemanden lustig gemacht, womit hatte er es also verdient, dass alle über ihn lachten? Er begann sich zu fragen, ob es der Grund war, aus dem Louis ihn zu sich eingeladen hatte. Weil er sich insgeheim auch über ihn lustig machte und nur herausfinden wollte, ob er wirklich so komisch war, wie alle es von ihm dachten. Und dass er dann seinen Freunden von dem dummen Zehntklässler erzählen konnte, der doch ernsthaft glaubte, er wollte eine Freundschaft mit ihm. Damit hätte er sich noch mehr über ihn lustig machen können. Harry ritt sich so sehr in diese Logik hinein, dass es für ihn gar keinen anderen Grund gab, warum Louis eigentlich mit ihm „abhängen“ wollen könnte. Er setzte sich auf eine Bank auf dem Pausenhof und wartete darauf, dass Louis die Sporthalle verließ. Wegen seines neuen Zweitjobs konnte sein Vater ihn nicht von der Schule abholen. Eigentlich ging er immer zu Fuß nachhause oder fuhr ein paar Stationen mit dem Bus. Früher hatte sein Dad ihn immer morgens zur Schule gebracht und nachmittags abgeholt, jetzt konnte er ihn nur noch morgens bei der Schule absetzen, dann schlief er ein paar Stunden und ging zu seinem Zweitjob. Er tat echt alles, damit sie das Haus behalten konnten, in dem Harry aufgewachsen war. Wenn es mit dem Geld nicht mehr hinreichte, würde Harry wohl auch einen Minijob annehmen müssen. Das Haus war viel zu groß für sie beide allein, aber die verbanden beide viele Erinnerungen damit und sie wussten beide, dass sie es nicht kampflos aufgeben könnten. Die Küche, in der Harrys Mutter immer fröhlich zu ihrer Rockmusik tanzend gekocht hatte, das Wohnzimmer, wo sie immer gemeinsam am Wochenende ferngesehen hatten, das große Schlafzimmer von Harrys Eltern im ersten Stock, wo er hin und wieder zu ihnen unter die Decke gekrochen hatte. Das Badezimmer, von dem Harry noch von Kinderfotos gesehen hatte, wie seine Eltern ihn als Baby im Waschbecken gebadet hatten. Das Atelier, wo Harrys Mutter oft stundenlang mit Gemälden aller Art beschäftigt gewesen war. Auch Harry hatte dort als kleiner Junge schon die ein oder andere Leinwand bemalt. Harrys Schlafzimmer, wo seine Mom ihm abends vorgesungen oder vorgelesen hatte, wo sie unter dem Bett immer ganz gründlich nach Monstern gesucht hatte, wo Harry den ganzen Tag mit Spielkameraden verbracht hatte. Der Garten, wo seine Mutter im Frühjahr immer etliche verschiedene Blumen und Samen gepflanzt hatte. Wo sie im Sommer immer gegrillt hatten. Wo sie im Herbst in dem fallenden, bunten Laub getanzt hatten. Wo sie im Winter immer einen Schneemann gebaut hatten. Nun ja, sie bauten nun keine Schneemänner mehr, tanzten fröhlich im Laub, grillten oder pflanzten Blumen und Gemüse. Am Esstisch in der Küche standen nun nur noch zwei Stühle statt dreien. Das Atelier war nur noch als Abstellkammer für Harrys Besitztümer gut genug. Die riesige Sammlung von Moms Rock-CDs war im Keller verschwunden und auch sonst alles, was an sie erinnerte. Harry durfte gar nicht in den Keller. Sein Vater meinte es nur gut. Er sagte immer, das würde er sowieso nicht verkraften.
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Chapter Four
Louis verließ die Turnhalle und sah sich nach Harry um. Er saß auf einer Bank und starrte vor sich hin. Er schien völlig weggetreten. Erst bemerkte er es gar nicht, als Louis vor ihm stehen blieb. „Alles okay? Du siehst irgendwie traurig aus.“ Harry sah zu ihm auf und erhob sich nach einem kurzen Moment. „Ja, alles okay.“ Er räusperte sich, als seine Stimme so merkwürdig schief klang. „Ich hab nur mitbekommen, dass alle sich über mich lustig machen. Sogar, wenn ich dabei bin. Und da habe ich mich gefragt, warum du mit mir abhängen willst. Ich meine … ich bin ein totaler Loser, ich bin ein Witz für die.“ Harry sprach etwas leiser, als noch ein Junge die Halle verließ. „Für mich bist du kein Witz. Komm, lass uns gehen. Meine Mom holt mich heute ab. Sie ist immer ganz vernarrt in meine Freunde.“ „Freunde?“, wiederholte Harry in fragendem Ton. „Na ja, wie auch immer du das nennen willst.“ Louis zuckte mit den Schultern. „Ich versteh’s immer noch nicht.“ „Es ist ganz simpel. Du hast keine Freunde und ich bin nett, also will ich dir meine Freundschaft anbieten?“ „Also aus Mitleid?“ „Keine Ahnung. Ein bisschen vielleicht. Aber Hauptsächlich, weil ich dich interessant finde.“ „Interessant?“ Harry kam sich ziemlich blöd vor, immer wieder nur das zu wiederholen, was Louis sagte, aber er hatte sich lange nicht mit einem Gleichaltrigen unterhalten und wusste eigentlich nicht, was man da so sagte. „Ich bin ein sehr neugieriger Mensch und du sehr geheimnisvoll. Passt das nicht perfekt zusammen?“ „Eigentlich …“ Eigentlich macht das gar keinen Sinn, wollte Harry sagen, aber er kam sich dann gemein vor, also ließ er es bleiben. „Wie auch immer.“ Sie kamen am Parkplatz an. Es waren nur wenige Autos zu sehen, keines, das Louis zu interessieren schien. „Hast du Geschwister?“, fragte Louis aus dem Nichts nach kurzer Stille. „Nein.“ Es blieb kurz still, Harry fühlte sich irgendwie verpflichtet zurück zu fragen. „Und du?“ „Ich habe eine kleine Schwester“, erzählte er mit einem Lächeln. „Halbschwester, eigentlich, aber das versteht sie noch nicht so ganz, sie ist erst sieben. Sie versteht noch nicht einmal so ganz, warum Mama und Papa nicht zusammen wohnen.“ Er machte kurz Pause. „Ist aber wohl besser so.“ Er beobachtete ein Auto, das auf den Parkplatz fuhr und lief ihm Hinterher. „Also hast du keinen Vater?“, fragte Harry leise. „Nein, ich hab nur meine Mom.“ Louis wirkte etwas bedrückt, als er das sagte, trotzdem schrie eine Stimme in Harrys Kopf nur: Glückspilz! Louis öffnet den Kofferraum, wirft seinen Rucksack und seine Sporttasche hinein. Harry machte es ihm nach und stieg hinten ein, Louis zu seiner Überraschung ebenfalls. „Hey, Mom. Das ist Harry.“ „Hallo, Harry.“ Bei dem mütterlichen Lächeln, das sie Harry durch den Rückspiegel hindurch zuwarf, wurde ihm ganz warm im Bauch und er empfand etwas wie … Wohlbefinden. „Hallo, Mrs...äh...“ Er sah hilfesuchend zu Louis. „Nenn mich Johannah.“ Sie lächelte wieder. „Okay.“ Harry lächelte zurück. Sie hatte warmherzige Augen, die von Lachfältchen umringt waren. „Gehst du auch in Louis’ Klasse?“, fragte sie, während sie ausparkte. „Nein, ich gehe in die zehnte, aber wir haben gemeinsam Sport.“ Harry warf einen unsicheren Blick zu Louis hinüber, der aber nur aus dem Fenster blickte und an seinem Daumennagel kaute. „Ja, Mr Goldfield hat sich wohl am Knie verletzt oder so etwas“, fügte Louis hinzu. „Es ist nur vorübergehend. „Wohnst du auch in Scawsby?“, fragte sie weiter. „Mooom, jetzt sei doch nicht so neugierig.“ Mein Nebensitzer rollte mit den Augen. „Schon okay“, murmelte Harry, „Ja, ich wohne auch in Scawsby. Kempton Park Road.“ „Schon lange?“ „Ja, ich bin da aufgewachsen.“ „Dann wart ihr doch bestimmt sogar im gleichen Kindergarten.“ „Ja, kann schon sein���, murmelte Louis. So wie er das sagte, wurde Harry das Gefühl nicht los, dass er eigentlich mehr über ihn wusste, als er bis jetzt behauptet hatte. „Vielleicht auch in derselben Grundschule. Es wundert mich, dass ich noch nie von dir gehört habe, wenn du doch schon so lange hier wohnst.“ „Moooom!“ Louis’ Stimme klang immer genervter „Ja ja, schon gut.“ Sie lachte. „Ich war ja bloß neugierig.“ „Du brauchst ja nicht alles über meine Freunde wissen.“ Johannah sah Harry durch den Rückspiegel an und rollte mit den Augen. Sie brachte ihn damit fast sogar zum Lachen. Sie bogen in eine Einfahrt ein und Louis’ Mutter hielt vor der Garage. Sie stiegen aus, Louis und Harry nahmen ihre Sachen aus dem Kofferraum. Der Lockenkopf betrachtete das kleine Haus rechts von der Garage. Es war von außen nichts Besonderes, von innen jedoch wirkte es warm und freundlich. Neben der Haustür erstreckte sich eine gebogene Treppe, die Wand davor war aus Buntglas und warf bunte Lichter in den Eingangsbereich. Unter der Treppe führte eine weitere nach unten in den Keller und dahinter gab es drei Türen und eine weitere zur anderen Seite der Haustür neben der Garderobe. Ohne weiteres zog Louis Harry am Arm die Treppe nach oben. Oben gab es noch drei weitere Türen. Louis ging durch die ganz rechts und schloss sie hinter Harry. „Tut mir leid, dass meine Mom so aufdringlich ist.“ Louis warf seinen Rucksack in die Ecke und warf sich auf sein Bett, das der Tür gegenüber in der Ecke stand. Neben der Tür stand ein Sofa. Vor dem Bett auf einer Kommode stand ein kleiner Fernseher, daneben war ein Fenster, vor dem ein Schreibtisch mit Stuhl stand. Es war recht klein, aber vollkommen ausreichend. An den Wänden über dem Bett waren auf der einen Seite Fußballposter und auf der anderen Seite ein Regal mit einem CD-Player und einem Stapel CDs. Direkt vor der Tür neben dem Bett stand ein Nachttisch mit einer kleinen Stehlampe. So viele Sachen. Harry wurde fast Schwindelig. Überall lagen Schulsachen und irgendwelcher Krimskrams herum. Neben dem Fernseher lag eine Konsole mit zwei Controllern und eine Reihe von Spielen. Auf dem Schreibtisch stand ein PC und weitere Schulsachen verteilt. „Mach’s dir doch bequem“, sagte Louis, sowie er bemerkte, dass sein neuer Freund noch etwas unschlüssig im Raum herumstand. „Okay.“ Harry schob ein paar Unterlagen zur Seite und schuf sich so einen Platz auf dem Sofa. „Willst du etwas zocken? Fernsehen? Musik hören? Was machst du sonst so nach der Schule?“ Louis schob seine Hand unter sein Kopfkissen, er schien nach etwas zu suchen. Als er es nicht finden konnte, warf er die Kissen ans andere Ende des Bettes und griff in den Spalt zwischen der Matratze und dem Bettgestell. Er schien es gefunden zu haben – was auch immer er gesucht hatte –, doch dann glitt es ihm aus der Hand und landete mit einem plumpen Geräusch auf dem Boden. „Verdammt“, fluchte er leise vor sich hin und lugte über die Matratze unter sein Bett. Harry war so vertieft darin, Louis beim Suchen zu beobachten, dass er vergaß, auf dessen Frage zu antworten. Wer hätte auch nicht dabei zugesehen, wie ein Junge seines Alters aus unerklärlichen Gründen unter sein Bett krabbelte? Als er darunter hervor kroch, war sein Shirt ganz staubig und er hatte etwas in der Hand. Es war eine Schachtel Zigaretten. „Ich sollte mal wieder staubsaugen“, bemerkte Louis, wischte dabei den Staub von seinem Oberkörper. Grinsend steckte er sich eine Zigarette an und fischte ein Feuerzeug aus der Schachtel. „Willst du?“ Er hatte schon eine hervor gezogen, da schüttelte Harry den Kopf. „Heute nicht.“ Er lächelte etwas verunsichert. „Okay, bleibt mehr für mich.“ Er krabbelte auf seinen Schreibtisch, setzte sich aufs Fensterbrett und rauchte im offenen Fenster. „Viel besser. Vor meiner Mutter muss man die Dinger gründlich verstecken.“ Er nahm noch einen Zug. „Also, was hast du gesagt, was du nach der Schule so machst?“ Er blies den Rauch nach draußen. „Ich … mache meine Hausaufgaben, mein Vater ist da ziemlich streng. Und dann sehe ich fern oder so.“ Harry war etwas unwohl, weil er nicht wusste, ob das so normal war oder er sich mit seiner Antwort gerade total zum Loser machte. Außerdem musste er immerzu auf die Kippe in Louis’ Hand starren. „Zockst du auch?“ „Nein, ich …“ Harry musste sich etwas einfallen lassen, das nicht so blöd klang wie Ich habe weder einen PC, noch ein Handy oder eine Spielekonsole. „… ich interessiere mich eigentlich nicht für solches Zeug.“ „Klar, du wärst ja nicht Harry, wenn du nicht auch noch ganz spezielle Hobbys hättest. Wofür interessierst du dich denn?“ „Ähm …“ Harry ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. „… Fußball und … Rockmusik. Aber ich bin nicht wirklich auf dem Laufenden bei beidem.“ „Spielst du Fußball?“ Er nahm noch einen tiefen Zug und schnippte die Asche weg. „Nicht mehr. Früher schon, aber ich hab aufgehört.“ „Warum denn? Dir muss man aber auch alles aus der Nase ziehen.“ „Pass auf, dass du dabei keinen Popel erwischst“, sagte Harry trocken. Louis sah ihn kurz verdattert an und lachte dann. „Du bist witzig. Ich wusste, dass in dir etwas steckt. Humor, meine ich – nicht Popel.“ Jetzt musste auch Harry lachen. Und es tat sehr gut, denn er wusste nicht, wann er sich das zuletzt erlaubt hatte. „Also …“ Louis schien immer noch eine Antwort zu erwarten. Harry dachte nach, was er sagen konnte. „Ich … hm, ich schätze, ich wollte es einfach nicht mehr. Ich war ohnehin nicht gut darin.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm gleichgültig und als hätte er nicht aufgehört zu spielen, seit sein Vater ihn zum ersten Mal vergewaltigt hatte und er vor Schmerzen kaum hatte laufen können. „Darf ich dich etwas sehr Persönliches fragen?“ „Fragen schon … nur eine Antwort kriegst du vielleicht nicht.“ Es tat gut, etwas schnippisch zu sein, denn zuhause konnte er sich das nicht erlauben. „Na gut. Woran liegt es, dass du keine Freunde hast und mit niemandem in der Schule redest? Ist das irgendeine soziale Störung oder willst du es einfach nicht?“ „Ich kann darüber nicht reden. Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann. Und selbst wenn ich es täte, könnte ich vielleicht trotzdem niemals darüber sprechen.“ „In dir steckt also noch mehr als Humor und Popel.“ Louis schmunzelte und Harry war froh, dass er es ihm nicht übel nahm und es stattdessen mit Humor nahm. „Viel mehr.“ Harry lächelte schüchtern. Er war froh, als Louis endlich die Zigarette ausdrückte und sie über dem Fenster – wahrscheinlich in der Regenrinne – versteckte. Jetzt musste er nämlich nicht länger darüber nachdenken, ob er das auch wollte oder doch nicht und was besser war. Er steckte das Feuerzeug wieder in die Schachtel und platzierte diese am Kopfende unter seiner Matratze. Anschließend schob er die Kissen wieder an das richtige Ende. „Darf ich dich jetzt auch etwas fragen?“ „Hast du schon, gerade eben.“ Er grinste. „Das heißt, ich bin wieder dran. Die Schwarze Kleidung, gefällt dir das oder steckt mehr dahinter?“ „Was?“ Harry war verwirrt. So etwas fragte sich Louis? „Na ja, bist du ein Emo oder so etwas?“ „Nein … nein. Ich denke, ich trage es, weil es mir gefällt.“ „Bin ich jetzt dran?“ „Wenn du schon so fragst, dann bin ich dran.“ Louis schien dieses Spielchen Spaß zu machen. „Gibst du mir deine Handynummer?“ Handynummer? Harry suchte schon wieder panisch nach einer Erklärung dafür, warum er ihm seine verdammte Handynummer nicht geben konnte. „Ich … ähh … äh …“ Scheiße! Sein Hirn wollte ihm einfach keine plausible Erklärung liefern. „Ich habe gar kein Handy.“ Er sah auf seine Hände. Die Reaktion von Louis wollte er gar nicht sehen. „Warum das denn nicht?“ „Mein Vater ist …“ ...tyrannisch, grausam, eigensinnig? „...altmodisch.“ Louis hob eine Braue an. „Gehört ihr zu einer merkwürdigen Sekte, die nichts von neuer Technik hält. Das würde einiges erklären.“ Harry lächelte. Er hätte diesen Ausweg gerne angenommen, aber er entschied sich dann doch für seine eigene Idee. „Mein Dad denkt, es täte mir nicht gut, wenn ich den ganzen Tag wie ein Zombie mit einem Handy herumlaufen würde und süchtig wäre nach irgendwelchen Apps oder Computerspielen oder irgendwelchen sonstigen Spielen. Deshalb habe ich kein Handy und keinen PC und keine Konsole.“ Harry wurde immer selbstsicherer mit seiner Lüge. „Er sagt, das lenkt mich zu sehr von der Schule ab.“ „Mann nennt das Smombie.“ „Was?“ Harry sah ihn fragend an. „Na Smombie. Smartphone, Zombie – Smombie.“ Es blieb kurz still, dann nickte Louis. „Dein Vater hat nicht ganz unrecht damit, manche werden echt süchtig und können an nichts anderes mehr denken und von nichts anderem reden und in ihrer Freizeit nichts anderes als das tun. Aber das hängt eben von der Erziehung ab. Meine Mutter gibt mir nur drei Stunden am Tag Internet, außer ich muss für die Schule etwas recherchieren. Das kannst du ja deinem Vater vorschlagen. Oder besser, du überredest erst deine Mutter, die kann ihn sicher besser um den Finger wickeln als du.“ „Hm, ja. Vielleicht.“ Harry wollte ihm nicht sagen, dass seine Mutter das längst nicht mehr hätte tun können. „Darf ich dich jetzt endlich auch mal etwas fragen?“, ergriff Harry nach kurzem Schweigen wieder das Wort. „Das war schon wieder eine Frage.“ Louis lachte, da flog ihm ein Sofakissen ins Gesicht. Er warf es zurück, Harry fing es auf. Louis wurde ernst, sagte das Folgende aber dennoch mit einem leichten Lächeln. „Okay, ja, ich bin schwul. Es ist ein offenes Geheimnis.“ „Äh...“ Harry fehlten die Worte. „Ich habe auch nicht viele Freunde seit ich es weiter erzählt habe. Eigentlich ist Niall mein einziger Freund geblieben. Die anderen melden sich kaum noch oder sind komisch zu mir. Ich kann es ihnen nicht mal wirklich übel nehmen, aber es ist verletzend.“ Harry sah ihn voller Mitleid an. „Ich dachte mir … zwei Außenseiter passen vielleicht gut zusammen.“ Louis lächelte unsicher und Harry lächelte zurück.
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Chapter Five
„Mit deinem Rücken … ist da eigentlich alles okay? Ich will nicht auch noch darüber reden, wie du vorhin hingefallen bist, aber der Ball in deinem Rücken … das hat so ausgesehen, als hätte es echt weh getan.“ „Ich hab nur etwas blöd geschlafen, da tat mir eben der Rücken weh“, winkte Harry ab. Er wurde immer besser im Lügen, auch wenn es ihm weh tat, seinen einzigen Freund schon in ihrem ersten richtigen Gespräch mit allem, was er sagte, zu belügen. Louis nickte. „Hey, wenn du willst, dann kannst du jederzeit auf meinem Sofa schlafen, wirklich.“ „Echt?“ Harry stutzte. Das hatte er überhaupt nicht erwartet. Jede Nacht auf diesem Sofa statt auf seiner blöden Matratze, das war traumhaft. Er würde sich zwar raus schleichen und wieder nachhause schleichen müssen, bevor sein Vater zurückkam, aber das war es bestimmt wert. Harry schüttelte über sich selbst innerlich den Kopf. Er konnte nicht jede Nacht hier schlafen, er wohnte schließlich nicht hier. „Klar. Ich meine, wenn du zuhause Stress hast oder so etwas. Das machen Freunde so.“ Er zuckte mit den Schultern. „Also sind wir jetzt Freunde?“ Harry wurde etwas mulmig. Er hatte schließlich nicht umsonst all die Jahre Freunde gemieden … und allgemein jede Art von Interaktion mit jemand anderem. Es war gefährlich für ihn und seinen sowieso schon beschissenen Ruf. „Wenn du das willst“, sagte Louis, so als wäre es ihm wichtig, dass sie beide dasselbe wollten. „Ja, schon … ich hab nur kein Sofa, auf dem ich dich schlafen lassen kann, wenn du es brauchst. Und auch sonst solltest du nicht allzu viel von mir erwarten, ich hab schon lange keine Freunde gehabt.“ „Das ist okay. Wir hängen einfach miteinander ein bisschen ab. Wir können uns abends auf dem Spielplatz sehen, falls du sonst keine Zeit hast.“ „Das fände ich besser. Wegen meinem Dad und den Hausaufgaben.“ „Dein Dad ist echt streng. Erzähl mir mehr von ihm.“ Louis legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. „Er ist … etwas eigensinnig, aber mit allem, was er mir verbietet, will er nur, dass es mir gut geht. Er meint es nicht böse, er weiß nur manchmal nicht weiter. Er muss viel arbeiten. Von zehn Uhr am Abend bis sechs Uhr am Morgen.Und zweimal pro Woche am Nachmittag.“ Ich muss um sieben zuhause sein. Wenn er merkt, dass ich weg war, macht er mir das Leben zur Hölle. „Was ist mit deiner Mutter? Arbeitet sie nicht?“ Harry bekam einen Kloß im Hals. Jetzt musste er sich schon wieder eine Lüge überlegen. Na ja, er versuchte es mit der Wahrheit, aber er ließ einfach nur ein Detail aus. „Meine Mom ist … Künstlerin. Sie malt viel, aber es ist nicht sehr rentabel. Mein Dad will aber, dass sie tun kann, was ihr Spaß macht. Deshalb arbeitet er eben mehr.“ Harry zupfte an einem losen Faden an dem Sitzpolster des Sofas herum und sah Louis gar nicht an. Er hoffte, dass Louis ihm glaubte. „Das ist echt cool. Dein Vater hat ja doch ein Herz.“ Harry lächelte innerlich über seine nächste gelungene Lüge, auch wenn er sich schlecht dabei fühlte, auch noch seine Mutter in seine Lügen zu verstricken. Gleichzeitig musste er sich sein Leben vorstellen, wie Louis nun dachte, dass es wäre. Sein Vater schuftete rund um die Uhr, seine Mom machte etwas zu essen, wenn er von der Schule nachhause kam und bepinselte dann den restlichen Nachmittag bis zum Abend ihre Leinwände mit einzigartigen Ideen, hörte dabei Rockmusik. Harry würde in ihrem Atelier auf der Chaiselounge liegen, seine Hausaufgaben machen und seine Mutter beim Malen beobachten. Wenn er fertig war, durfte er auch ein bisschen malen. Was für ein Quatsch. Wenn seine Mutter nicht tot wäre, dann wäre es ihm nur halb so wichtig, dass sie lebte. So war es immer. Man konnte nichts dagegen tun. Jeder Mensch war eine Selbstverständlichkeit, bis er plötzlich weg war und dann fühlt man sich schlecht, weil man ihn nicht genug wertgeschätzt hatte. „Alles okay, Harry?“ „Ja, ich bin nur … ich bin nur so müde, weil ich letzte Nacht so schlecht geschlafen habe.“ „Loooouuis!“, rief seine Mutter von unten, bevor er etwas dazu sagen konnte. Er öffnete die Tür. „Was ist?“ „Abendessen ist fertig.“ „Komm, Harry.“ Er schloss die Tür hinter ihm und sie gingen nach unten. In der hinteren Ecke stand ein Tisch, eine Eckbank und auf der anderen Seite noch drei weitere Stühle. Zwei dampfende Töpfe und eine Schüssel Salat standen darauf, außerdem vier Teller und Besteck. „Ich hoffe, du hast Hunger, Harry. Ich habe für dich mit gedeckt.“ „Danke“, murmelte er nur. An solche Freundlichkeiten würde er sich noch gewöhnen müssen.   Er setzte sich auf die Eckbank, aber da rief eine kleine spitze Stimme schon: „Da sitze ich immer!“ Ein kleines Mädchen mit hellbraunem Haar und einer Barbiepuppe rannte in die Küche und verscheuchte Harry von seinem Platz. Er rutschte einen Platz weiter, so dass er nun Louis gegenüber saß. Das kleine Mädchen stupste ihm in die Seite. „Wie heißt du?“ „Ich bin Harry.“ Er lächelte leicht. „Du hast hübsche Locken, Harry. So wie meine Barbie. Sie heißt Mona.“ „Und wie heißt du?“, fragte er nach. „Lottie.“ „Darf ich dich etwas fragen, Harry?“, wandte sich Johannah an den Jungen und schöpfte ihm etwas Spaghetti auf den Teller. „Ja, sicher“, antwortete er, da bekam er erst das Kopfschütteln von Louis mit, das ihm eindeutig ein Nein vermitteln sollte. „Wie stehst du denn zum Rauchen?“ „Musst du schon wieder davon anfangen, Mom? Ich bin alt genug, um für mich selbst zu entscheiden. Ich bin kein Kind mehr.“ Johannah sah Harry an ohne seinen Sohn überhaupt zu beachten. Die Regeln der Solidarität schrieben vor, dass er jetzt Louis zustimmte, aber er wollte auch Johannah gefallen. Sie hatte so eine warme Ausstrahlung. „Ich … ich denke, man sollte es schon einmal ausprobieren.“ Harry wusste nicht, was er noch sagen sollte. „Aber man sollte es nicht aus den falschen Gründen tun und man sollte sich bewusst sein, wie schädlich das ist.“ Es war schwer, seine eigene Meinung mitzuteilen, wenn man eigentlich gar keine hatte. „Siehst du, er findet auch, dass man es mal ausprobieren sollte.“ „Du probierst ja nicht, du rauchst.“ „Aber ich weiß ja, wie schädlich es ist, ich bin ja nicht blöd.“ „Die streiten sich schon die ganze Zeit darüber“, flüsterte Lottie. „Schon seit mehr als einer Woche.“ Harry lächelte sie an und aß seine Spaghetti auf ohne weiter auf Louis und seine Mutter zu achten. Er wollte sich nicht in ihre Streitereien einmischen. Irgendwann ging es nur noch darum, dass Louis kein Taschengeld mehr bekommen sollte, weil Johannah es nicht einsah, seinen Lungenkrebs zu finanzieren. Louis meinte daraufhin nur, er würde sich seine Kippen sowieso über den einen oder anderen Weg beschaffen können. „Geh in dein Zimmer, Louis.“ Man konnte Johannah deutlich ansehen, dass sie das Streiten leid war. Ihr Gesicht zeigte Wut und Verzweiflung. „Von mir aus. Komm, Harry.“ Er zögerte kurz, stand dann aber auf, bedankte sich noch kleinlaut für das Essen und ging dann. Louis warf sich auf sein Bett und warf ein Kissen in die Ecke, in der sein Fernseher stand. „Ich kann gehen, wenn du willst.“ Harry wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Und ehrlich gesagt machte es ihm ein wenig Angst, wie wütend Louis zu sein schien. „Nein, komm her.“ Er klopfte neben sich auf die Matratze. „Leg dich zu mir.“ Da wurde ihm erst recht unwohl, trotzdem legte er sich zu Louis auf das Bett. „Freundschaftsregel Nummer zwei: Freunde müssen sich gegenseitig trösten.“ Louis lächelte leicht. „Okay. Und wie geht das?“ „Ich erzähl dir mein Problem und du hörst mir zu und gibst mir dann einen Ratschlag, wie ich es lösen könnte. Oder du munterst mich auf oder lenkst mich davon ab. Oder du erzählst mir eins von deinen Problemen, dann fühle ich mich nicht mehr so allein damit.“ „Okay, das könnte ich hinkriegen. Erzähl mir von deinem Problem.“ „Die Sache ist die: meine Mom denkt, ich rauche einfach so, weil es mir Spaß macht, dabei habe ich wirklich Stress in der Schule und ich habe eigentlich niemanden, mit dem ich reden kann.“ „Was ist mit Niall?“, fragte Harry leise und sah kurz zu ihm hinüber, dann wieder an die Zimmerdecke. „Mit ihm kann ich nicht über solche Sachen reden. Sein Leben läuft so perfekt, dass er wahrscheinlich gar nicht weiß, wie man mit Problemen fertig wird. Er ist ein guter Freund, er hat Humor und erzählt immer blöde Witze, er schafft es immer, mich zum Lachen zu bringen, aber ich kann mit ihm nicht über ernste Dinge reden, weißt du?“ „Keine Ahnung, ob ich das verstehe, aber okay, red weiter.“ „Also es war so: ich habe gemerkt, dass ich schwul bin, dann habe ich angefangen, es meinen engsten Freunden zu erzählen. Die sind mit dann immer mehr aus dem Weg gegangen. Den meisten Typen ist es einfach unangenehm, mit einem Schwulen befreundet zu sein. Wie auch immer, irgendeiner konnte die Klappe nicht halten und so hat sich das in der ganzen Oberstufe verbreitet. Da blieben mir nur zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins: ich leugne es und muss so tun, als wäre es nicht so und muss die Sticheleien über mich ergehen lassen, bis ich mir eine Freundin suche, damit die Leute aufhören. Oder Möglichkeit zwei: ich sage, es ist wahr, werde total gemobbt und tue so, als hätte genug Selbstbewusstsein, dass mir das nichts ausmacht.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich habe Möglichkeit zwei gewählt, aber es ist echt hart jeden Tag dumme Kommentare zu hören und so zu tun, als wäre es mir egal, was die Leute sagen und denken. Aber das ist es nicht. Eigentlich finde ich es sehr verletzend und ich frage mich, warum die Leute nicht erwachsen werden und aufhören können, Schwulsein als eine Krankheit zu betrachten.“ „Als du heute Mittag den Jungen in der Cafeteria zur Schnecke gemacht hast, dachte ich schon, du bist selbstbewusst.“ „Ich muss so tun, als wäre es so, sonst halten die mich für eine kleine Schwuchtel, die sich nicht durchsetzen kann und dann würde es nur schlimmer werden.“ „Wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe, sage ich mir: Ich bin stark und ich halte durch. Jeden Morgen“, flüsterte Harry. „Hilft es dir?“ Louis sah Harry an, doch dieser starrte weiterhin an die Decke. „Na ja, ich fühle mich nicht stark. Aber ich halte durch. Wenn du dir sagst, dass nichts, was jemand zu dir sagt, dich runterziehen kann, dann ist es vielleicht so. Und wenn du deiner Mom erzählst, dass du ein paar Probleme bewältigen musst, dann wird sie es verstehen.“ „Meinst du?“ „Auf jeden Fall.“ „Danke, Harry.“ Louis hob die Faust, Harry starrte sie verwirrt an. „Los, Faust gegen Faust. Das macht man so. Du musst noch viel lernen.“ Harry nickte grinsend und stieß mit der Faust gegen seine. „Freundschaftsregel Nummer drei: Du musst mir immer zustimmen. Egal, wie aufdringlich meine Mom ist, und egal, was du wirklich denkst.“ „Okay, nächstes Mal stimme ich dir zu. Egal bei was.“ Es blieb wieder kurz still. „Findest du, ich sollte jetzt mit meiner Mom reden?“ „Ja.“ Er nickte. „Falls es länger dauert, kannst du ja ein bisschen fernsehen. Die Fernbedienung liegt bestimmt irgendwo hier herum. Oder du kannst Musik hören. Wonach dir ist.“ „Okay.“ Louis zog die Tür zu und Harry war allein. Er sah auf die Uhr. Kurz nach sechs. Er würde bald nachhause müssen, weil sein Dad von der Arbeit kam. Aber er war so müde und das Bett von Louis war so, so gemütlich. Er sah dabei zu, wie die Sekunden vorbei zogen. Nicht einschlafen, nicht einschlafen! Aber irgendwann war es zu schwer, dagegen anzukämpfen. Im Halbschlaf hörte er noch, wie Louis wieder das Zimmer betrat und er wollte ihn daran erinnern, ihn rechtzeitig aufzuwecken, aber er war zu müde. Viel zu müde.
Als er aufwachte, war es schon nach zehn Uhr. Er saß sofort kerzengerade im Bett. Nach zehn! Verdammte Scheiße! „Fuck, fuck, fuck.“ „Was ist?“, murmelte Louis. „Ich hätte vor über drei Stunden zuhause sein müssen. Mein Vater bringt mich um!“ „Beruhige dich. Ich dachte, er arbeitet ab zehn Uhr am Abend.“ „Schon, aber …“ „Er ist gar nicht zuhause, er kann dich also nicht umbringen. Du kannst ganz entspannt nachhause gehen, dann bringt er dich erst morgen Früh um.“ „Viel besser“, gab Harry sarkastisch von sich. „Dann kann ich auch genauso gut hier schlafen.“ Das hingegen war ernst gemeint. „Wird es deiner Mom nicht auffallen?“ „Nein, sie ist immer sehr vertieft in ihre Kunst.“ Diese Lüge ging Harry erstaunlich leicht über die Lippen. „Manchmal merkt sie gar nicht, dass schon Abend ist.“ Er drehte sich auf die Seite. „Also wenn du willst, kannst du schon hier schlafen.“ „Danke. Kannst du einen Wecker für halb sechs stellen? Dann kann ich noch nachhause gehen und mich umziehen, bevor ich ...“ ...zur Schule gehe, wollte Harry eigentlich sagen, aber stattdessen sagte er nach kurzem Zögern: „... bevor mein Dad mich umbringt.“ Louis sagte nichts. Wahrscheinlich stellte er gerade den Wecker in seinem Handy. „Ich habe kein Handy, ich kann ihm nicht einmal sagen, wo ich bin und dass es mir gut geht und dass er sich keine Sorgen machen muss.“ „Ein Grund mehr, warum du ein Handy haben solltest.“ Louis’ Grinsen war deutlich zu hören, aber Harry konnte sich gar nicht darauf freuen, was ihm bevor stand. Er hatte noch nie so Angst vor einer Bestrafung gehabt, wirklich nicht. Er musste die Zähne zusammen beißen, um nicht zu weinen. Louis berührte ihn an der Schulter, Harry zuckte zurück und setzte sich auf. „Ich schlafe lieber auf dem Sofa“, nuschelte er und stellte die Schulunterlagen und alles, was sich sonst noch auf dem Sofa befand, auf den Boden. Louis reichte ihm ein Kissen und zog unter seinem Bett eine Decke hervor. „Ist es dir unangenehm, mit mir in einem Bett zu schlafen?“ Harry musste kurz über seine Worte nachdenken, um zu verstehen, was er damit meinte. „Ja, aber nicht, weil du schwul bist. Ich habe etwas gegen Körperkontakt.“ „Sicher, dass du nicht doch irgendeine soziale Verhaltensstörung hast?“ Louis grinste. Harry war froh, dass er nicht verärgert war.
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Chapter Six
Nein! Dad, nein! Stopp! Nicht..! Nein, NEIN!
„Harry … Harry, wach auf!“ Er schlug im Schlaf mit den Händen um sich, Louis versuchte, seine Arme still zu halten. „Harry!“ Endlich riss er die Augen auf. Er atmete ganz schnell und zittrig, einen Moment lang schien er verwirrt, dann setzte er sich auf und holte ein paarmal tief Luft. Louis kniete neben dem Sofa und sah ihn besorgt an. „Es war nur ein Traum.“ Wenn es doch nur so wäre, schoss es Harry durch den Kopf. Er nickte nur. „Nur ein Traum.“ Komisch, wie echt ihm der Schmerz vorgekommen war und wie die Stimme seines Vaters durch seinen Kopf hallte, so als hätte er sie wirklich gehört. „Weinst du?“, fragte Louis leise. Verdammt! „Nein.“ Harry wischte sich ärgerlich über die Wangen, legte sich wieder hin und drehte sich um. „Ist alles in Ordnung, Harry?“ „Geh einfach wieder schlafen und tu so, als hättest du mich nicht heulen gesehen.“ „Bist du dir sicher?“ „Ja.“ Louis musste sehr gegen den Drang ankämpfen, ihn tröstend an der Schulter zu berühren, stand aber auf und legte sich wieder in sein Bett. Harry schlief noch die ganze restliche Nacht etwas unruhig und auch Louis konnte auch keinen Schlaf finden, weil er sich um seinen neuen Freund so sorgte. Am Morgen klingelte der Wecker, den Louis für ihn eingestellt hatte. Er war sofort hellwach und saß aufrecht auf dem Sofa, während Louis nur im Halbschlaf auf seinem Handy herum tippte, damit dieses nervige Klingeln aufhörte. Harry zog seine Schuhe über, seine Klamotten hatte er gar nicht ausgezogen. Es war ihm unangenehm, sich vor Louis auszuziehen, aber seine Kleidung war nun verschwitzt und er fühlte sich von sich selbst etwas angeekelt. Er nahm seinen Rucksack und seinen Sportbeutel und verabschiedete sich knapp von Louis, der nur mit einem „Hmm“ antwortete. Harry beeilte sich, nachhause zu kommen, obwohl er eigentlich am liebsten weit weggerannt wäre. Er wollte doch eigentlich gar nicht nachhause. Im Haus brannte Licht. Hatte Dad es etwa vergessen, auszuschalten, bevor er zur Arbeit gegangen war? Er war doch nicht etwa früher von der Arbeit nachhause gekommen? Harry wurde ganz übel bei dem Gedanken daran, dass er ihn jetzt antreffen würde. In welcher Stimmung würde er sein? Klar, wütend. Nur … wie wütend? Seine Hand zitterte so sehr, dass er kaum das Schlüsselloch traf. Er zwang sich, durchzuatmen. Er war stark, er konnte das schaffen. Jetzt war es schon zu spät, es sich anders zu überlegen. Er stellte seine Taschen neben der Haustür ab. „Dad?“, rief er mit zitternder Stimme in das Haus hinein. „Harryyyyy!“ Oh nein. Harry merkte es sofort, nach nur diesem einen Wort – sein Vater hatte sich betrunken. Er lief ins Wohnzimmer und sah ihn sich an, um einzuschätzen, wie betrunken er war. Er saß auf dem Sofa, wobei man es kaum noch „sitzen“ nennen konnte, eher lag er dort und hielt in seiner Hand ein Glas voll bernsteinfarbener Flüssigkeit. Seine Augen waren glasig und er hatte ein bescheuertes Grinsen auf den Lippen, das seinem Sohn eine Riesenangst einjagte. „Komm her, Harry.“ Er fuchtelte mit der freien Hand herum, um ihn zum Herkommen zu bewegen. Er schien viel zu betrunken zu sein, als dass er überhaupt noch gerade stehen hätte können, also ging Harry halbwegs beruhigt auf ihn zu. Er zog ihn auf seinen Schoß und legte unerwartet seine Arme fest um ihn. Er roch über und über nach Alkohol. „Ich bin froh, dass du wieder gekommen bist“, nuschelte er, „Ich dachte schon, du wärst weggelaufen. Du würdest doch nicht weglaufen, oder, Harry?“ „Nein, Dad.“ Harry vergrub den Kopf an seiner Schulter. Er mochte diese Seite seines Vaters viel lieber als die nüchterne Fassette, auch wenn das sehr verkehrt klang. „Ich würde dich nicht alleine lassen.“ Das traurige an Harrys Worten war, dass er sie tatsächlich ernst meinte. Selbst wenn er es gewollt hätte, wäre er nicht von zuhause weggelaufen. Denn auch wenn sein Dad oft falsch handelte, war er das einzige, was Harry hatte. Er war zwar nicht einmal sein leiblicher Vater, aber er liebte ihn als wäre er es. Er hatte nichts außer ihm im Leben und sein Vater hatte nichts außer ihn. Sie brauchten sich. „Geh in dein Zimmer und mach deine Hausaufgaben. Wir reden, wenn ich nüchtern bin. Du bleibst heute von der Schule zuhause, ich kann dich nicht fahren.“ „Ich kann doch mit dem Bus fahren.“ „Nein. Geh in dein Zimmer.“ Harry stand auf, er war froh, dass ihm noch ein paar Stunden blieben, auch wenn er es viel lieber schon hinter sich gebracht hätte. Schließlich wusste er, was ihn erwartete. Er setzte sich in sein Zimmer und machte auf dem Boden die Hausaufgaben von gestern. Es dauerte eine Dreiviertelstunde, danach ging er duschen und dann wartete er nur noch. „Zieh die Hose wieder hoch.“ Harry kniff die Augen zusammen, machte aber, was sein Dad verlangte. „Los!“ Er stand auf und schloss die Hose. Nicht weinen, nicht weinen! Sein Vater zog ihn am Arm hinter sich die Treppe nach oben. Harry war irritiert. Er hatte eher erwartet, seinem Vater zu helfen, die Matratze aus seinem Zimmer zu tragen. Oben zog er ihn den Flur entlang und blieb vor der Luke des Dachbodens stehen. Er zog sie mit dem Faden auf und schob die Holztreppe aus. „Los.“ Er drängte Harry gegen die Stufen. „Was soll ich da oben?“, fragte Harry leise. „Frag nicht. Los, geh schon“, forderte er ihn erneut auf. Als Harry nicht sofort reagierte und stattdessen nur nach oben in den Dachboden schaute, schubste sein Vater ihn. Er wollte sich auffangen, aber seine Arme glitten zwischen den Treppen hindurch. Er stieß sich das Schienbein und die Rippen an, aber er traute sich nicht, sich zu beschweren und krabbelte nur an den Stufen nach oben. Sein Vater klappte sie einfach ein und schob die Luke zu. Harry sah mit großen Augen dabei zu. Er hatte ihn in den Dachboden gesperrt. Er hatte... Harry konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn er konnte kaum atmen. Die Tränen strömten über seine Wangen. Er zog die Beine an den Körper und schlang die Arme um sie. Er hatte ihn eingesperrt. Und er hatte ihn geschubst. Normalerweise ging er nicht so grob mit ihm um. Es lag wahrscheinlich am Restalkohol. Er verletzte ihn eigentlich nie absichtlich, nicht einmal, wenn er wütend war. Er fasste sich an die Rippe, die noch schmerzend pochte. Auch sein Schienbein tat noch etwas weh. Er sah sich um. Er war eigentlich noch nie so richtig hier oben gewesen. Und wenn, dann nur um eine Kiste Weihnachtsdeko hinauf zu stellen oder herunter zu holen. Der Staub lag in der Luft wie ein dicker Nebel und tanzte im Licht des winzigen Dachfensters, das etwas Licht in den Raum warf. Es roch sehr … alt. Er konnte den Geruch nicht anders beschreiben. Es roch eben alt. Überall standen Kisten und Kartons. Zwei davon waren Weihnachtsdeko, in einer befanden sich alte Halloweenkostüme und in denen daneben waren Harrys alte Spielsachen verstaut. Von den restlichen wusste er es nicht, aber er war zu träge, um jetzt aufzustehen und nachzusehen. Außerdem befürchtete er, etwas zu finden, was er nicht sehen sollte. Erinnerungen an seine Mom, alte Fotos oder Dinge, die ihr gehört hatten. Also saß er nur da. Er saß nur da. Minutenlang saß er da. Stundenlang saß er da. Er saß einfach nur neben der Luke auf dem Boden und wartete darauf, dass sich diese öffnete. Ihm war kalt, denn das Dach hatte keine gute Wärmedämmung. Er zog die Ärmel über seine Hände und wog sich langsam vor und zurück. Und saß weiterhin nur da. Die Zeit schien nicht zu vergehen. Es schien nur immer kälter zu werden. Was Louis wohl gerade tat? Er saß bestimmt im Unterricht neben Niall, scherzte mit ihm als wäre die Welt kein grausamer Ort, oder sie saßen in der Mittagspause, aßen und redeten. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Elf, zwölf, vielleicht schon zwei oder noch später? Ob Louis wohl aufgefallen war, dass er nicht in der Schule war? Er sehnte sich so sehr danach, jetzt bei Louis zu sein. Das war so falsch. Er kannte ihn doch kaum, und Louis kannte ihn erst recht nicht. Harry tat es plötzlich so sehr leid, dass er ihn so oft belogen hatte. Wieder und wieder und wieder. Er hätte ihm gerne ein paar wahre Dinge über ihn erzählt, aber was sollte er schon von sich erzählen? Dass seine Mom tot war? Dass er wegen des Verhalten seines Vaters nie darüber hatte hinweg kommen können? Was sein Vater ihm antat? Dass er Depressionen und Ängste hatte und fürchtete, irgendwann durchzudrehen? Dass er seinen Vater trotz allem liebte, obwohl es total verrückt und absurd war? Es gab nichts über ihn, das er Louis hätte erzählen können. Sein Leben war so durch und durch deprimierend. Es tröstete ihn aber ein wenig, dass auch Louis mit ein paar Problemen zu kämpfen hatte. Die Sache mit dem Schwulsein, das mit dem Rauchen und seiner Mom. Das war wirklich tröstlich, auf eine Weise, die Harry nicht verstand. Er schien endgültig durchzudrehen, denn er stellte sich irgendwann vor, wie Louis ihm gegenüber im Schneidersitz saß und ihn ansah. „Hey, Harry.“ Was für eine dumme Illusion. Er hatte wohl zu viel Staub eingeatmet. „Hallo“, flüsterte er vor sich hin. Er schien so echt, dass es ihn einschüchterte. Er wusste schließlich, dass er nicht hier bei ihm war. „Warum sitzt du so alleine hier oben? Es ist doch schrecklich kalt.“ Es war nur eine Halluzination, also konnte er es ihm ruhig anvertrauen. „Mein Dad hat mich eingesperrt.“ „Weil du nicht nachhause gekommen bist? Das tut mir so leid.“ Er legte den Kopf schief, in seinen Augen schimmerte Mitleid. „Das ist okay. Ich fand es schön, bei dir zu schlafen.“ Er zögerte kurz. „Ich habe nämlich kein Bett mehr. Deshalb tat mir auch der Rücken so weh.“ Louis öffnete den Mund, er schien aber nicht zu wissen, was er dazu sagen sollte. Der Ausdruck in seinen Augen wurde immer trauriger. „Es tut mir so leid, dass ich dich angelogen habe, aber ich fand keinen Weg, es dir zu sagen.“ „Das ist schon okay. Ich verstehe es, wenn du über bestimmte Dinge nicht reden kannst. Manchmal ist das nicht so leicht. Es ist mir auch nicht leicht gefallen, dir diese Sachen über mich anzuvertrauen. Aber ich wollte von Anfang an ehrlich sein, damit du keinen falschen Eindruck von mir bekommst.“ Na toll, jetzt fühlte er sich nur noch schlechter wegen seiner Lügen. Wieso sagte dieser Halluzinations-Louis nur so dumme Sachen zu ihm. Er machte ihm ein ganz schlechtes Gewissen. „Ich wollte außerdem nicht eine Freundschaft mit dir aufbauen und dir dann sagen, dass ich schwul bin, damit sie dann daran zerbricht wie meine anderen Freundschaften. Ich wollte, dass du dich dafür entscheiden kannst, mit mir befreundet zu sein.“ Harry nickte verstehend, das machte wirklich Sinn. „Ich wollte nicht, dass du mir etwas bedeutest und du mich dann sitzen lässt. Das hätte mich zu sehr verletzt, weißt du?“ „Ja, ich weiß. Aber ich hoffe, du verstehst, dass es viele Dinge gibt, wofür ich keine Worte finden kann. Selbst wenn, würde es mich wahrscheinlich mehr Mut kosten als ich habe, sie auch auszusprechen.“ „Schon okay, ich kann warten, bis du dich dazu bereit fühlst.“ Harry lächelte ihn an. Vielleicht war dieser Louis doch nicht so schlecht. Auch wenn er nicht der wahre Louis war. Er hoffte, irgendwann auch mit dem echten Louis so offen reden zu können, aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Ein belustigtes Schnauben entwich Harrys Mund. „Was ist denn so witzig?“, fragte Louis nach und rutschte näher an ihn heran. „Ich dachte zuerst nicht, dass du wirklich mit mir befreundet sein willst. Ich dachte nicht, dass überhaupt irgendjemand mein Freund sein will. Ich dachte, du willst nur Dinge über mich herausfinden, die du dann anderen Leuten erzählen und über die du dich dann lustig machen kannst.“ Irgendwie wich ihm dann doch das Lächeln aus dem Gesicht und er sah auf den staubigen Holzboden. „Und auch wenn du mir viel von dir erzählt hast, kann ich das Gefühl immer noch nicht ganz loswerden.“ Er sah ihm unsicher in die Augen und er sah in seine. „Vielleicht kannst du mir bald mehr vertrauen.“ Seine Gestalt verschwand im nichts und zurück blieb die Säule aus Licht, die von der Decke herab schien. Der Staub tanzte weiter vor sich hin. Es war, als hätte es das Gespräch mit Louis nicht gegeben, trotzdem fühlte er sich ihm jetzt sehr viel näher. Die restliche Zeit, die er dort oben verbrachte, kam ihm nicht mehr ganz so lange vor. Er musste ganz lange über das „Gespräch“ mit Louis nach und darüber ob er sich Sorgen machen sollte, weil er sich solche merkwürdigen Sachen einbildete. Wahrscheinlich lag es aber wirklich nur an der schlechten Luft oben im Dachboden. Harry erschreckte sich etwas, als das Geräusch der sich öffnenden Luke die Stille durchbrach. Sein Vater klappte die Treppe aus und forderte ihn mit ruhigem, entspannten Gesichtsausdruck dazu auf, herunter zu kommen. Er kletterte hinunter und umarmte seinen Vater fest. „Verstehst du, warum ich das getan habe? Du hattest lange Zeit, darüber nachzudenken.“ Harry schwieg. Nein, er hatte keine Ahnung. Viel mehr hatte ihn das Gespräch mit Louis beschäftigt. Sein Dad schob ihn von sich und er schüttelte als Antwort den Kopf. „Ich habe das gemacht, weil ich letzte Nacht besorgt war und nicht wusste, wo du warst. Ich musste das Gefühl von Kontrolle haben. Ich musste mir sicher sein, wo du bist, wenn auch nur für ein paar Stunden. Und wenn du wieder gehst, ohne mir zu sagen wohin, dann werde ich das wieder tun.“ Er klappte die Treppe ein und schloss die Luke. Harry war nur froh, dass es jetzt vorbei war und er hoffte, dass er das nicht noch einmal durchmachen musste. Obwohl er sich merkwürdigerweise nach einem weiteren dieser Gespräche mit Louis sehnte. Nicht nach dem echten Louis, sondern wirklich dem Louis da oben im Dachboden, den er sich eigentlich nur eingebildet hatte. Aber gerade das war ja das Gute an ihm. Er hatte ihn sich nur eingebildet und deshalb konnte er ihm auch alles erzählen, was er keiner echten Person sagen konnte. „Jetzt erzähl mir, wo du warst.“ „Ich war bei einem neuen Freund. Er hat mich spontan zu sich eingeladen und dann bin ich eingeschlafen.“ Harry sah auf seine Hände. Er befürchtete mehr. „Wo?“ „Bei ihm, auf seinem Bett.“ „Ich habe dir verboten, in einem Bett zu schlafen. Nicht nur in deinem.“ „Es wird nicht noch einmal passieren.“ Harry hatte Angst vor mehr Strafen. „Ich bin nicht mehr böse Harry. Aber dein Freund … ich hoffe für ihn, dass du deinen Mund halten kannst.“ „Ja, Dad.“ Er schluckte. „Geh in dein Zimmer.“ Harry musste fast weinen, als er seine Tür öffnete. Seine Matratze war verschwunden. Er dachte, er hätte seine Strafe bereits abgesessen. Dem war wohl nicht so. Die eigentliche Strafe würde wohl erst heute Nacht auf ihn zukommen.
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Chapter Seven
Auf dem Boden zu schlafen war ätzend. Richtig ätzend. Harry hätte viel lieber noch eine Nacht auf dem Sofa von Louis geschlafen. Sein Dad schloss neuerdings die Wohnzimmertür ab und die Tür zu seinem Schlafzimmer. Und weder die Küchentheke noch die Badewanne kamen für Harry als Bett infrage. Er lag auf dem Boden neben der Heizung, die Bettdecke unter sich und vermisste sein Bett. Wie hatte er nur in so kurzer Zeit so viel Mist bauen können? Nicht einmal eine Woche zuvor stand in seinem Zimmer wenigstens noch ein Bett und nun war da nichts mehr. Er drehte sich herum. Es war einfach alles ungemütlich. Wie er sich auch hinlegte, es drückte und schmerzte, daran konnte auch die Decke nichts ändern. Seufzend stand er auf, zog seinen Hoodie und die Schuhe an und ging zum Spielplatz. Irgendwie erwartete er, dass auch Louis kam, gleichzeitig fürchtete er sich davor, die Fragen beantworten zu müssen, die er stellen würde. Louis stellte so schrecklich viele Fragen. Dass er ihn erwartete, irritierte ihn selbst ein wenig. Sie kannten sich so gut wie gar nicht und Harry tat es nicht gut, sich emotional an jemanden zu binden. Das machte ihn nur noch verletzlicher, schwach. Aber was sollte er tun? Er wünschte sich doch so sehr einen Freund, auch wenn es ihn mit Angst und Schrecken erfüllte. Diese ganzen widersprüchlichen Gefühle in ihm brachten seinen Kopf an den Rand der Verzweiflung. Er liebte und hasste seinen Vater, war hin und her gerissen wegen der Freundschaft mit Louis … er brauchte dringend jemanden zum Reden. „Wenn ich mir dich vorstelle, dann müsstest du eigentlich da sein“, flüsterte er und sah zu der leeren Schaukel, wo er sich den Louis aus seiner Halluzination her wünschte. Es klappte nicht. Irgendetwas in ihm fand es absurd und unmöglich. Nur ein dummes Hirngespinst. „Wenn du da wärst … ich wünschte du wärst da, denn ich habe Angst vor meinen Gefühlen und ich brauche so einen Rat wie den, den du mir gegeben hast. Ich brauche einen Freund, der für mich da ist und ich wünschte, er wäre echt, aber wenn ich mit einer Illusion leben muss, dann ist es auch okay, wenn ich doch nur jemanden habe, mit dem ich reden kann.“ Harry stand auf und schlurfte durch den Kies, um die Stille zu durchbrechen. Er drehte noch durch, jetzt sprach er schon mit jemandem, den es nur in seinem Kopf gab, also eigentlich mit sich selbst. Er hockte sich auf den Boden und schlang die Arme um seine Beine. Es war alles so verrückt, Harry wünschte sich aus seinem Kopf heraus. Er konnte nicht klar denken und das konnte selbst die Frische Luft nicht ändern. Er legte sich in das Gras. Das erste, was er dabei dachte, war merkwürdigerweise, dass es so viel weicher war als der Boden in seinem Zimmer. Er sah nach oben in den Himmel, wo zwischen ein paar Wolken einzelne Sterne aufblitzten. Wenn seine Mom doch nur hier wäre. Sie hätte ihm weiterhelfen können. Sie hatte immer alle Probleme lösen können. So einen durch und durch positiven Menschen wie sie gab es nur einmal auf der Welt, eine unverbesserliche Optimistin. Auf dem Friedhof war es dunkel, weil es weit und breit keine Laternen gab, aber Harry konnte das richtige Grab problemlos finden. Er kam viel zu selten her. Die Blumen sahen welk aus, soweit er das beurteilen konnte. „Ich weiß nicht, ob ich an Geister glauben soll, Mom, aber … ich wünschte, du könntest mir jetzt von irgendwo her zuhören. Noch besser wäre es natürlich, wenn du wirklich da wärst.“ Seine Stimme brach und er musste weinen. „Es ist alles viel zu kompliziert geworden und ich schaffe es nicht mehr. Du fehlst mir zur Zeit so, ich kann es kaum ertragen. Bald ist es fünf Jahre her. Wie konntest du mich bloß verlassen, wie meine leibliche Mom? Ich brauche doch eine Mom.“ Selbst nach all der Zeit konnte er das Gefühl nicht ertragen, dass sie nicht mehr da war. „Es fühlt sich an, als hättest du mich im Stich gelassen, dabei weiß ich, dass es nicht deine Schuld war. Aber wem soll ich sonst die Schuld geben? Es ist so schwer, es zuzulassen. Das Gefühl, dass du weg bist und nie wieder kommst. Das hat alles so sehr verändert. Ich wünschte, ich könnte dich für all das hassen, was dadurch passiert ist, aber ich kann es nicht. Ich will nur, dass das alles nicht passiert wäre. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, ich würde die Zeit zurück drehen und dich aufhalten.“ Es wurde langsam kalt und Harry begann zu frieren. „Ich werde jetzt gehen, aber ich komme spätestens in drei Wochen wieder.“ Harry schlief sitzend mit der Decke um sich gewickelt, den Rücken hatte er an die Heizung gelehnt, denn es wurde immer kühler. Wenigstens diese blöde Heizung konnte sein Vater ihm nicht nehmen. Er sein Kopf war nach hinten an die Wand gesunken, denn sein Kissen nutzte er zum Sitzen. Am Morgen war sein Nacken ganz verspannt. Viel geschlafen hatte er auch nicht. Er hatte zu lange über ihn und Louis nachgedacht und über das, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Er hatte mit Louis abgehangen, bei ihm geschlafen und er hatte dafür geradestehen müssen. Die Freundschaft mit ihm … das war nicht gut für Harry. Das war ihm klar geworden. Wäre Louis nicht, hätte er die Nacht nicht auf dem Boden verbringen müssen. Dann hätte er nicht all diese verwirrenden Gefühle in seinem Kopf und sein Leben wäre viel einfacher. So einfach wie es zuvor gewesen war. Er tat, was sein Vater verlangte und sagte dafür nichts. Sein Leben war nicht gut gewesen, aber es war sein Leben und er war zurecht gekommen, wenn er sich nur etwas Stärke eingeredet hatte. „Du bist stark. Sei kein Idiot und sag Louis, dass es besser für dich ist, wenn ihr euch nicht wieder trefft.“ ...besser für dich... – wie egoistisch!, schoss es ihm durch den Kopf. Aber er musste an sich selbst denken, denn er musste überleben. Er konnte sich keinen Fehltritt mehr leisten, denn er hatte nichts mehr herzugeben, als sein Kissen und seine Decke. An diesem verregneten Mittwoch war Harry sehr unruhig in der Schule. Er bekam eine Zwei in Chemie und freute sich darum – nur kurz. Er wusste, dass er sie sich ehrlich verdient hatte, aber die anderen in seiner Klasse gönnten ihm seinen Erfolg nicht. Wenn sie doch nur wüssten! Schließlich war er nur so gut in der Schule, weil er nichts anderes im Leben hatte, das ihn davon ablenkte. Die anderen hatten Handys und Fernseher und Playstations und Computerspiele und dieses ganze Zeug, von dem Harry nicht viel verstand. Er hatte nie einen eigenen Computer besessen. Sein Vater hatte ein Notebook, aber das durfte er nur benutzen, wenn es für die Schule nötig war. Dass seine Klasse ihn aus unerfindlichen Gründen nicht mochte, hatte Harry schon lange gewusst. Er hatte ihnen nie irgendetwas getan, allgemein hatte er nie irgendetwas getan. Wie konnten sie ihn nur hassen, obwohl sie nie ein Wort mit ihm gewechselt hatten? Aber dass er ein wandelndes Gerücht für die ganze Schule war, das hatte er erst durch Louis erfahren und es war ihm unangenehm durch die Flure zu laufen. Plötzlich fühlte er sich so von allen Seiten beobachtet, wo er zuvor nie darauf geachtet hatte, ob irgendjemand ihn bemerkte. Wie konnte es nur sein, dass anscheinend alle über ihn redeten, ohne dass er selbst je Notiz davon genommen hatte? Louis und Harry begegneten sich erst in der Mittagspause. Er fragte nach, ob er Niall allein lassen konnte, dann ging er mit Harry in eine stille Ecke der Cafeteria. „Warum warst du gestern nicht in der Schule? War dein Dad sehr wütend?“ „Er war viel zu wütend, um mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.“ Harry zuckte mit den Schultern. „Er hat sich eben Sorgen gemacht.“ Sein Blick wanderte zum Boden. „Ich hab mir Sorgen gemacht, weil du nicht hier warst. Ich dachte schon, er hätte dich wirklich umgebracht und war dabei, deine Leiche irgendwo zu verscharren.“ Louis lachte, aber Harry konnte nicht einstimmen. „Louis, gestern … das war echt scheiße für mich und ich will dir nicht die Schuld dafür geben, aber ich glaube, es ist nicht so gut, wenn wir Freunde sind.“ Harry sah überall hin nur nicht in Louis’ Gesicht, da bemerkte er, dass er das Spektakel der heutigen Mittagspause zu sein schien. Ganz schlicht und einfach, weil er sich mit jemandem unterhielt. „Das ist nicht wirklich fair von dir“, murmelte Louis nach langem Schweigen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gestopft und sah auf den Boden. „Tut mir sehr leid.“ Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Er hatte nie so bewusst eine Freundschaft beendet. Er hatte damals einfach aufgehört zu reden. „Schon okay. Ich hätte es nicht anders erwarten sollen.“ Louis presste die Lippen aufeinander und verabschiedete sich mit einem Nicken, bevor er zurück zu dem Tisch ging, an dem Niall saß. Harry ging nach draußen und setzte sich auf dem Pausenhof auf eine Bank. Er konnte die Blicke der anderen nicht ertragen. Obwohl er lange über diesen Entschluss nachgedacht hatte und sich auch sicher war, dass es so besser war, fühlte er sich jetzt so … deprimiert. Was war das nur für ein Gefühl von Niedergeschlagenheit? Er hatte doch kaum Zeit mit Louis verbracht. Am Donnerstag war alles wieder so, als hätte es ihre Freundschaft nie gegeben. Harry war allein, Louis war mit Niall, sie machten keinerlei Anstalten bei Gelegenheit miteinander zu sprechen und schauten einander kaum an. Harry war unwohl dabei, es machte ihn irgendwie traurig. Er weinte einer Freundschaft hinterher, die es eigentlich gar nicht gegeben hatte. Nur einen Tag lang. Aber dieser Tag war so wundervoll wie schon lange keiner mehr in seinem Leben. Er begann, alles anzuzweifeln. War es das nicht wert? Louis hatte ihm seinen ersten tollen Tag seit fast fünf Jahren geschenkt, ihn zum Lachen gebracht und sich mit ihm unterhalten, wie es sonst keiner tat. Wenn er weiterhin mit ihm befreundet wäre, dann würde er ihm noch weitere so schöne Tage schenken. Seine Bestrafung war grausam gewesen, ja, aber er musste sich ja nicht noch öfter erwischen lassen. Er konnte am Abend, sobald sein Dad bei der Arbeit war, zu Louis gehen, bei ihm schlafen und am Morgen wieder nachhause kommen, bevor er zuhause war. Es mussten nicht wieder so schlimme Dinge passieren. Und wenn doch – war Louis es nicht wert? Immerhin war er der einzige, der mit ihm befreundet sein wollte. Harry seufzte. Er sah, wie Louis an der Bushaltestelle seine Zigarette auf dem Boden austrat, als der Bus anfuhr. Er stieg ein, da zuckte er wegen dem Hupen seines Vaters zusammen, der indes vor ihm auf den Parkplatz gefahren war und bemerkt hatte, dass sein Sohn keine Anstalten machte, einzusteigen. „Ich kann es nicht leiden, wenn du so herum trödelst, Harry.“ „Tut mir leid, Dad.“ Er verstaute seinen Rucksack im Fußraum, während sein Vater anfuhr. „Hör mir zu, Harry.“ Sein Vater sah ihn kurz an, ganz bewusst, was er nicht so oft tat. „Eine Vertreterin vom Jugendamt hat angerufen, schon mehrfach. Sie wird gleich vorbei kommen und mit uns reden und sich ansehen, wie wir leben.“ Harry rutschte etwas unruhig auf dem Sitz herum. Er wusste, dass er das ausbaden müssen würde. „Du wirst dich nett mit ihr unterhalten und freundlich zu ihr sein. Und mir ist scheißegal, was du ihr sagst. Aber du weißt, das jede Entscheidung Konsequenzen nach sich zieht.“ „Was ist mit meinem Zimmer? Sie wird es sehen wollen.“ „Für heute ist dein Zimmer das auf der anderen Seite vom Flur.“ Er wusste, dass sein Dad es ganz bewusst umging, diesen Raum als Moms altes Arbeitszimmer zu bezeichnen. Er ließ nichts in sein Leben, das an sie erinnerte. Die restliche Fahrt verging schweigend. Sie hielten vor der Garage, stiegen aus, gingen hinein, alles wie immer. Harrys Dad nahm ihn am Arm und zog ihn zu dem verbotenen Zimmer. Er schloss die Tür auf und ließ ihn dann allein. Er konnte kaum atmen. Seine zitternde Hand drückte die Klinke herab und drückte dagegen. Er hätte weinen können. Seine Möbel standen leblos im Raum, zwei Kisten mit Spielsachen standen auf dem Schreibtisch. Er begann, sich die Möbel so zurecht zu rücken, dass es aussah, als würde er hier tatsächlich leben. Es tat irgendwie weh, hier zu sein. Er hatte dieses Zimmer nach dem Tod seiner Mutter nur betreten, um ihre Malsachen hier heraus zu schaffen. Ohne sie sah dieses Zimmer nicht richtig aus. Es hatte all seinen Charme verloren. Als er fertig war, holte er seinen Rucksack, verstreute seine Schulsachen unordentlich auf dem Schreibtisch, schob ihn unten hinein, und schnappte sich Kissen und Decke aus seinem eigentlichen Zimmer, um sie auf dem Bett zu platzieren, dass er seit fast einer Woche vermisste. Es sah schrecklich aus, in so einem Zimmer würde niemand leben. Er versuchte, die Kisten mit Spielsachen in seinen Schrank zu schieben, aber sie waren zu groß. Also ging er aus seinem Zimmer und sagte seinem Dad, er würde sie in den Keller bringen. „Du gehst nicht in den Keller, Harry“, seine Stimme klang befehlsmäßig. „Bring sie in den Dachboden. Und beeil dich.“ „Okay.“ Er brachte die Kiste eine nach der anderen nach oben, öffnete die Luke zum Dachboden und kletterte die Stufen mit der Kiste in der Hand nach oben. Als er den Kopf durch den kleinen Raum schweifen ließ, erwartete er aus unerfindlichen Gründen seinen Gesprächspartner von vorgestern. Was für ein absurder Gedanke. Er musste fast über sich selbst lachen. Auch die zweite Kiste schob er nach oben, die meisten Sachen sah er sich nicht einmal genauer an, das würde ihn nur traurig machen, das wusste er. Ein paar Dinge, auf die er einen Blick erhaschte, hatte er schon total vergessen, aber wie er sie sah, blitzten die Bilder des jeweiligen Tages vor seinem inneren Auge auf. Ein ferngesteuerter Hubschrauber, den hatte er für eine schlechte Englischnote hergeben müssen. Gerade als er die Luke schloss und sich innerlich von dem Gedanken-Louis verabschiedete, klingelte es an der Tür. Harry hatte den klang der Türklingel schon fast vergessen, denn er ertönte sehr selten. Sein Vater lud nie jemanden nachhause ein, mit den Nachbarn pflegten sie auch keinen Kontakt, wenn es klingelte, dann war es nur der Paketdienst oder in der Weihnachtszeit die Sternsinger. Sein Vater bat die Junge Frau mit dem dunklen Haar und der Umhängetasche gerade herein, da kam Harry die Treppe herunter. „...da ist er“, beendete sein Vater mit einem Seitenblick auf seinen Sohn den Satz, dessen Anfang Harry nicht mitbekommen hatte. „Du bist Harry, richtig? Du hast angerufen, ja?“ „Ja.“ Er schüttelte die Hand der Frau, die sich als Miss Winston vorstellte. „Tut mir leid, dass mein Sohn ihre Zeit verschwendet.“ „Das tut er nicht, das ist meine Arbeit.“ Sie lächelte. „Würden Sie mich bitte durch das Haus führen? Ich würde mir gerne alles ansehen.“ „Ja, gerne. Mach deine Hausaufgaben, Harry.“ „Ja, Dad.“ Er drehte sich um und ging den Flur hinab. Aus Gewohnheit wäre er fast in das falsche Zimmer gegangen. Er hoffte, dass sie es nicht mitbekommen hatten. Er lehnte die Tür an und setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Er schrieb ein paar Rechenaufgaben auf, damit es so aussah, als hätte er wenigstens angefangen, aber dann hörte er auf und drehte sich auf dem Stuhl ein paarmal im Kreis. So wie er wirbelten seine Gedanken in seinem Kopf herum. Als ihm schon fast schwindelig war, hörte er auf und sah sich sein Zimmer an, in dem er heute wohnen durfte. Sein Bett, sein Schrank, sein Schreibtisch, die längst nicht mehr aktuellen Poster – die hatte er in einer Schublade verstaut – seine Fußball-Nachttischlampe. Ein paar alte Filme, CDs, Fotos, Erinnerungsstücke an frühere Zeiten. Eins davon war ein gerahmtes Bild seiner ehemaligen Fußballmannschaft. Oh Mann, niemand würde glauben, dass Harry hier lebte. Die Wände waren kahl und es sah so unbewohnt aus. Harry hätte etwas Chaos machen sollen. So wie es bei Louis aussah. Wenn sie in den Kleiderschrank sehen würde … der war komplett leer. Dann war die ganze Lüge aufgeflogen. Ihm fiel nämlich kein plausibler Grund ein, warum sein verdammter Kleiderschrank leer sein sollte und es klopfte an der Tür. Er tat schnell so, als würde er vor sich hin rechnen und murmelte „Herein“ vor sich hin. „Darf ich mich mit dir unterhalten, Harry?“, fragte die junge Frau ihn, dabei stand sie in der halb geöffneten Tür.
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Chapter Eight
Harry hätte am liebsten Nein gesagt und damit dieses Risiko umgangen. „Ja“, murmelte er stattdessen nur und kaute unruhig auf seinem Stift herum, während er dabei zusah, wie sie eintrat und sich kurz umsah. „Du bist sehr ordentlich“, stellte sie fest und sah ihn leicht misstrauisch an. „Ja.“ Er überlegte kurz, denn ihr schien das nicht zu genügen. „Ich wusste, dass Sie kommen würden und habe ein bisschen aufgeräumt.“ Er hasste es so abgrundtief, für seinen Vater zu lügen. Das hier ist gar nicht mein Zimmer. „Oh, wie nett von dir. Darf ich mich auf dein Bett setzen, ist das okay?“ Sie stellte ihre Tasche auf den Boden und auf Harrys Nicken hin setzte sie sich auf das Bett und schlug die Beine übereinander. „Ihr renoviert also gerade das Zimmer gegenüber?“ „Ja.“ Was zur Hölle hatte sein Dad ihr nur erzählt? „Harry, du hast angerufen. Du warst ganz panisch. Was ist in dieser Nacht passiert?“ „Es wurde mir alles zu viel, ich fand keinen anderen Ausweg. Dann zog mein Dad den Telefonanschluss.“ „Was war danach?“ Die Bilder tauchten vor Harrys innerem Auge auf. Er schüttelte sie ab. „Nichts. Er war erst sauer und gab mir Hausarrest“ – Harry war sich aus Filmen und Serien sehr sicher, dass normale Eltern das so machten – „Dann haben wir miteinander geredet.“ „Worüber?“ Diese Frau war viel zu neugierig und Harrys Ideen waren fast ausgeschöpft. „Warum ich angerufen habe und warum ich nicht versucht habe, das mit ihm zu klären...“ Es klang, als wollte Harry noch mehr sagen, aber er tat es nicht. „Harry, ich habe gesehen, dass dein Vater dich sehr einschüchtert. Er hat dir befohlen, deine Hausaufgaben zu machen und du hast Ja gesagt, ohne mit der Wimper zu zucken ohne ein Augenrollen oder einen frechen Kommentar.“ Harry sah auf seine Hände. Er hätte sich unauffälliger benehmen sollen. „Trotzdem, Harry, auch wenn du Angst vor deinem Vater hast, musst du jetzt ganz ehrlich zu mir sein, sonst kann ich dir nicht helfen. Es bringt dir nichts, wenn du ihn beschützt. Dann wird es weitergehen, wie es jetzt ist und ich kann nichts tun.“ „Wenn ich die Wahrheit sage, was passiert dann?“ „Er wird verwarnt werden und monatlich überprüft. Ich oder ein Kollege werden dann öfter vorbei schauen müssen. Außer es war etwas, das sich nicht so leicht gerade biegen lässt. Dann kann es sein, dass wir dich mitnehmen und du vorübergehend im Heim und dann in einer anderen, besseren Familie leben wirst.“ „Dann nehmt ihr mir meinen Vater weg?“ Harry riss die Augen auf. „Nein, wir nehmen dich deinem Vater weg. Es ist ein Unterschied. Du wirst froh darüber sein.“ „Mein Vater ist alles, was ich habe. Egal, was er tut, ich verzeihe es ihm, denn er weiß es nicht besser.“ „Harry, was tut dein Vater? Er ist nicht hier, du kannst ganz offen mit mir reden. Er wird nichts tun. Gibt er dir nicht genug zu essen? Schlägt er dich?“ Harrys Augen verengten sich zu schlitzen. „Mein Vater sorgt sich gut um mich.“ Seine Stimme war kalt, er hatte eine Mauer um sich errichtet. „Vielleicht glaubt das ein Teil von dir. Aber ein anderer Teil von dir hat dir gesagt, du solltest anrufen. Du solltest dich richtig entscheiden. Rede oder rede nicht. Du hast die Wahl, du kannst etwas ändern.“ Sie stand auf, gab Harry eine Visitenkarte und ließ ihn in allein in dem Zimmer zurück. „Ich habe nichts gesagt“, murmelte Harry beim Abendessen. Sein Vater antwortete nicht, sah ihn nicht einmal an. Er fragte sich, ob sein Vater wohl dankbar war und es einfach nur nicht zeigen konnte, oder ob er ihn für so wahnsinnig schwach und dumm hielt, dass er es nicht einmal ausdrücken konnte. Vielleicht hatte er auch einfach nichts dazu zu sagen oder schlecht geschlafen. Sein Vater ging wie immer um viertel vor zehn, umarmte seinen Sohn kurz zum Abschied und schickte ihn schlafen. Er ahnte ja nicht, dass Harry um diese Uhrzeit nie schlafen ging. Stattdessen ging er auf den Spielplatz. Heute tat er es nicht, um Louis dort anzutreffen, er wollte nur einfach nicht zuhause sein. Sein Vater hatte gleich nachdem die Vertreterin vom Jugendamt gegangen war, die Tür zum Atelier verschlossen und Harry kamen die Tränen bei der Vorstellung, sein Bett für eine so lange Zeit nicht mehr zu sehen. Er hatte nicht darauf gelegen, nicht einmal kurz darauf gesessen. Er hatte die kurze Zeit mit seinem Bett nicht genutzt. Er kam sich so bescheuert mit diesen Gedanken vor. Kein anderer Jugendlicher auf der ganzen Welt musste sein Bett vermissen, dass nur einen Meter und eine verschlossene Tür entfernt von ihm war. Es war so eine Qual daran zu denken. Er war der Junge, der sich nichts sehnlicher wünschte als ein paar Möbel für sein leeres Zimmer. Was wünschten sich andere Kinder? Das neuste Spiel für ihre Konsole? Ein neues Handy weil ihr altes nicht mehr cool genug war? Harry hätte im Leben nicht daran gedacht, sich ein Handy zu wünschen. Er hatte eines gehabt, damals. Es war kein Smartphone, es war einfach nur ein altes, kleines Handy. Es konnte schon Farben auf dem Display zeigen, worauf er damals sehr stolz gewesen war. Es hatte auch das ein oder andere Spiel gehabt, aber Harry hatte es meistens nur um zu telefonieren oder SMS zu schreiben genutzt, es konnte nämlich noch keine Fotos machen. Man konnte damit auch nicht ins Internet gehen. Mit seinen Freunden hatte er damals über Bluetooth den ein oder anderen Klingelton hin und her verschickt, das war’s auch schon. Wofür brauchte Harry schon ein Smartphone? Er hatte ja gar keine Freunde. Es war wie Schicksal, dass Louis, kaum eine Minute nachdem Harry über seinen letzten Gedanken belustigt den Kopf geschüttelt hatte, über den Zaun des Spielplatzes kletterte und auf die Schaukeln zu steuerte. Harry sah ihn kurz an, unwissend, was er nun tun sollte, stand auf und ging einfach. „Bleib hier, lass uns reden, Harry.“ Tausend mögliche Antworten schossen ihm durch den Kopf, aber er drehte sich nur um und sagte knapp: „Ich habe dir schon alles gesagt.“ „Tut mir so leid, was du wegen mir durchgemacht hast. Aber wenn du mir noch eine Chance gibst, dann lasse ich das nicht noch einmal passieren.“ Harry hätte weinen können, weil er es so rührend fand, wie dringend und bedingungslos Louis ihn als Freund haben wollte. Aber er wusste nicht, wie gefährlich es für Harry war, mit ihm befreundet zu sein. Es brauchte nur einen kleinen Fehltritt, ein Wort zu viel und dann war es vorbei. Sein Vater hätte alles getan, um ihn von Louis fernzuhalten. Harry wollte doch auch mit ihm befreundet sein, er wollte es wirklich sehr. Er hatte es satt, allein zu sein. Aber es war zu gefährlich. Er hatte doch nichts mehr, woher sollte er schon wissen, was sein Vater ihm als nächstes nahm? Er hatte solche Angst davor. Harry ging ohne ein Wort nachhause. Er schlief wieder gegen die Heizung gelehnt, die Decke um seinen schmächtigen Körper geschlungen. Obwohl er eigentlich einen ziemlich leichten Schlaf hatte und normalerweise schon von dem Geräusch der Tür morgens aufwachte, schlief er an diesem Morgen so tief und fest, dass er erst dadurch aufwachte, dass sein Vater nach ihm rief. Er rieb sich die Augen und befreite sich aus dem Kokon seiner Decke. Sein Dad saß schon in der Küche am Tisch auf seinem üblichen Platz, aß die übliche Scheibe Brot und sah etwas genervt aus. Wahrscheinlich wegen Harry. „Guten Morgen“, murmelte er und räusperte sich, bevor er zwei Scheiben Toast aus der Verpackung im Brotkorb nahm und sie in den Toaster steckte. Aus dem Vorratsschrank nahm er ein Glas Marmelade, dann setzte er sich ebenfalls an den Tisch. Sein Vater hatte ihm nicht geantwortet. Nach dem Frühstück nahm Harry sich ein paar frische Klamotten aus der Waschküche, wo seit dem Verlust seines Schranks seine ganzen Klamotten verwahrt wurden, putzte sich die Zähne und ließ sich von seinem Vater zur Schule fahren. Es war ein verregneter Tag, der Himmel war grau und so wurde auch Harrys Stimmung, als er daran dachte, dass Louis ihm heute wieder über den Weg laufen würde. Er wollte ihn nicht sehen, das machte es nur noch schwerer, seinem Angebot zu widerstehen. Aber er musste widerstehen. Es war eben zu gefährlich. Es war schon Abends, Harry machte wie täglich seine Hausaufgaben. Es war unbequem auf dem Boden, aber seine Laune stieg mit jeder Minute, die er dem Ende seiner Aufgaben näher kam. Sein Vater warf die Tür seines Schlafzimmers zu, er war wohl gerade aufgestanden. Harry wurde ganz schlecht, als er ihn die Treppen herunterkommen hörte. Die dritte und vierte Stufe knarzte immer, daran erkannte er, wenn er schon fast unten angekommen war. Ein Knarzen, dann das zweite, noch zwei Sekunden, dann ging seine Tür wie erwartet auf. Sein Vater betrachtete kurz die Szene, die sich ihm bot. Sein Sohn auf seiner ausgebreiteten Bettdecke auf dem Boden, vor ihm ein Heft, ein Buch, verteilte Stifte, Lineal, Radiergummi und ein Taschenrechner. „Bist du bald fertig?“, fragte er. Er klang nicht ganz so verärgert, wie er aussah. „Ja, gleich.“ Harry kaute auf seinem Bleistift herum. Der Mann nickte, kratzte etwas ungelenk seinen Rücken. „Ich mach etwas zu essen.“ „Okay.“ Er schloss die Tür und Harry machte weiter. Bei den letzten Aufgaben ließ er sich etwas mehr Zeit. Sobald er fertig war, legte er alle Hefte zusammen, falls sein Vater sie noch heute kontrollieren wollte, dann packte er die Bücher und die Stifte wieder alle zusammen und schob sie in seinen Rucksack. Sein Dad briet gerade irgendetwas in der Pfanne, als er in die Küche kam. Harry räumte den Tisch ab und holte Teller, Besteck und einen Untersetzer für die Pfanne aus den Küchenschränken, platzierte alles mit Sorgfalt auf dem Tisch und stellte danach noch zwei Gläser und etwas zu trinken hin. Sie aßen in Stille. Harry war schon fast fertig, als sein Vater das Wort ergriff. „Wenn du aufgegessen hast, stell deinen Teller in den Geschirrspüler und geh nach oben.“ „Nach oben?“ Harry hatte Angst. Doch nicht etwa in den Dachboden? „Nach oben ins Schlafzimmer. Zieh dich aus und leg dich aufs Bett.“ Harry schaute schnell weg, als sich ihre Blicke trafen. Sein Vater klang nicht streng, aber er sah so aus. Harry war sich nicht sicher, ob er jetzt noch etwas essen konnte. Er konnte nicht einmal still sitzen. Seine Hand, in der er die Gabel hielt, zitterte ein wenig und wurde kalt und schweißnass. Er aß schnell auf, obwohl er keinerlei Hunger mehr verspürte, verstaute Teller und Besteck in der Spülmaschine und ging nach oben. Ihm war so schlecht, er hätte nicht so eilig essen sollen, aber er hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. In der Nähe seines Vaters. Es war total bescheuert, in sein Schlafzimmer zu laufen, um ihm zu entkommen. Stattdessen hätte er aus dem Fenster springen sollen. Aus dem ersten Stock am besten, mit dem Kopf voran. Harry schüttelte den Kopf über diesen albernen Gedanken. Er wollte ja gar nicht sterben. So verzweifelt hasste er sein Leben nicht. Es war schrecklich, aber er kannte es nicht anders. Es war eben so, es würde sich nicht ändern, und damit musste er zurechtkommen. Ob er es wollte oder nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es akzeptieren oder es nicht zu akzeptieren. Würde er es nicht akzeptieren, müsste er wohl wegrennen und sein Leben und seinen Vater zurücklassen, was er nicht wollte. Es war sein Vater. Nicht sein leiblicher, aber der einzige, der ihn nicht im Stich gelassen hatte. Also nahm er sein Leben hin, wie es war. Er war nicht einmal zehn Minuten allein, bevor sein Vater nachkam. Er lag schon bäuchlings auf dem Bett und wartete. Ihm drehte sich der Magen um. Er liebte seinen Vater. Trotz allem. Er sagte es sich innerlich tausendmal. Trotz allem. Trotz allem. Er zählte jeden Stoß mit, versuchte die Geräusche auszublenden, die sein Vater von sich gab. Es gelang ihm nicht wirklich, ihm wurde noch schlechter. Er wollte das nicht hören. Er wollte nicht hören, wie viel Vergnügen ihm das hier bereitete, es war so krank und absurd. Harry zählte jeden Stoß mit, normalerweise zählte er nicht mehr als dreizehn aber heute waren es siebzehn. Sein Vater keuchte und schnaufte und als er endlich von Harry abließ, rannte er ins Badezimmer und kotzte sein Abendessen aus. Er spürte etwas Nasses an seinem Anus, was ihn noch mehr würgen ließ, denn es war das Sperma seines Vaters. „Wisch das auf, wenn du fertig bist.“ Harry verzog das Gesicht. Er konnte diese Stimme jetzt nicht hören. Sobald sein Magen aufgehört hatte, sich zu verkrampfen, stand er auf, wischte den Boden mit einem Fetzen Klopapier sauber, betätigte die Klospülung und spülte sich den Mund mit etwas Wasser aus. Sein Vater drückte ihm seine Klamotten in die Hände, als er in das Bad zurückkam, um zu duschen. Harry ging in sein Zimmer, zog sich an und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Er wartete auf den Tag, an dem er danach aus irgendeinem Impuls heraus seine Schuhe anzog und soweit rannte, bis er keine Luft mehr bekam und auf die Knie fiel, weil seine Beine zu schwach wurden. Und weiter rannte, kaum ging es ihm ein bisschen besser. In die Freiheit rennen. Hm, was für ein Traum, aber es war nicht Harrys Traum. Seiner war es, diesen schicksalhaften Tag vor fast fünf Jahren ändern. Seine Mom aufhalten. Kaum war sein Vater gegangen, stand Harry auf und ging ebenfalls. Er wartete nur so lange, bis er das Auto in der Ferne nicht mehr hören konnte. Ein paar Minuten später stand er vor Louis’ Haustür und klingelte mit zitternder Hand. Seine kleine Schwester öffnete die Tür und rief nach ihm, bevor sie wieder ging. Louis erschien in seinem Blickfeld. „Harry.“ Louis sagte seinen Namen mit dem unnachahmlichen Klang seiner Stimme. Er stellte ihn nicht wie eine Frage, sprach ihn nicht wie eine Aussage aus; eher eine Mischung aus beidem mit einem Hauch von Verwunderung wegen der Tränen auf Harrys Wangen. Seine Augen waren groß und voll mit Sorge, anstatt abweisend, wie Harry es eher verdient hätte. „Bitte, nimm mich so fest in den Arm, dass ich vergesse, wie große Angst mir das macht. Und lass mich nicht mehr los.“ Harry klemmte die Lippen zwischen die Zähne, um die Tränen noch ein paar Sekunden zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Louis nickte. Der Jüngere trat einen Schritt näher an ihn heran und sie umklammerten ihre Körper wie Schwimmhilfen auf dem großen, weiten Ozean. Seine warme Hand rieb an seinem Rücken auf und ab. Es tat so gut. Es war so tröstlich und gab ihm ein Gefühl von Geborgenheit, das er zuhause schon lange vermisste. „Lass mich nie wieder los“, bat er ihn. Es flossen immer noch Tränen über seine Wangen. Harry vergrub sein nasses Gesicht an der Schulter des Anderen. „Du kannst mit mir reden“, wiederholte Louis. „Über alles.“ „Ich kann darüber nicht reden“, antwortete Harry. Obwohl er gerne und lange darüber gesprochen hätte, er konnte nicht. Es fehlten ihm die richtigen Worte dafür. „Aber ich brauche jemanden, der mich festhält, wenn ich falle.“ Schluchzend drückte Harry sein Gesicht in seine Halsbeuge und gab viele kleine, traurige Laute von sich, die Louis das Herz brachen. Er ließ nur kurz einen Arm von ihm ab, um die Haustür zu schließen, dann schlang er sie wieder fest um Harry. Er lehnte sich mit seinem vollen Gewicht gegen Louis, also stützte er sich an der Wand ab und ließ sich auf den Boden sinken. Harry war so zerbrochen, dass Louis angst hatte, dass er nie mehr ganz werden würde. Die Geheimnisse, die Tränen, die Ängste. „Ich lasse dich nicht los“, versprach Louis. „Louis!“, rief seine Mom aus dem Esszimmer. Als er nicht antwortete, kam sie in den Flur um nach ihm zu schauen. Er saß auf dem Boden, Harry auf seinem Schoß. Er legte sich den Zeigefinger auf die Lippen, um ihr zu signalisieren, dass sie leise sein sollte. „Kann er heute Nacht hier schlafen?“, fragte er leise. Harry spannte sich in seinen Armen ein wenig an. Ihre Antwort konnte er nicht hören. Es war ein Nicken und ein stummes Seufzen, das nur Louis sehen konnte. „Willst du etwas essen, Harry?“ „Nein!“, sagte er laut und sehr energisch. „Okay. Ich mach dir einen Tee, dann beruhigst du dich ein bisschen.“ Louis machte Anstalten aufzustehen, aber Harry drückte ihn dann nur umso fester. Also blieben sie noch ein bisschen auf dem Boden sitzen. Es dauerte noch einmal fast zehn Minuten, bis Harry ihn endlich aufstehen ließ. Seine Mom und Lottie waren nicht mehr in der Küche, wahrscheinlich brachte Mom sie gerade ins Bett. „Ich weiß, du willst nicht reden, aber falls doch, höre ich dir zu.“ Harry ging durch den großen Türbogen ins Wohnzimmer. „Da liegt eine Decke, falls dir kalt ist“, murmelte Louis und deutete auf die Lehne des Wohnzimmersessels. Harry zog die Schuhe aus und kauerte sich mit der Decke um sich gewickelt auf dem Sofa zusammen. Wenn er doch zuhause nur so einen wundervollen Platz zum Schlafen hätte, träumte er vor sich hin. Was er nicht alles geben würde, nur um sein Bett wieder zu haben. Er würde Weihnachten, Ostern und seinen Geburtstag dafür hergeben. „Was lächelst du so verträumt?“, fragte Louis. „Nichts.“ Was für alberne Gedanken. Harry schüttelte über sich selbst den Kopf. „Ich bin nur froh, hier zu sein“, hängte er an und beobachtete den Blauäugigen dabei, wie er die beiden dampfenden Tassen auf dem Sofatisch abstellte. „Du hast die letzten Tage nicht so gewirkt, als würdest du noch etwas mit mir zu tun haben wollen“, bemerkte Louis möglichst beiläufig, während er sich setzte. „Das hatte nichts mit dir zu tun“, antwortete Harry. „Das dachte ich mir schon.“ „Die Sache ist die ...“ Ihm fehlten die Worte. „Ich weiß nicht, ob ich jemanden in meinem Leben haben kann, dem ich meine Probleme zumuten kann.“ „Was hat sich geändert?“, hakte Lou nach. „Ich habe gemerkt, dass es keine Frage ist, ob ich so jemanden in meinem Leben haben will, sondern ob ich so jemanden in meinem Leben brauche. Und ich brauche einen.“ Es entstand eine kurze Pause. „Und mir ist klar geworden, dass, sollte jemand in meinem Leben auftauchen und für mich da sein wollen als ein Freund, dann sollte ich das Angebot annehmen.“ Ihre Blicke begegneten einander flüchtig. „Ich kann jemanden gebrauchen, der mich umarmt und mir sagt, dass alles besser wird.“
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Chapter Nine
Harry saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, vor ihm auf dem Wohnzimmertisch stand eine Tasse Tee. Verärgert wischte er sich über die Augen – die Tränen wollten einfach nicht aufhören zu laufen. Er war froh, dass Louis ihn nicht auslachte, wie es bestimmt jeder andere getan hätte. Sei kein Mädchen. Sein Vater trichterte ihm das immer wieder ein. Jungs weinten nicht. Wenigstens hatte sich sein Atem wieder fast normalisiert. „Keine Ahnung, was du zuhause aushalten musst. Aber wenn du nicht mehr kannst, dann kommst du zu mir.“ Louis stellte eine zweite Tasse auf den Tisch und setzte sich neben ihn. Was für ein Paradoxon. Wenn er ein Problem hatte, sollte er zu Louis kommen. Aber was, wenn ihm das nur noch mehr Probleme einbrachte? Louis konnte das nicht verstehen. Immerhin musste er ja nicht auf dieselbe Art wie Harry für seine Fehler hinhalten. Gedankenversunken drehte er die Tasse hin und her. „Streiten sich deine Eltern? Habt ihr Geldprobleme? Lassen sie ihre Launen an dir aus?“ „Nein, nichts davon.“ Harrys Stimme klang so klein, schwach und zerbrechlich. Er räusperte sich und sagte etwas fester: „Du kannst gerne weiter raten, du kommst sowieso nicht darauf.“ Sein Tonfall war so kühl, dass Louis’ Nackenhärchen sich aufstellten. Nach langem Schweigen ergriff Louis wieder das Wort. „Komm, nimm deine Tasse.“ Sie gingen in sein Zimmer, tranken in Stille ihren Tee, bis Harry irgendwann fragte, ob das Problem mit seiner Mutter nun geklärt war. Er hatte es schon vollkommen vergessen. Louis bejahte und dann war es wieder still. „Sie kann es nicht verstehen, aber sie will darauf aufpassen, dass es nicht ausartet. Also darf ich eine Schachtel pro Woche rauchen, mehr nicht. Das sind drei pro Tag und dann bleiben mir vier für Notfälle oder falls mich jemand fragt, ob er eine abhaben kann.“ Louis holte seine halbvolle Schachtel aus dem Spalt zwischen Matratze und Bettgestell hervor. Er nahm eine heraus, dazu das Feuerzeug, legte die Schachtel auf sein Bett und ging zum Fenster. „Was ist ein Notfall für dich?“, fragte Harry und sah die Schachtel an. „Wenn ich es nicht mehr aushalten kann bis zum Mittag oder bis zum Abend. Oder wenn es mir zum Kotzen geht und ich mich nicht anders davon ablenken kann.“ „Hm“, machte Harry daraufhin nur und kam zu Louis, um sich mit ihm auf das Fensterbrett zu quetschen. Louis verstand seine Absicht und lächelte, während er ihm die Hand reichte. Zuerst rauchte er nur passiv, aber dann fingen sie an, sich abzuwechseln. „Ich hoffe, das tust du nicht wegen mir“, flüsterte Louis und schloss das Fenster, „sondern weil es dir auch zum Kotzen geht und du nicht anders kannst.“ „Ich würde Kettenraucher werden, wenn ich aus solchen Gründen rauchen würde“, flüsterte Harry eher zu sich selbst. „Was?“, fragte Louis. „Gar nichts“, murmelte er. Louis warf ihm ein Kissen zu, als er die Decke auf dem Sofa ausbreitete. Aus der untersten Schublade seiner Kommode holte er noch eine Decke für Harry. Als dieser sich gerade abwandte, um sein provisorisches Bett zu machen, zog Louis sich bis auf die Socken und die Boxershorts aus. „Auf wann soll ich den Wecker für dich stellen?“, fragte er und ging an Harry vorbei auf sein Bett zu. Sein Handy hing am Ladekabel. „Viertel vor sechs“, antwortete er und als er daraufhin zu Louis sah, wurde ihm ganz anders. Er hatte viel zu wenig an. Harry versuchte, wegzusehen, legte sich auf das Sofa mit dem Blick zur Lehne. „So willst du schlafen?“ „Ja.“ Harrys Stimme klang trotziger als beabsichtigt. „Okay, gute Nacht“, flüsterte er und knipste das Licht aus. Gute Nacht, sagte Harry, aber nicht laut.Samstagmorgen klingelte der Wecker Harry schrill aus dem Schlaf. Er war schon nach dem ersten Läuten wach und stellte ihn ab, bevor Louis ihn überhaupt richtig wahrgenommen hatte. Er legte die Decke zusammen und ging mit einem kurzen, leisen „Bye“ nach unten, wo er sich die Schuhe anzog und nachhause lief. Sein Vater war nicht zuhause, kein Auto in der Einfahrt, kein Lichtschein im Fenster. Er ging ums Haus herum zur Haustür, stellte die Schuhe so hin, wie er dachte, dass sie gestern Abend dort gestanden hatten, ging in sein Zimmer und kuschelte sich in seine Decke ein. Viel unbequemer als Louis’ Sofa, aber es ging eben nicht anders.Harrys Vater kam eine Viertelstunde später. Er tat so, als würde er schlafen, in Wirklichkeit dachte er nur über Louis’ Sofa nach. „Steh auf, ich weiß, dass du schon wach bist. Zeig mir deine Hausaufgaben.“ Harry murmelte leise einen Fluch vor sich hin und hoffte, dass sein Dad sich dabei nichts weiter dachte. Er nahm den Stapel Hefte und sein Hausaufgabenheft und ging in die Küche. Er saß schon auf seinem Stuhl und wartete. Harry schlug das kleine Hausaufgabenheft auf, dann die einzelnen Hefte und brachte sie zurück in sein Zimmer, als sein Vater sich als zufrieden zeigte. Zurück in der Küche stand sein Dad vor der geöffneten Kühlschranktür und holte ein paar Eier und etwas Wurst heraus. „Ich hab keinen Hunger. Darf ich fernsehen?“, fragte Harry. Er stand im Türrahmen und rieb seinen Oberarm. „Du wirst trotzdem etwas essen … Rührei oder Omelette?“, fragte er seinen Sohn. „Rührei“, nuschelte Harry und legte den Kopf auf seinen auf dem Tisch verschränkten Armen ab. Obwohl, oder vielleicht gerade weil sein Abendessen nicht an Ort und Stelle geblieben war, hatte er keinen Appetit.Er dachte an Louis. Ein Seufzen entfuhr ihm. Hm, bestimmt schlief er noch. Seelenruhig, ohne Alpträume, ohne böse Gedanken. Er war so lebensfroh, Harry beneidete ihn darum. Da es das ganze Wochenende lang geregnet hatte, sahen sich Louis und Harry erst am Montag in der Mittagspause wieder. Harry hatte heute kein Essen vor sich stehen, er hatte schon das Frühstück ausgekotzt, weil sein Vater sich am Morgen an ihm vergriffen hatte. Er hatte keinen Hunger, deshalb hatte er jetzt etwas Geld übrig, das nicht ganz für eine Schachtel Zigaretten reichte. Er dachte darüber nach, weil er jetzt gerne eine Kippe geraucht hätte. Er hätte jemanden bitten müssen, wenn er eine gewollt hätte. Das wollte er aber nicht.Louis setzte sich mit einem Tablett in den Händen an den Tisch von Harry, gefolgt von Niall. „Hey, Harry. Alles klar bei dir?“ Seine gute Laune deprimierte ihn noch mehr, anstatt ihn aufzumuntern. „Ja“, antwortete er aus Reflex. „Und bei dir … euch?“ Er sah zu Niall, der jedoch nicht interessiert an einem Gespräch mit Harry schien. „Auch. Wieso isst du nichts?“ Er piekste ein paar Nudeln auf und schob sich die Gabel in den Mund, sah Harry unterdessen weiterhin fragend an. „Bauchschmerzen“, log er vor sich hin. „Oh … Aber Sport mit leerem Magen, am Ende kippst du noch um. Vielleicht solltest du doch besser etwas Essen … nur ein bisschen.“ „Nein, lieber nicht. Ich musste heute schon kotzen.“ „Hm, Magen-Darm-Virus vielleicht“, murmelte Niall unbeteiligt und aß weiter. Als Harry ihn daraufhin ansah, zuckte er mit den Schultern. „Dann machst du besser nicht mit beim Sport“, warf Louis ein. „Nein, wir werden heute benotet. Der drückt mir eine Sechs rein, wenn ich nicht mitmache.“ „Das kannst du dir doch leisten. Ich hab gehört, deine Noten sind ganz beachtlich.“ Louis sah stirnrunzelnd auf sein Essen hinab. „Du weißt doch wie streng mein Vater ist.“ Louis presste die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern, was so viel heißen sollte wie, dass er auch nicht weiter wusste. Dann blieb es eine lange Minute still. „Hast du eine Zigarette für mich, Louis?“ Harry fühlte sich so unwohl ihn danach zu fragen.Er zog eine Augenbraue hoch.„Bitte, Louis, ich geb dir auch Geld dafür, aber mein Essensgeld reicht nicht ganz für eine Schachtel. Bitte.“ Er klang, als würde er danach flehen. „Harry … nein. Mach das nicht, das macht dich nur noch mehr kaputt. Du würdest es lange bereuen, wenn du damit anfängst und nicht mehr aufhören kannst. Von mir bekommst du keine. Außerdem kippst du erst recht um, wenn du jetzt auf leeren Magen eine rauchst.“ Harry wollte seine Antwort nicht hinnehmen, aber was blieb ihm sonst übrig, außer noch weiter zu betteln? „Am Freitag hast du auch mich auch rauchen lassen. Jetzt willst du auf einmal nicht, dass ich das mache?“ „Ja“, sagte Louis ganz simpel.Harry fehlten die Worte. Lou aß unter Schweigen weiter.Nachdem beide Klassen im Geräteturnen benotet wurden spielten sie noch zwei Runden Völkerball. Harry fühlte sich, als hätte er ein riesiges, schwarzes Loch in seinem Bauch, das sich immer weiter ausdehnte. Er hatte Hunger und Durst und ihm wurde mit jeder Minute noch schlechter und schwindeliger. Lange würde er es nicht mehr aushalten, auf dem Spielfeld herumzurennen wie ein aufgeschrecktes Tier. Er sah auf die Uhr, dann wieder durch die Turnhalle auf der Suche nach den beiden Bällen. Sein Blick blieb dabei etwas länger an Louis hängen. Das letzte, was er sah, war wie einer der Jungs aus der Oberstufe einen Ball auf ihn zielte. Dann wurde es schwarz und er spürte einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf. Zuerst fiel es nur dem Jungen auf, der ihn eben noch mit dem Ball abwerfen wollte, als er auf Harry zu rannte, bemerkte es auch Louis. Gleichzeitig auch der Lehrer, der das Spiel abpfiff. Der Lehrer verfrachtete Harry in den Geräteschuppen und legte seine Beine hoch. Louis wollte nicht von seiner Seite weichen, obwohl Mr. Marley ihm mehrfach sagte, er sollte zu den anderen Schülern zurück gehen.Harry kam nach einer weiteren Minute wieder zu sich. Er sah um sich. Dunkle Decke, kahle Wände, graue Schränke. Louis erschien in seinem Blickfeld, dann sein Lehrer. „Hast du heute schon etwas gegessen oder getrunken?“Harry wollte etwas sagen, fühlte sich aber nicht in der Lage dazu und schüttelte deshalb einfach nur mit dem Kopf. „Ich hab’s dir gesagt.“ Louis grinste und Harry lächelte schnaubend. „Ich hole dir etwas zu trinken und Traubenzucker.“ Louis setzte sich hinter Harrys Kopf und legte seine Hand unter diesen, damit er nicht auf dem harten Linoleumboden liegen musste. Mit der anderen Hand streichelte er durch Harrys Haare. „Alles in Ordnung?“, fragte er nach. „Ja, alles gut.“ Diese Worte waren so falsch, dass Harry sich jedesmal ärgerte, wenn er sie aussprechen musste. „Bist du mir noch böse?“ „Ich war gar nicht böse. Ich mache mir nur Sorgen um dich.“Harry musste unvermittelt lachen.Grinsend sah Louis auf ihn herab. „Was ist denn so lustig daran?“ „Dass du mich vom Rauchen abhalten willst genau wie deine Mom dich. Ich glaube, jetzt weißt du, wie sie sich fühlt.“ „Hm, da hast du wohl irgendwie recht.“ Er lächelte und sah dann nach oben, wo Mr. Marley gerade mit einer kleinen Saftflasche und einer Packung Traubenzucker zurückkam. „Alles klar? Soll dich jemand abholen?“ Harry riss die Augen auf. „Nein, bloß nicht.“ Er nahm die geöffnete Flasche entgegen und trank ein paar Schlucke, dann setzte er ab und nahm noch ein Stück Zucker. „Ich mache weiter, wenn es mir besser geht.“ „Nein, du setzt dich entweder auf die Bank oder gehst an die frische Luft oder holst dir etwas zu essen. Der Klassensprecher kann mitkommen.“ Harry sah, wie Adam bei dem Wort „Klassensprecher“ den Kopf streckte. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich setze mich auf die Bank. Schon okay.“ Er setzte sich auf und ließ sich an der Hand seines Lehrers auf die Beine ziehen. Er drückte ihm die Flasche und das Päckchen Zucker in die Hand und schob ihn leicht am Rücken voran. Die anderen Schüler standen immer noch in einer großen Traube vor dem Geräteschuppen. Einige hatten das Spektakel mitverfolgt, andere standen nur herum und unterhielten sich miteinander. Von ein paar Leuten glaubte Harry, dass sie schlecht über ihn redeten. Erst dieser Sturz letzte Woche, heute sein Zusammenbruch, es wunderte ihn ehrlich gesagt nicht einmal.Mr. Marley pfiff ein neues Spiel an, danach machten sie eine kurze Trinkpause und anschließend fingen sie an, Basketball zu spielen. Dass laute Dribbeln ließ das Dröhnen in Harrys Kopf nicht unbedingt besser werden. Er beobachtete Louis fast durchgehend, er warf auch ein paarmal einen Blick zurück, Niall drängte sich auch hin und wieder in sein Blickfeld, aber das einzige mal, als er Harry ansah, sah er etwas misstrauisch aus. Er schien ihn nicht so besonders zu mögen. Harry war nicht klar warum, er kannte ihn immerhin gar nicht. Wahrscheinlich war es dasselbe wie mit allen anderen. Harry war eben nicht wie sie.Nach der Schule ging er wieder mit zu Louis, sein Vater arbeitete heute Nachmittag. „Geht es dir gut?“, fragte Louis wiederholt, als sie zum Auto seiner Mutter gingen.Harry rollte mit den Augen, obwohl es ihm viel bedeutete, dass er sich um sein Wohlergehen sorgte. „Ja.“ „Mum, kannst du noch beim Bäcker halten?“, fragte Louis unmittelbar nach einer knappen Begrüßung. „Ja, was soll ich dir holen?“, fragte sie zurück, während sie auf dem Parkplatz wendete. „Nimm Harry mit, er hat heute noch nichts gegessen. Für mich brauchst du nichts mitnehmen.“ „Oh, Harry, ist alles in Ordnung bei dir?“ Louis’ Mom war viel zu fürsorglich. Sie benahm sich fast, als wäre Harry ihr eigener Sohn. „Ja.“ Er sah aus dem Fenster. „Louis, ich will nicht, dass deine Mom mir etwas zu essen kauft.“ Er wandte sich an sie. „Das ist wirklich nicht nötig.“ „Doch, bevor du nochmal umkippst.“ Johannah warf einen besorgten Blick durch den Rückspiegel. Sobald eine Bäckerei in Sicht kam, bog sie ab und parkte direkt davor. Sie zog ihre Handtasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes. „Komm, Harry.“ Louis hing an seinem Handy, als Harry ihm noch einen letzten Blick zuwarf, bevor er ausstieg. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Johannah nochmal nach, obwohl Harry schon vorhin bejaht hatte. Gerade als er darauf antworten wollte, setzte sie noch nach. „Mir ist aufgefallen, dass du zur Zeit oft bei Louis schläfst. Da habe ich mich einfach nur gefragt, ob bei dir zuhause alles okay ist oder ob du vielleicht Stress mit deinen Eltern hast oder deine Eltern sich streiten oder so etwas.“ „Es ist alles okay.“ Er hatte das Gefühl, er sollte noch etwas sagen. „Ich schlafe nur zuhause nicht so gut. Aber wenn es nicht okay ist, dass ich bei Louis schlafe...“ Harry wurde von der herzlichen Begrüßung der älteren Dame mit der Schürze unterbrochen, die hinter der Theke stand.
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Chapter Ten
„Los, such dir etwas aus.“ Johannah lächelte ihn an. Harry ließ die Augen über die unzähligen Gebäckstücke hinter der Glasscheibe schweifen. Hinten an der Wand war noch ein Regal, das bis zur Decke ging und bis oben hin mit noch mehr gefüllt war. Er war es nicht gewohnt, die freie Wahl zu haben. Normalerweise ging sein Vater allein einkaufen und er lud nur die Einkäufe aus dem Auto, sobald er nachhause kam. Ihm war nicht klar gewesen, wie groß die Auswahl hier war. Brot, Toast, Brötchen, Brezeln, Pizzastücke, Belegte Brötchen, Kuchen- und Tortenstücke und noch so viel mehr. „Ein belegtes Brötchen?“ Es klang eher wie eine Frage, als Harry das sagte. „Darf es sonst noch etwas sein?“ Harry sah Louis’ Mom unsicher an. „Na los, du kannst alles haben, was du willst.“ „Okay. Die Pizza, ist die kalt?“ „Ja.“ „Wir können sie zuhause warm machen.“ Johannah berührte ihn leicht an der Schulter, Harry zuckte vor ihrer Berührung etwas zurück. „Okay, dann ein Stück Pizza mit Salami und eine Brezel.“ „Dann noch einen Laib Vollkornbrot.“ Die Frau nannte ihr den Preis und sie gingen mit drei Tüten zum Auto zurück. „So viel kann ich gar nicht essen.“ „Doch, ganz bestimmt.“ Sie drückte den Knopf am Autoschlüssel, der es aufschloss. Harry balancierte beide Tüten auf einem Arm, öffnete die Seitentür und stieg ein. Louis spielte gerade an dem Autoradio herum. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst meine Kanäle nicht immer umstellen“, meckerte seine Mutter. „Chill doch mal“, murrte er nur zurück und tippte auf ein paar Knöpfen herum, bevor er sich dann wieder seinem Handy widmete. Harry aß seine Brezel noch im Auto. Sein Hunger kam noch beim essen. Zuhause bei Louis machte er das Stück Pizza in der Mikrowelle warm und teilte es sich mit ihm. Er war heute sehr beschäftigt mit seinem Handy. „Was machst du denn die ganze Zeit?“, fragte Harry unruhig und knickte den leeren Pappteller um. „Sorry, ich hab ein neues Spiel, das macht total süchtig.“ Louis schaltete den Bildschirm ab und schob seinem Gegenüber das kleine Gerät zu. „Nimm du es, dann muss ich nicht die ganze Zeit darauf starren.“ Harry starrte es kurz mit gerunzelter Stirn an, nahm es dann jedoch an sich und schob es in seine Hosentasche. „Bist du fertig? Dann lass uns in mein Zimmer gehen.“ Louis stand auf, warf den Pappteller und die Tüte weg und ging Harry hinterher nach oben. „Darf ich heute hier schlafen?“, fragte er, während er sich auf das Sofa setzte. „Warum schläfst du nicht zuhause? Bevor du mich kanntest, hast du doch auch immer zuhause geschlafen, oder?“ „Heißt das ,Neinʻ?“ „Nein, das meine ich damit nicht. Ich lasse dich gerne hier schlafen. Ich will nur nicht, dass du nur mit mir befreundet bist, weil ich dich hier schlafen lasse.“ „So ist das nicht. Ich kann nur hier einfach besser schlafen als zuhause.“ Louis hob eine Braue an. „Das kommt mir nicht so vor. Du schläfst richtig unruhig und drehst dich die ganze Nacht herum, manchmal wachst du auf und schreist – ich mache mir wirklich Sorgen um dich.“ „Wirklich. Ich schlafe gerne hier und es ist besser als zuhause.“ Ich muss keine Angst vor dem Aufwachen haben. „Warum?“ Harry schüttelte den Kopf. „Ich bin es leid, immer nur über diese Dinge zu reden, so als wäre das das einzige, worum sich dein Universum dreht. Es geht mir zuhause gut, Louis, du musst dir keine Sorgen machen und deine Mom sich auch nicht und was bei mir zuhause passiert, das ist mein Ding und ich will nicht, dass du dich da einmischst.“ „Okay. Ich frag nicht mehr nach und du darfst hier schlafen, als wäre es dein Zuhause. Ich will nur ein guter Freund für dich sein. Und Freunde helfen sich eben bei Schwierigkeiten.“ „Du musst mir noch viel über Freundschaften beibringen.“ Harry legte den Kopf schief und legte ein Lächeln auf, um die Stimmung aufzulockern. „Freunde vertrauen sich Geheimnisse an und gehen füreinander durch die Hölle. Sie sorgen füreinander, als wären sie Familie.“ „Okay, ich erzähle dir etwas über mich, das niemand weiß. Es ist nicht wirklich ein Geheimnis, aber es gibt niemanden, dem ich es erzählt habe.“ „Okay.“ Louis klopfte vor sich auf die Matratze, woraufhin sich Harry auf diese Stelle setzte. Sie sahen einander in die Augen und Harry fühlte sich wegen seiner vielen Lügen schon etwas besser, noch bevor er überhaupt etwas gesagt hatte. Er war einfach froh, dass es auch etwas gab, was er Louis anvertrauen konnte ohne zu lügen. „Ich bin adoptiert.“ Er wollte mehr sagen, aber er wusste kurz nicht weiter, deshalb war er froh, dass Louis das Wort ergriff. „Weißt du es schon lange?“ „Ja, meine Eltern haben kein Geheimnis daraus gemacht, sie haben es mir gesagt, sobald ich alt genug war, um zu verstehen, woher die Babys kommen und dass meine Mom keine bekommen konnte. Und ich war damals zu jung, um mir darüber so viele Gedanken zu machen. Ich hab mich bei meinen Eltern nicht fremd gefühlt, sie haben mich immerhin groß gezogen, ich hab mich auch nicht im Stich gelassen gefühlt von meinen leiblichen Eltern, aber manchmal“, Harry driftete kurz ab und starrte dabei ins Nichts, „... manchmal da habe ich solche Gedanken.“ Stille breitete sich im Raum aus. Es war so ruhig wie zuhause immer, aber auf eine ganz andere Weise, eine, die Harry überhaupt nicht unangenehm war. „Hast du deshalb keine Freunde? Weil du Angst hast, dass sie dich im Stich lassen so wie deine Zeugungseltern?“ Harry sah ihm in die Augen und überlegte, ob er lügen sollte oder nicht. Er musste dringend aufhören, so viel zu erfinden. Er war sich sehr sicher, dass Freunde einander nicht anlügen sollten. Louis würde verärgert sein, wenn er herausfand, dass fast alles, was er über Harry wusste, eine Lüge war. „Nein, so ist das nicht. Ich hab nur ...“ Harry wusste einen Moment lang nicht weiter, denn er hätte sonst entweder sein dunkles Geheimnis verraten oder, dass er Louis nach Strich und Faden belog. „Ich hab Angst, dass es böse endet. Ich hatte Freunde, aber es hat sich vieles geändert. Ich brauchte Zeit für mich, aber als ich jemanden zum Reden brauchte, war niemand mehr für mich da, weil ich mich von ihnen abgewandt habe. Ich habe mir oft jemanden zum Reden gewünscht, aber es war niemand da und ich hatte verlernt wie es geht, Kontakte zu knüpfen. Aber jetzt habe ich dich und das macht alles besser.“ Louis lächelte am Ende von Harrys Aussage. „Ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast.“ „Ich bin auch froh.“ „Willst du noch etwas loswerden?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Willst du fernsehen oder zocken? Oder wir könnten ein bisschen skaten.“ „Ich kann gar nicht skaten.“ „Ich könnte es dir zeigen.“ „Lieber nicht, das endet bestimmt mit ein paar blauen Flecken und Schürfwunden.“ Louis wurde plötzlich sehr ernst und nachdem er eine Sekunde lang vor sich hin ins Leere gestarrt hatte, sah er wieder zu Harry auf und sagte: „Zieh den Pullover aus.“ „Wieso das denn?“ Harry war verwirrt. „Bitte, Harry.“ „Nein, sag mir, warum.“ Auch der Ausdruck auf dem Gesicht des Lockenkopfes wurde ernst. „Ich will sehen, ob du blaue Flecken hast.“ „Ich hab keine. Warum sollte ich?“ „Nur so ein dummer Gedanke. Bitte, zieh den Pullover für mich aus. Damit ich mir keine Sorgen machen muss.“ „Du musst dir keine machen, ich habe es dir doch schon gesagt.“ „Ja, du sagst es immer wieder, aber deine Ängste … ich denke nur nach, warum alles so ist, wie es ist.“ Louis sah ihn mit diesem Blick an, bei dem Harry sofort wusste, woran er dachte. „Wag es ja nicht, meinem Vater so etwas zuzuschieben.“ Wütend zog er an den Ärmeln seines Kapuzenpullis und schob ihn über seinen Kopf. Er war so sauer auf Louis, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er streckte die Hand nach Harry aus, der zunächst zurückschreckte, dann aber seinem Finger bis zu der Stelle an seiner Rippe folgte, wo Louis kurz hin tippte. Es tat kurz weh, aber von dem blauen Fleck, den Harry sich bei dem Sturz auf der Dachbodentreppe geholt hatte, war mittlerweile nur noch eine leichte gelbe Spur zu sehen. „Bist du jetzt zufrieden? Ich habe dir gesagt, mein Vater behandelt mich gut. Kein Grund zur Sorge.“ „Woher hast du den blauen Fleck?“ Harry zögerte. „Ich bin hingefallen. Nicht der Rede wert.“ Louis schüttelte den Kopf. So stur. So geheimnisvoll. „Hingefallen?“, hakte er nach, woraufhin Harry ihn mit einem weiteren wütenden Blick bedachte. „Darf ich mich jetzt wieder anziehen?“ Er spukte die Frage mit einer solchen Wut aus, dass wahrscheinlich niemand bis auf Louis sie ernst genommen hätte. Dieser antwortete aber nur: „Dreh dich um.“ Da Harry mit dieser ganzen Sache nur noch in Ruhe gelassen werden wollte, drehte er sich um. Auf eine andere Weise hätte er Louis nicht zum Schweigen bringen können, jedenfalls fiel ihm keine ein. „Ist es das, was du erwartet hast?“, fragte er, seinen Ärger zu bändigen versuchend. „Nein“, sagte Louis. „Aber ich habe es gehofft. Zieh dich wieder an und lass uns ein bisschen fernsehen. Außer du bist sauer und willst gehen.“ „Ich will nicht gehen.“ Harry krabbelte neben seinen Freund und legte sich so hin wie er. „Aber sauer bin ich schon. Ich will nicht, dass du meinen Eltern noch einmal so etwas unterstellst. Meine Probleme sind meine Probleme. Ich weiß, du willst ein Freund sein und für mich da sein, aber ich will nicht, dass sich jemand einmischt. Genau aus diesem Grund habe ich keine Freunde. Weil ich nicht will, dass sich jemand einmischt. Das nimmt ein beschissenes Ende. Also bitte lass mich diese Freundschaft nicht bereuen.“ „Ich verspreche es.“ Da Harry bisher immer vor Louis eingeschlafen war, war ihm noch nicht aufgefallen, was für ein beruhigendes, leises Schnarchen er dabei von sich gab. Er hörte jedes Einatmen des Jungen und passte sich seiner Atmung an. Ein, aus. Ein, Geborgenheit, aus. Ein, Sicherheit, aus. Ein, Stille, aus. Ein, Fürsorge, aus. Ein, Schutz, aus. Als er am Morgen aufstand und den Wecker seines besten und einzigen Freundes ausschaltete, war er sich sicher, dass er schon lange nicht mehr so tief, fest und erholsam geschlafen hatte. Er sollte Louis noch einmal dafür danken, dass er sich so gut um ihn sorgte, überlegte er, während er seine Schuhe anzog und nachhause ging. Harry hatte noch das Essensgeld von gestern und mit dem für heute reichte es für eine Schachtel Zigaretten und er hätte noch genug übrig gehabt, um sich einen Apfel oder ein leeres Brötchen zu kaufen. Er war sehr in Versuchung, sein Geld tatsächlich dafür auszugeben, obwohl Louis ihm gestern verständlich gemacht hatte, dass es besser wäre, wenn er das nicht tat. Er wollte ja auch gar nicht süchtig danach sein. Er sehnte sich nur so sehr nach etwas Ablenkung von dem ganzen Gewirr, was tagtäglich in seinem Kopf stattfand. Seine Gedanken rasten und stoppten nie, jetzt kam auch noch Louis in sein Leben, das machte es nicht unbedingt einfacher. Er musste sich die ganze Zeit zwanghaft vorstellen, wie Louis auf seinen Vater traf, der über diese Freundschaft sowieso nicht wirklich positiv dachte. Aber am meisten verfolgte ihn der Gedanke daran, dass Louis etwas herausfinden könnte. Nicht nur, dass er nach Strich und Faden belogen wurde, sondern auch von der anderen Sache. „Du isst ja schon wieder nichts“, bemerkte Louis, der sich auf den Stuhl neben Harry setzte. Niall nahm gegenüber von ihm Platz. „Ich hab sechs Pfund und kann mich nicht zwischen dem Mittagessen und einer Schachtel Kippen entscheiden.“ „Schlag dir die Idee gleich wieder aus dem Kopf. Hast du schon vergessen, was ich dir gestern darüber gesagt habe? Du sollst die Finger davon lassen.“ „Aber ich darf mir mit dir abends eine teilen? Das macht keinen Sinn.“ „Doch. Wenn ich dich ein- oder zweimal ziehen lasse, dann ist das nicht dasselbe, als hättest du selbst eine Schachtel. Dann wirst du offiziell zum Raucher und du kannst darüber bestimmen, wie viel du rauchst. Und das wird unkontrolliert und artet aus und irgendwann erwischst du dich dabei, wie du eine nach der anderen rauchst. Außerdem weiß ich, wie streng dein Vater ist.“ Erst da wurde Harry wirklich hellhörig. „Was würde er tun, wenn er eine Schachtel in deinem Zimmer finden würde? Oder wenn er riecht, dass du stinkst wie ein Aschenbecher?“ Louis hatte ja doch recht. Er hätte es niemals vor seinem Vater verbergen können. Seufzend schleppte er sich an die Essensausgabe. Was sollte er jetzt mit dem übrigen Geld tun? Er konnte sich die Frage nicht beantworten, bis er wieder zurück am Tisch saß. Niall und Louis führten gerade eine rege Unterhaltung über eine Arbeit, die sie am Vormittag wohl herausbekommen hatten. „Eine fünf, wirklich?“, fragte Louis geschockt. „Ja, ich schwöre es dir. Ich hab’s genau gesehen.“ „Und, was habt ihr?“, murmelte Harry, der etwas unbeteiligt in seinem Kartoffelpüree herumstocherte. „Drei.“ „Zwei.“ „Hm“, gab Harry von sich. Er wusste nicht, wie er darüber eine Konversation führen sollte. „Du wirst die elfte Klasse hassen“, kam es von Louis. „Glaub ich nicht. Harry ist ein Überflieger, habe ich gestern beim Sport gehört.“ Harry gefiel nicht, wie Niall das sagte – so als wäre er gar nicht anwesend. „Überflieger?“, fragte Louis nach. „Na ja, nicht mit diesem Wort hat er’s gesagt. Ich glaube, er sagte Streber oder Nerd oder so etwas.“ „Ich schreibe nur so gute Noten, weil mein Vater mich zum Lernen zwingt“, versuchte Harry sich zu verteidigen und hoffte dabei, dass das nicht allzu merkwürdig klang. Niall gab ein Schnauben von sich. „Meine Eltern können mich zu nichts zwingen.“ Louis wandte sich an Harry und zuckte mit den Schultern. „Du kennst meine Mom, sie wird total irrational, wenn sie nicht kriegt, was sie will. Genau wie meine kleine Schwester. Muss wohl in der Familie liegen.“ „Deine Mom ist ganz okay.“ Harry zuckte mit den Schultern und widmete sich seinem Essen. Niall lenkte Louis’ Aufmerksamkeit wieder auf sich, bis Harry fragte, ob er heute Nacht wieder bei Louis schlafen durfte. „Du schläfst ziemlich oft bei mir.“ „Ja, und? Gestern hast du gesagt, ich kann mich wie zuhause fühlen.“ „Ich hab ja auch nichts anderes gesagt. Ich meine ja nur. Außerdem hat meine Mom danach gefragt.“ „Hat sie ein Problem damit?“ „Nein, das nicht, aber ich glaube, sie wundert sich auch, ob bei dir zuhause alles okay ist und warum du da nicht schlafen willst.“ „Und du weißt, was ich dazu gesagt habe.“ „Ja, schon klar.“
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Chapter Eleven
Irgendwann mitten in der Nacht wachte Louis auf und Harry lag nicht auf dem Sofa. Er sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Er schlug die Decke zurück und stand auf. Dass Harry schlafwandelte, fehlte ihm gerade noch. In der Küche stand ein halbvolles Glas Wasser, welches er mit einem Stirnrunzeln betrachtete. Er war sich sicher, dass das am Abend noch nicht dort gestanden hatte. Aber von Harry war sonst keine Spur. Er ging hinüber ins Wohnzimmer und knipste das Licht an. Das Sofa war leer. Auch dahinter hatte er sich nicht versteckt. Er löschte die Lichter wieder und ging zur Haustür, um nachzusehen, ob seine Schuhe noch neben denen von Louis standen. Sie waren noch da. Aus dem Gästeklo kam ein Würgegeräusch. Oh nein. Er setzte sich neben die Tür und wartete, auch wenn die Geräusche ihn selbst fast zum Kotzen brachten. Nach fünf Minuten der Stille ging die Tür auf. Harry hatte noch das T-Shirt an, das er unter seinem Pullover immer trug und seine Jeans. Er war nie bereit, mehr auszuziehen, auch wenn es nicht sehr bequem war. Er erschrak etwas, als er Louis dort sitzen sah. „Geht es dir gut?“, fragte er und stand auf. „Nein.“ Harry fühlte sich richtig schwach. Nicht einmal gegen seinen Magen konnte er ankämpfen. Er ging in die Küche und trank einen Schluck Wasser, aber sein Hals fühlte sich so gereizt an, dass er den Rest in den Abfluss kippte. Louis folgte ihm die Treppen nach oben und bis in sein Zimmer zurück. „Bist du magersüchtig?“, fragte er besorgt. Harry hielt in seiner Bewegung inne. „Was? Nein.“ Dann murmelte er leise irgendetwas vor sich hin, aber Louis verstand nur das Wort „Schwachsinn“. „Gestern hast du in der Cafeteria nichts gegessen, heute auch nicht, du wolltest nur Kippen und die stillen den Hunger. Außerdem hast du gesagt, du musstest kotzen. Ich denke nur nach. Ich will schlau aus dir werden.“ „Wenn ich magersüchtig wäre, würde ich nicht mit dir darüber reden, dass ich mein Essen auskotze. Außer ich würde wollen, dass du es herausfindest, aber dann hätte ich dir jetzt nicht gesagt, dass es nicht so ist. Also denk weiter nach, Sherlock.“ „Nicht einfach, mit dir befreundet zu sein“, flüsterte Louis, der inzwischen wieder in seinem Bett lag, mit dem Gesicht zur Wand. „Sag Bescheid, wenn du mich loswerden willst“, gab Harry zurück. Es war ein paar Minuten still, während der Lockenkopf darüber nachdachte, ob und wie ernst Louis das eben gemeint hatte und ob er das, was er selbst gesagt hatte, auch ernst gemeint hatte. „Harry?“, hauchte der andere dann. „Ja?“ „Ich mag dich echt.“ „Ich dich auch. Danke, dass du für mich da bist.“ „Ich lasse dich nicht mit deinen Problemen allein.“ „Danke.“
Zum Mittagessen kam Louis heute etwas später und während er in der Schlange stand, sah er mit merkwürdigen Blicken immer wieder zu Harry, dann redete er mit Niall und sah wieder zu ihm hinüber. „Er fühlt sich nicht einmal schuldig, glaube ich.“ „Keine Ahnung“, antwortete Niall, den es nicht wirklich zu interessieren schien. „Findest du es nicht auch scheiße von ihm? Er hat mich einfach so angelogen.“ „Was willst du jetzt tun? Ist doch sein Ding, ob er dir so etwas erzählt oder nicht. Ich hätte es dir auch nicht erzählt, wenn ich er wäre.“ „Echt nicht?“ „Nicht sofort. Viel zu persönlich, um es jemandem zu erzählen, den man erst kurz kennt.“ „Wenn er es sofort erzählt hätte, dann hätte er mich nicht die ganze Zeit anlügen müssen, wenn das Thema aufkommt.“ „Ist vielleicht leichter für ihn als die Wahrheit.“ „Hm. Was soll ich jetzt tun? Soll ich abwarten, bis er es mir von selbst sagt oder ihn zur Rede stellen?“ Sie gingen in kleinen Schritten näher an die Theke heran. „Dein Ding. Ich würde warten, aber ich weiß, dass du viel zu ungeduldig bist.“ „Ich will ihn nicht anschreien, aber ich bin schon echt sauer. Er hat mich angelogen.“ „Hast du ihn nie belogen?“ „Nein.“ Es blieb kurz still. „Ich meine, was sagt das über ihn aus – dass er es okay findet, mich zu belügen, obwohl ich sein einziger Freund bin. So als wäre das nichts wert für ihn.“ „Du interpretierst zu viel da hinein. Vielleicht ist es einfach nur ein heikles Thema für ihn. Du weißt schon, wie bei Scheidungskindern, wenn sie über ihre Eltern reden.“ „Das ist doch was vollkommen Anderes.“ Die Schlange löste sich vor ihnen auf und sie nahmen ihr Mittagessen, bevor sie zu dem Tisch gingen, an dem Harry saß. „Vielleicht sollte ich mich lieber woanders hinsetzen, wenn du mit ihm darüber redest.“ „Nein, vielleicht will er ja gar nicht darüber reden.“ Sie setzten sich. „Hey, Louis, Niall.“ Letzterer grüßte den Lockenkopf mit einem Nicken zurück. Louis grüßte Harry nicht. Er fragte sich, wo er anfangen sollte. „Warum hast du mich belogen?“, fragte er schließlich ganz direkt. Harry drehte sich der Magen um. Er fragte sich, was Louis herausgefunden hatte. „Was meinst du?“ „Gibst du jetzt nicht einmal zu, dass du gelogen hast oder war das nicht deine einzige Lüge?“ „Manche Dinge sind dazu bestimmt, geheim zu bleiben. Ich habe viele dieser Dinge in meinem Leben.“ „Heißt das ja? Du hast mich mehr als einmal belogen?“ „Ja. Was hast du heraus gefunden?“ „Das mit deiner Mom.“ Harry war erleichtert. Schließlich war das eine seiner harmloseren Lügen. Trotzdem war ihm jetzt der Appetit vergangen. Er schob sein Tablett von sich weg. „Von wem?“, fragte Harry. Sein Hals war schlagartig sehr eng geworden. „Ein Typ aus deiner Jahrgangsstufe hat es heute zu einem anderen Typen gesagt. Als ich ihn fragte, woher er das weiß, hat er gesagt, er war mal dein Freund, aber dann nicht mehr.“ „Lass uns später darüber reden.“ „Ich will nicht warten.“ „Ist nicht unbedingt der richtige Ort, um darüber zu reden.“ „Aber wir sehen uns erst heute Abend wieder.“ „Damit wirst du leben müssen.“ „Nein, sag es mir jetzt, bitte. Sag mir einfach, warum.“ „Warum hätte ich dir das sagen sollen?“ „Und warum nicht?“ „Ich hab es doch niemandem gesagt.“ „Woher wusste der Kerl aus deinem Jahrgang das dann?“ „Er wohnt in der Nachbarschaft und schlimme Nachrichten verbreiten sich schnell.“ Er zuckte mit den Schultern. „Von mir weiß er es nicht. Ich habe es nämlich noch nie laut ausgesprochen. Ich kann es nicht mal in Gedanken sagen.“ „Das gibt dir nicht das Recht, mich zu belügen.“ „Ich weiß. Es tut mir auch leid, wirklich. Wenn die Wahrheit nur nicht so schwer wäre, dann würde ich sie dir auch sagen. Aber so einfach ist das nicht und wirklich, wenn du sie kennen würdest, wärst du froh, sie nicht zu kennen.“ „Das glaube ich dir nicht.“ „Aber so ist es. Ich versuche nur, dich zu beschützen.“ „Das sagt sich so leicht. Wie soll ich dir jemals wieder irgendetwas glauben, wenn du mich schon während nicht einmal zwei Wochen mehr als einmal belogen hast.“ „Nur wenn es nicht anders ging. Und das mit meiner Mom … es hat mit einer Lüge angefangen, aber dann konnte ich nicht aufhören und dir sagen, wie es wirklich ist, weil ich mir dann vorgestellt habe, was ich sage, wäre wahr und das war viel besser als die Realität. Das klingt so dumm, aber wann immer ich über sie gesprochen und gelogen habe, habe ich nur gelogen, weil ich wünschte, meine Lügen wären wahr.“ Harry standen die Tränen in den Augen. Louis rutschte mit seinem Stuhl näher an ihn heran, um ihn zu umarmen, aber bevor er das konnte, stand er auf und verließ den Tisch ohne ein weiteres Wort. Schnellen Schrittes ging er aufs Klo und schloss sich in einer Kabine ein, damit niemand sah, dass er weinte. Er wusste, dass das passieren würde, deshalb wollte er dieses Gespräch eigentlich vermeiden. In seiner Brust schmerzte es entsetzlich, so als würde sein Herz gleich in zwei Hälften reißen. Er ließ sich an der Wand der Kabine auf den Boden sinken und zwang sich, leise zu sein, als er hörte, wie die Tür aufging. „Harry?“ Die Schritte kamen vor der verschlossenen Kabinentür zum Stehen. Er ging in die Toilettenkabine nebenan und lehnte sich von der anderen Seite gegen die Wand. „Tut mir so leid, Harry, ich hätte wissen müssen, dass das ein wunder Punkt für dich ist.“ „Ja, hättest du.“ Er wischte mit einem Fetzen Toilettenpapier über seine Nase und warf es ins Klo. „Bist du mir böse?“ „Bist du mir böse?“ „Nein, ich bin nur traurig. Und ich hab Angst, dass jemand aus meiner Klasse bemerkt, dass ich verheult bin.“ Er musste dringend aufhören, bevor er wirklich noch danach aussah. „Die hassen mich sowieso schon alle und ich weiß nicht, warum.“ „Vielleicht glauben die, du hältst dich für etwas Besseres, weil du mit niemandem von ihnen redest.“ „Kann schon sein, auch wenn es gar nicht so ist.“ „Ich weiß doch, dass es nicht so ist.“ Es blieb kurz still. „Hör zu, du wirst das jetzt nicht hören wollen. Ich weiß, dir geht es sowieso schon schlecht. Aber ich will dich davor warnen, dass dich die Leute vielleicht anders behandeln, jetzt wo du mit mir abhängst. Wegen der Sache. Das ist so ein Gerücht. Die könnten denken, du wärst auch so, genauso wie sie es von Niall behaupten.“ „Ist ja nicht so als könnte das meinen guten Ruf ruinieren.“ Harry musste fast lachen. Er wischte sich die Tränen ab und stand auf. Es klang zwar idiotisch, aber Louis hatte es tatsächlich geschafft, ein großes Problem mit einem kleinen in den Hintergrund schieben. So als würde man auf eine riesige Klaffende Wunde ein winziges Pflaster kleben, das bei weitem nicht den Schaden beseitigte, aber irgendwie half es Louis, weil es ihn dazu brachte, über trivialere Probleme nachzudenken. Er spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, währenddessen tauchte Louis hinter ihm auf. „Du bist ein besserer Freund als ich es verdiene.“ „Ich würde dich gerne umarmen, aber ich weiß, dass du das nicht willst.“ „Danke, dass du das verstehst. Du kannst dir ja vorstellen, wir würden uns umarmen.“ „Ich fürchte, dafür reicht meine Phantasie nicht aus.“ Er wandte sich der Tür zu. „Komm, lass uns schnell aufessen, bevor der Unterricht wieder beginnt.“ „Okay.“
Am Nachmittag machte Harry wie immer seine Hausaufgaben und er freute sich schon darauf, am Abend wieder bei Louis zu sein. Dieser wiederum konnte sich nicht wirklich konzentrieren, während er über seinen Hausaufgaben saß. Er konnte nicht aufhören, an Harry. Auf eine Weise, die ihm sehr unangenehm war. Er sollte nicht darüber nachdenken. Er konnte ihn nicht einmal berühren. Was sagte das über ihn aus? Dass er psychisch total kaputt war. Besser er schlug sich diese dummen Gedanken gleich wieder aus dem Kopf. Es machte ohnehin keinen Sinn. Harry war nicht wie er. Wobei … da war er sich nicht ganz sicher. Er hatte mit Harry nie über Beziehungen gesprochen. Vielleicht würde er heute Abend mit ihm darüber reden, bevor er die Gedanken endgültig aufgab. Wieso wünschte er sich nur so sehr, dass Harry bei ihm im Bett schlief? Sich an ihn lehnte, während sie irgendwelche sinnlosen Videospiele spielten? Sich morgens oder beim Mittagessen zur Begrüßung umarmten? Sich kitzelten, bis sie gegenseitig aus dem Bett oder vom Sofa fielen? Sich küssten? Eng umschlungen auf diesem Bett schliefen? Das war seine Vorstellung von einer Beziehung mit Harry. Aber alles, was er als romantisch empfand, war mit Körperkontakt verbunden, also würde er diese Beziehung wohl nur in seiner Vorstellung führen, selbst dann, wenn Harry mit ihm zusammen sein wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, was von einer romantischen Beziehung noch übrig blieb, das sich von einer rein freundschaftlichen trennte. Miteinander Essen teilen vielleicht? Ihm fiel nichts ein. Er sollte die Idee schnell wieder verwerfen, aber die Gedanken ließen ihn nicht los. Vielleicht sollte er mit Niall darüber reden. Sie waren sehr verschieden. Niall konnte alles immer von einer anderen Seite betrachten und anders beurteilen. Er konnte sich auch viel besser in Leute hineinversetzen. Louis war dafür nicht gemacht. Er sah immer nur das, was er sah.
„Hattest du schon einmal eine Beziehung?“, fragte Louis leise ins Dunkel hinein. Harry wurde rot und war sehr froh, dass Louis das nicht sehen konnte. „Nein. Das mit meiner Mom … das ist jetzt bald fünf Jahre her und seitdem habe ich keinen Gedanken an so etwas verschwendet. Und davor fand ich Mädchen noch eklig.“ Er schnaubte mit einem Augenrollen. „Hattest du schon eine?“ „Nein, aber ich hab bisher zwei Mädchen geküsst. Einmal beim Flaschendrehen im Schullandheim und einmal, weil ich mir beweisen wollte, dass ich nicht schwul bin. Aber ich war schon ein paarmal verliebt.“ „Ich noch nie.“ „Ist ein verrücktes Gefühl. Es versetzt dich in die höchsten Höhen von Glücksgefühlen und gleichzeitig in Angst und Panik, vor allem, wenn man sich fragt, ob jemand einen zurück liebt.“ Er schluckte. „Hm“, gab Harry von sich. „Ich hab mich noch nie überhaupt zu jemandem hingezogen gefühlt. Das würde sowieso nur alles komplizierter machen.“ Louis schwieg. Was hätte er dazu schon sagen sollen? „Was meinst du mit komplizierter?“ Harry drehte sich um. „Das würdest du nicht verstehen. Hör zu, ich will dich nicht anlügen, aber dafür musst du mir versprechen, mich nicht mehr nach zuhause zu fragen. Ich verspreche dir, du musst dir keinerlei Sorgen machen. Wenn doch, dann sage ich es dir.“ „Okay. Versprechen gegen Versprechen.“ Stille breitete sich aus. Louis hing seinen verzweifelten, dummen Gedanken nach. Er war so ein Idiot. Harry würde nie im Leben das gleiche empfinden wie er, egal wie sehr er es sich erhoffte. „Louis? Bist du noch wach?“ „Ja.“ Er wälzte sich erneut herum. „Kannst du nicht schlafen?“ „Nein. Du auch nicht?“ „Ich warte, bis du eingeschlafen bist. Dein Schnarchen ist sehr beruhigend.“ „Findest du?“ Harrys unerwartetes Kompliment brachte ihn zum Lächeln. „Ja. Da fühle ich mich nicht so allein.“
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Chapter Twelve
Ja oder nein? Sollte er oder sollte er nicht? Es kam ihm so falsch vor, es Harry zu sagen. Er hätte ihn sicher nicht mehr ansehen können, wenn er das gewusst hätte. Aber gleichzeitig wollte er Harry nicht anlügen, das kam ihm noch viel falscher vor. Harry hatte ihn zwar auch schon belogen, aber das gab ihm ja noch lange nicht das Recht, dasselbe zu tun. Zumal er nicht wusste, wie lange er es noch für sich behalten können würde. Es war so schwer, ihm in diese grau-grünen Augen zu sehen und nicht das Bedürfnis zu bekommen, sie zum Leuchten zu bringen. Er wollte Harry nur einmal strahlen sehen. Ein Lächeln würde ihm bestimmt stehen. Er war so schlecht gelaunt, immer, die ganze Zeit über. Und Louis durfte nicht einmal erfahren, warum. Aber das musste er auch nicht, solange er ihn glücklich machen konnte. Mehr wollte er doch nicht. Ihn ansehen und ihn schon allein damit zum Lächeln bringen. „Louis.“ Verdammt! Er war vollkommen abgedriftet und hatte die Frage seiner Lehrerin dabei überhaupt nicht mitbekommen. Niall flüsterte ihm unauffällig die richtige Antwort zu, wofür Louis sich leise bedankte, sobald seine Lehrerin sich als zufrieden zeigte. „Wo bist du?“, fragte Niall. „In deinem Kopf.“ „Bei Harry.“ Irgendwie schaffte Louis es dabei nicht, nicht niedergeschlagen auszusehen. Er hatte den Kopf auf der Faust abgestützt und schraffierte mit dem Bleistift den Blattrand des Aufgabenblattes. „Ich muss dir später etwas sagen. Du musst schwören, es niemandem zu erzählen.“ Niall machte einen abwertenden Laut, der irgendwo auf der Skala zwischen Schnauben und Lachen lag. „Als hätte ich nicht schon längst bemerkt, wie du ihn anstarrst. Außerdem habe ich nicht vergessen, was du vor ein paar Wochen noch gesagt hast, bevor ihr euch so richtig kanntet.“ Ach ja. Louis hatte schon vollkommen vergessen, dass er das gesagt hatte. Damals in der Mittagspause hatte Louis Harry lange angesehen und Niall gesagt, wie gutaussehend er ihn fand. Wer konnte auch diese Locken ansehen ohne den Finger um eine davon zu wickeln. Bisher hatte er dem nur widerstehen können, weil Harry gesagt hatte, dass er nicht angefasst werden wollte. Als er letztes Wochenende weinend vor der Haustür stand und Louis ihn in den Arm genommen hatte, hatte er auch nur kurz über seine Haare gestreichelt. Sie waren so weich gewesen. Er konnte seinen Kopf nicht davon abhalten, sich zu fragen, ob seine Lippen wohl auch so wundervoll weich sein würden. Was für ein dummer Gedanke. Harry würde vor einem Kuss wahrscheinlich zurückschrecken. Schon allein weil er ein Junge war. „Ich kann es nur wieder sagen: ich weiß nicht, was du an ihm findest. Ich werde aus ihm nicht schlau.“ „Ich auch nicht.“ Louis seufzte. „Er ist so verschlossen. Aber er weckt irgendetwas in mir.“ „Louis!“, zischte die Stimme seiner Lehrerin spitz. Augenblicklich saß der Angesprochene wieder kerzengerade auf seinem Stuhl und sah an die Tafel nach vorn. „Ja?“ Irgendwie hatte er seine Stimme verloren, denn es klang eher nach einem Krächzen, was er da von sich gab. „Möchten Sie an meiner Stelle den Unterricht leiten?“ „Nein, Ma’am.“ „Wenn ich den Unterricht halte und nicht Sie, dann werden Sie sich an meine Regeln halten.“ Sie wandte sich der Tafel zu. „Regel Nummer eins: Wenn ich rede, halten Sie die Klappe, Louis. Und wenn ich sie noch einmal dabei erwische, wie sie unkonzentriert sind oder reden, dann schreiben Sie mir eine schöne Seite, warum Sie es nicht für nötig halten, dem Unterricht zu folgen. Ihre Noten sprechen nicht gerade dafür, als könnten Sie sich das erlauben.“ „Ja, Ma’am.“ Innerlich rollte er mit den Augen. Er konnte diese Frau nicht ausstehen. Die restlichen Minuten bis zum Gong kommunizierten Louis und Niall mittels Zettel und Stift.
Ich weiß nichts über H trotzdem bin ich total hingerissen
ist H überhaupt..?
Die beiden schrieben verschlüsselt, falls die Lehrerin doch noch dahinter kam und den Zettel laut vorlas, was beide ihr zutrauen würden.
keine Ahnung, H sagte, hat noch keine Erfahrungen
frag, wie H sich eine Beziehung vorstellt
H sagt, kann sich keine Beziehung vorstellen (im Moment)
weißt du warum?
...verschlossen...
bad situation
Louis nickte, als er die Nachricht las. Niall war zwar nicht immer eine Hilfe, aber zumindest konnte er zuhören.
Was soll ich tun?
[_] Für mich behalten?
[_] H sagen?
To be continued, schrieb Niall daraufhin und tippte auf sein Handgelenk. Kaum eine Minute darauf ertönte der Gong und die Klasse wechselte den Raum. Auf dem weg nach unten in den Physiksaal liefen sie Harry über den Weg. Er lief etwas langsamer seiner Klasse hinterher, ganz allein. Im Flur war es laut, alle redeten wild durcheinander, nur Harry schwieg vor sich hin. Niall stupste Louis mit dem Ellbogen an, als er dem Lockenkopf seiner Meinung nach einen Moment zu lange hinterher sah. „Reiß dich ein bisschen zusammen“, zischte er. „Man riecht es ja meilenweit.“ Louis rollte mit den Augen. „Ich glaube, er würde es nicht merken, egal, was ich mache, bevor ich es nicht laut ausspreche.“ „Meinst du?“ „Du kennst ihn nicht so wie ich. Weißt du, emotional gesehen ist er in der Hinsicht auf dem Stand eines Elfjährigen. Er hat keine Ahnung. Er weiß nichts und er hat sich nie so gefühlt wie ich. Er sagte, das hängt mit seiner Mom zusammen. Er hat es nie verarbeitet.“ „Dann solltest du es vielleicht lieber für dich behalten. Keine Ahnung, wie er damit umgehen würde. Aber er kann es nicht erwidern und du wirst es hassen, das zu hören. Das ist scheiße und ich will nicht, dass es dir beschissen geht und ihm beschissen geht, weil er ein schlechtes Gewissen hat und dass eure Freundschaft irgendwie kaputt geht, weil ihr euch nicht mehr ansehen könnt.“ „Ich soll es für mich behalten?“ „Das ist meine Meinung. Ich weiß, das kannst du früher oder später nicht mehr, weil du keine Geheimnisse für dich behalten kannst. Aber ich halte es für die bessere Lösung. Denk darüber nach, du weißt, dass ich recht habe. Solche Sachen machen Freundschaften kaputt.“ „Das heißt, mir bleibt keine Wahl? Das willst du sagen? Ich behalte es für mich, solange ich kann, dann bricht es irgendwann aus mir heraus und unsere Freundschaft ist am Arsch? Das sind tolle Aussichten. Als würde ich dafür bestraft werden, was ich fühle.“ „Sorry. Wenn ich etwas tun könnte, würde ich es.“ „Ich glaube, ich brauche ein bisschen Abstand.“ „Von mir?“ „Von Harry. Wann ist nur alles so kompliziert geworden?“ „Genau zu dem Zeitpunkt, als du ihn in der Cafeteria angesehen und gesagt hast ,Sieht er nicht toll aus? Wie gerne ich diese Locken anfassen würde...ʻ.“ Er hängte ein Schnurren an. „So habe ich nicht gemacht“, fauchte Louis und schubste ihn an der Schulter. Er wurde etwas rot im Gesicht. Niall lachte, Louis ignorierte das jedoch gekonnt und tat so, als würde er sich auf seinen Lehrer konzentrieren, der gerade um Ruhe bat.
In der Mittagspause sagte Louis Harry, dass er heute lieber bei sich zuhause schlafen sollte. Er fühlte sich schlecht, weil er es hasste, was er von seinem Zuhause wusste und ahnte. Das Gefühl am Abend machte es nicht besser, denn er konnte nicht schlafen. Das Sofa war leer und er konnte nicht aufhören, es anzustarren. Harry war jetzt zuhause, es ging ihm bestimmt schlecht und Louis hatte ihm nicht einmal erzählt, warum er nicht hier schlafen konnte. Er fühlte sich schuldig, zumal es nichts besser machte, wenn er nicht da war. Ihm fehlten ihre nächtlichen Gespräche und … eigentlich wusste er gar nicht, was ihm so an Harry fehlte. Dass sie zusammen irgendwelche schlechten Serien sahen und sich über die blöden Charaktere unterhielten? Dass sie sich die Kippe am Abend teilten? Dass sie auf seinem Bett lagen und sich manchmal einfach nur anschwiegen, weil sie nichts sagen mussten? Harry anzusehen, wenn er es gar nicht bemerkte? Ja, das fehlte ihm definitiv. Was Harry hingegen fehlte, war allein Louis’ Sofa. Er lag auf dem Boden, ihm war kalt und hart und sein Rücken tat ihm weh. Es war scheiße. Man hätte es nicht anders beschreiben können. Er hatte eigentlich nicht erwartet, noch öfter als einmal die Woche samstags in seinem Zimmer schlafen zu müssen. Es war so unbequem. Wenn er auf der Seite lag, dann drückte es an der Rippe, wenn er auf dem Rücken lag, dann drückte es an seinem Becken, wenn er auf dem Bauch lag, dann drückte es noch mehr an den Rippen. Es war hoffnungslos. Er setzte sich auf und lehnte sich an die Heizung. Er wickelte die Decke um sich und legte sein Kissen zwischen die Heizung und seinen Kopf. Das war die am wenigsten unbequeme Position, aber seine Schulter drückte ein wenig und sein Arm wurde nach einer Weile unangenehm heiß. Immer dann drehte er sich auf die andere Seite. So war es wenigstens nicht kalt. Schlaf fand er trotzdem keinen. Die Nacht schien nicht vorüber gehen zu wollen, doch als sein Vater nachhause kam, fühlte sie sich trotzdem sehr kurz an, dadurch, dass er so wenig geschlafen hatte. Er ging in die Küche und frühstückte, fast schlief er über seinem Teller ein. „Harry“, mahnte ihn sein Vater. „Tut mir leid, ich hab schlecht geschlafen.“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Deine eigene Schuld. Du hast ja das Jugendamt angerufen.“ „Ich bereue das sehr.“ „Ich weiß. Sonst hättest du der Frau alles gesagt, was sie hören wollte. Aber du bist zu schwach.“ „Warum wohl?“, murmelte Harry unverständlich vor sich hin. „Was hast du gesagt?“ Sein Vater zog die Brauen zusammen. „Warum bin ich wohl so schwach wie ich bin?“ „Erzähl es mir.“ Die Stimme seines Vaters nahm einen missbilligenden Ton an. „Du hast mich nie darin bestätigt, jemandem meine Meinung zu sagen oder mich zu verteidigen, du hast mich nur immer weiter in die Ecke gedrängt und mich klein gemacht.“ „Pass auf, was du sagst, Harry.“ Seine Augen wurden schmal. „Dafür, dass du nicht zu wissen scheinst, wie man sich selbst verteidigst, wirfst du mit ziemlich respektlosen Anschuldigungen um dich. Wer hat dir das beigebracht? Dein neuer Freund?“ „Nein.“ Er stand auf, um zu demonstrieren, dass das Gespräch nun vorbei war, und packte den Rest seines Frühstücks in eine Brotdose, um es während der Pause zu essen. „Fahr mit dem Bus zur Schule.“ „Der fährt in zehn Minuten.“ „Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du so mit mir sprichst.“ Harry mahlte mit den Kiefern und musste sich sehr zurückhalten. Einen Moment stand er noch unnütz in der Küche herum, dann packte er die Brotdose in seinen Rucksack, holte zog sich im Badezimmer eilig um und spülte sich den Mund mit etwas Mundwasser aus, zum Zähneputzen blieb ihm keine Zeit mehr, denn er musste auch noch zur Haltestelle laufen. Na ja, er rannte eher, als er den Bus heranfahren sah. Der Fahrer sah ihn zum Glück im Rückspiegel und wartete noch auf ihn. Louis sah von seinem Handy auf, als er einstieg und hob seinen Rucksack auf den Boden, um Harry einen Platz frei zu machen. „Hey.“ „Hi.“ Er reichte ihm einen seiner Kopfhörer. „Warum fährt dich dein Dad heute nicht?“ „Woher weißt du, dass mein Dad mich sonst zur Schule fährt?“ Er steckte sich den Kopfhörer ins Ohr. „Ich hab dich schon ein paarmal aus dem Auto steigen gesehen. Außerdem … ich meine, wer sollte dich sonst fahren, wenn nicht dein Vater?“ „Hör auf, solche Sachen zu sagen.“ Harry verschränkte die Arme und rutschte etwas tiefer in den unbequemen Sitz, der ihm angesichts seiner Schlafsituation trotzdem unglaublich komfortabel gegenüber des Bodens in seinem Zimmer vorkam. „Sorry.“ Es blieb so lange still, dass Harry einschlief. Louis bemerkte sofort, dass er schlecht geschlafen haben musste, denn eigentlich war er nicht so müde. Es versetzte ihn wieder ins Grübeln, was bei ihm zuhause wohl los war. Er beschloss, Harry heute wieder bei sich schlafen zu lassen. Sie hatten beide nichts davon, wenn er zuhause schlief. Zwar würde Louis es nur schwerer haben, sein Geheimnis für sich zu wahren und einen klaren Gedanken zu fassen, aber wenigstens profitierte Harry davon. Er stupste den Lockenkopf bei der Haltestelle der Schule mit dem Ellbogen an, damit dieser aufwachte. „Wach auf, Harry, wir sind da“, flüsterte er, während die Leute um sie herum schon ausstiegen. Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie dann blinzelnd. „Sorry, hab kaum geschlafen.“ Er nahm seinen Rucksack, stand auf und stieg aus. Louis folgte ihm. „Heute Nacht schläfst du wieder bei mir.“ In Harrys Augen leuchtete etwas auf. „Danke. Du musst mir auch gar nicht sagen, warum du mich gestern nicht da haben wolltest, das ist schon okay. Ich weiß, dass ich mich total aufdränge.“ „Das ist okay für mich.“ Harry drehte den Kopf. „Wo ist Niall eigentlich?“ „Er fährt mit einem anderen Bus. Er wohnt in Wheatly.“ „Ach so.“ „Komm, gehen wir rein. Ist ein bisschen kühl.“ „Okay.“ Sie setzten sich in die Aula und unterhielten sich vor dem Unterricht noch ein bisschen. Dabei nickte Harry noch ein paarmal fast weg. Ein paar Minuten vor dem ersten Gong gingen sie dann in ihre jeweiligen Klassenzimmer.
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Chapter Thirteen
Obwohl die Mittagspause für Harry zusammen mit Louis und Niall bis jetzt immer schnell vorüber gegangen war, zog sie sich heute in die Länge. Es begann mit dem plötzlichen Schweigen, das eintrat, als Harry in das Blickfeld der beiden Jungen geriet. Er ging auf ihren Tisch zu und stellte sein Tablett ab. Die Stille war ihm so unbehaglich, dass er nicht einmal eine knappe Begrüßung heraus bekam, stattdessen sah er beide nur einen Moment lang irritiert an, bevor er dann von Niall ein „Hey, Harry“ und von Louis ein gezwungen wirkendes Lächeln bekam. Harry hatte schon oft bemerkt, wie Leute in seiner Gegenwart abrupt ihre Gespräche beendeten, meistens ging es in diesen dann um ihn selbst, wahrscheinlich war es hier genauso. Louis fragte sich nur, was Louis ihm alles erzählte. Hoffentlich nicht die Tatsache, wie verweichlicht er war. Das musste wirklich niemand wissen. Harry schämte sich immer noch ein bisschen, dass Louis ihn so gesehen hatte – und das nicht nur einmal. Jedenfalls, wenn sie ihr Gespräch wegen ihm abgebrochen hatten, weil es um ihn ging, konnte es nichts Gutes gewesen sein. Harry führte den Gedanken nicht weiter, weil er sich sonst nur an alles Schlechte in seinem Leben erinnert hätte. Er versuchte stattdessen, ein neues Thema aufzugreifen. Etwas unbeholfen fragte er, was sie in den vorhergehenden Stunden gehabt hatten, um das Schweigen aufzulösen. „Mathe, Doppelstunde.“ Louis stöhnte. Das war’s. Harry wartete einen Moment lang, ob Niall irgendetwas dazu sagen würde, was er aber nicht tat, also suchte er nach einem neuen Thema, das er hätte anschneiden können. Ihm fiel aber nichts ein. „Wollt ihr vielleicht, dass ich gehe?“ … damit ihr weiter hinter meinem Rücken über mich reden könnt?, fügte er im Stillen hinzu. „Ich wollte euer Gespräch nicht stören.“ Die beiden wechselten einen Blick. „Nein, wir können auch später darüber reden, bleib hier.“ „Okay.“ „Worüber habt ihr denn geredet?“ Noch so ein vielsagender Blick, den sie austauschten. „Fußball“, sagte Louis im gleichen Moment, in dem Niall „Mathe“ sagte. Louis warf ihm einen scharfen Blick zu. „Schon gut, es ging um mich.“ Harry rollte mit den Augen. „Macht doch kein Geheimnis draus.“ „Es ist kein Geheimnis … wir reden später darüber, heute Abend … oder Morgen … oder“, Niall stieß ihm denn Ellbogen in die Rippen. Er verzog kurz das Gesicht. „Später. Du kommst doch heute Abend oder?“ „Hmm, ja.“ Er zuckte mit den Schultern. Normalerweise hätte er das nicht so zögerlich gesagt, aber er war sich nicht sicher, worauf das hinauslaufen würde. Harrys schlimmste Vorstellung für diesen Abend würde sein, dass Louis ihn nicht mehr bei sich schlafen ließ oder nicht mehr mit ihm befreundet sein wollte. Aber um ihm das zu sagen, hätte er nicht gewartet oder ihn extra noch am Abend zu sich eingeladen. Beides würde es wohl eher nicht sein. Was sonst konnte es sein, das Louis ihm nicht hier und jetzt sagen konnte? Er war doch sonst nicht darauf bedacht, auf die richtige Atmosphäre zu warten, wie beispielsweise bei dem Gespräch über Harrys Mom. Er konnte sich nichts darunter vorstellen.
Louis öffnete die Tür, er wirkte angespannt. Er bat Harry herein, der sich fröstelnd die Arme rieb. Harry hatte sich den ganzen Tag auf nichts anderes konzentrieren können, als auf diesen Moment, jetzt wo er da war, platzte er fast vor Ungeduld, ähnlich ging es Louis. Er war so aufgeregt, dass er sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob er es ihm sagen sollte. Es war viel schwerer, jetzt wo er so vor ihm stand. Den ganzen Nachmittag lang hatte er sich genauestens überlegt, was er sagen würde, aber jetzt war es, als würden seine perfekt zurecht gelegten Worte mit seinem Angstschweiß wegschwimmen. Er war noch nicht bereit dazu, es Harry zu sagen, eindeutig nicht. „Ich hab … Hast du Lust auf Tee? Ich hab Wasser aufgekocht, falls du …“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ja, hm … okay.“ Harry suchte sich eine Teesorte aus und sie setzten sich beide mit dampfenden Tassen ins Wohnzimmer. Sie saßen sich auf dem Sofa gegenüber, beide an die Armlehne gelehnt.„Sagst du mir jetzt diese Sache, die du mir heute Mittag nicht sagen wolltest?“ Louis schüttelte seinen Kopf und lehnte ihn dann an die Rückenlehne. „Mach dir keine Sorgen darüber.“ „Wenn du es sagst.“ „Ja, wirklich. Ich werde es dir schon noch sagen, aber bis dahin ist es nicht dein Problem.“ „Ein Problem?“ „Entweder es ist ein Problem oder es ist keins. Jede Münze hat zwei Seiten und bevor du sie wirfst, weißt du nicht, auf welche sie fällt.“ „Was?“ Bei dem dummen Gefasel, das Louis vor sich hin redete, musste er fast lachen. „Na ja, wie auch immer. Das hat meine Mom dazu gesagt. Sie meinte damit wohl, bevor ich es dir nicht gesagt habe, ist es weder ein Problem, noch ist es keins.“ „Das ergibt keinen Sinn für mich, aber solange es dir bei dieser Ungewissheit noch gut geht, ist das wohl egal. Ich frage mich nur, warum du zuerst mit irgendwie jedem sonst darüber redest, aber nicht mit mir, wenn es doch eigentlich um mich geht.“ „Sei nicht beleidigt.“ „Bin ich nicht. Ich frage es mich nur.“ „Ist schwer, über so etwas zu reden.“ „Hm, ja … das kommt mir bekannt vor.“ Er lächelte halb. Louis warf ein Lächeln zurück und stieß seine Faust gegen Harrys.
Sie redeten noch eine Weile lang, der Tee wurde kalt, sie gingen erst schlafen, als Louis’ Mom sie ins Bett scheuchte, weil es schon so spät war. In seinem Zimmer blieben sie trotzdem noch eine Weile lang wach und unterhielten sich. Na ja, Louis redete eher, aber Harry hätte ihm stundenlang zuhören können. Er war fasziniert davon, wie Louis sich für die kleinsten Dinge begeistern konnte, während Harry … er selbst begehrte im Moment am meisten sein eigenes Bett. Aber wie er so darüber nachdachte, würde ihm so manches Gespräch mit Louis entgehen, wenn sie nicht diese gemeinsamen Übernachtungen teilen würden. „Vielleicht sollten wir schlafen. Ich bin echt müde, hab schon letzte Nacht so schlecht geschlafen.“ „Ja … du hast wohl recht. Gute Nacht.“ „Schlaf gut.“
Der Wecker dröhnte wie immer früh am Morgen. Normalerweise wachte Louis davon nicht auf, jedenfalls rührte er sich meistens kein Stück, aber heute setzte er sich sogar auf. Er umarmte Harry sogar kurz zum Abschied, als dieser den Handywecker ausschaltete. „Kannst du …“, Louis räusperte sich, „… den Vorhang zu machen?“ „Ja, klar.“ Er wurde neidisch, als er so in der Dunkelheit auf Louis herab blickte, der bis in die späten Morgenstunden ausschlafen durfte und dann sein Wochenende genoss. Für Harry hingegen war der Samstag hingegen der stressigste Tag der Woche. Er musste die ganzen Hausarbeiten erledigen, die sich über die Woche hinweg angesammelt hatten. Wäsche waschen, staubsaugen, Geschirr spülen, die Zimmer aufräumen, bügeln, Wäsche sortieren, am Mittag musste er sich etwas kochen, weil sein Vater dann schlief und ebenfalls sein Wochenende genoss. Es war zum Kotzen. Harry hatte sich schon lange geschworen, dass er, sollte er jemals in eine feste Beziehung mit jemandem geraten, sich solche Aufgaben teilen würde. Schließlich wusste er, wie anstrengend das alles war. Das einzige, was sein Vater an diesem Tag machte, war seinen Schlaf für eine Stunde zu unterbrechen und den Wocheneinkauf zu erledigen. Er hatte also nur diese eine Stunde am Tag, auf die er sich eigentlich freuen konnte. Und das tat er nicht einmal wirklich, weil das der Zeitraum war, in dem er staubsaugen musste, weil es sonst seinen Vater beim Schlafen gestört hätte. Ja, schon klar, er arbeitete sechzig Stunden in der Woche und tat alles, damit Harry es gut hatte, aber das hatte er nicht. Er hätte ihm einen größeren Gefallen damit getan, wenn er eine neue Frau angeschleppt hätte. Harry konnte sich allerdings schon lange keine Frau mehr an der Seite seines Vaters vorstellen. Aus ihm war so etwas Widerliches geworden. Er hatte sich schon oft gefragt, ob sein Vater schon immer so gewesen oder es eine Kurzschlussreaktion auf den Tod seiner Frau, den er nie überwunden hatte, gewesen war. Der Tag kroch schleppend vor sich hin. Während er nach dem Mittagessen darauf wartete, dass der Trockner fertig war, sah er sich ein paar Cartoons an und trauerte dem verlorenen Teil seiner Kindheit hinterher. Wann immer er das tat, stieg in ihm das starke Bedürfnis an, einfach wegzulaufen. Vor seinem Dad, seinen Problemen. Er hatte es jedoch schon einmal getan und es hatte nichts gebracht als Ärger. Den ganzen Nachmittag lang brachte er damit zu, vor dem Fernseher Kleidung zu bügeln und zu falten und am Abend musste er auch noch seinen Vater bekochen. Harry hatte erwartet, dass das irgendwann zur Normalität wurde, aber er wusste, dass andere Jugendliche in seinem Alter so etwas bestimmt nicht tun mussten – das taten alles ihre Mütter – deshalb fand er es einfach nur zum Kotzen. Andererseits hätte er die Zeit ohne diesen ganzen Kram nicht sinnvoll hinter sich gebracht, es sei denn, er hätte sich mit Louis treffen dürfen, was sein Vater ihm jedoch niemals erlauben würde. Er brauchte gar nicht erst danach zu fragen.
Der Sonntag zog sich diese Woche ebenfalls so in die Länge, dass er am Montag wieder froh war, in die Schule zu gehen. So verließ er wenigstens das Haus und machte etwas, das ihm sinnvoller vorkam als Hausarbeiten zu erledigen. Na gut, er musste sich selbst eingestehen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Natürlich freute er sich auch darauf, Louis zu sehen. Und Niall. Auch er war ganz okay. Am Vormittag begegneten sie sich kurz auf dem Flur, als sie gerade das Klassenzimmer wechselten. Louis lächelte ihn an, fast wäre er stehen geblieben, nur um ihn kurz zu Umarmen und dann wieder gehen zu lassen. Aber er wusste, wie Harry sich dabei immer verkrampfte. Wie am Samstagmorgen, obwohl Louis sich nicht mehr ganz sicher war, ob er diese Umarmung nicht vielleicht doch nur geträumt hatte. Aber wäre es ein Traum gewesen, dann hätte Harry sich nicht angespannt, sondern hätte seine Arme ebenfalls um ihn gelegt. Dann hätte Louis ihn nicht mehr losgelassen und ihn zu sich auf das Bett gezogen und dann … hm. „Dich hat es ja komplett erwischt“, schmunzelte Niall.   „Was? Nein … ja.“ Harry seufzte. „Du brauchst H nur eine Sekunde zu sehen und bist total im Schwärmer-Modus.“ „Ist das so?“ „Du solltest dich mal sehen.“ „Hilf mir. Ich weiß schon jetzt, dass ich mir an dieser Sache die Finger verbrenne. Es wird böse enden, seeehr böse.“ „Was stellst du dir vor, soll ich dagegen tun? Einen Liebestrank für H brauen, damit ihr glücklich zusammen in den Sonnenuntergang reiten könnt?“ Louis rollte mit den Augen. Niall konnte manchmal so eine große Hilfe sein. „Mal im Ernst, was soll ich schon tun? Den Kuppler spielen? Dir so lange ein Brett auf den Kopf schlagen, bis du deine Gefühle vergessen hast?“ „Hm, wahrscheinlich hast du recht.“ „Habe ich immer, du weißt es genau.“ Er streckte Louis die Zunge heraus. „So charmant wie jeden Tag. Kein Wunder, dass bei dir nichts läuft.“ Die Lehrerin betrat das Klassenzimmer und die wirren Gespräche ebbten alle langsam ab. „Brauchst du gerade sagen.“ Louis presste seine Lippen aufeinander, der Blonde stupste ihn versöhnlich mit der Schulter an. Louis dachte daran zurück, wie er am Samstagmorgen gefragt hatte, wie es am Abend zuvor gelaufen war. Gott, wie gerne Louis nur gesagt hätte, dass er es Harry erzählt hatte, sie sich geküsst hatten und am Abend gemeinsam in seinem Bett eingeschlafen waren. Was für eine irre Vorstellung. Was Harry wohl machen würde, wenn Louis sich herüberbeugen würde, um ihn zu küssen. Hm. Louis geriet wieder total in den Schwärmer-Modus, weil er einen Moment zu lange darüber nachdachte, wie sich Harrys Lippen wohl auf seinen anfühlen würden und dieser Gedanke verschlang ihn förmlich in sich.
Louis fühlte sich wieder sehr bestätigt darin, dass es die richtige Entscheidung war, es Harry noch nicht zu erzählen, als er bei seinem Anblick fast in Panik verfiel. Nur fast. Er atmete tief durch, dann war es wieder okay. Aber dieses verliebte Herzklopfen blieb und seinen Hunger hatte er auch urplötzlich verloren. „Schnell sag irgendwas, damit ich nicht in den Schwärmer-Modus abdrifte. Ich hab heute überhaupt nichts behalten, ich weiß nicht einmal mehr, welche Stunden wir hatten.“ „Ganz ruhig, wir hatten Englisch, Französisch und dann zwei Stunden Chemie. Diese Sache macht dich noch total irre.“ „Hey.“ Harry setzte sich ausnahmsweise nicht neben Louis sondern ihm gegenüber. So ein Mist, jetzt hatte er auch noch direkte Sicht auf seine Augen, seine Locken, seine Lippen … beinahe wäre er wieder in Gedanken versunken, aber er konnte sich gerade noch so davon abhalten, indem er fragte: „Wie war dein Wochenende?“ Seine Stimme klang irgendwie wackelig und er erwischte sich dabei, wie er auf Harrys Mund starrte und abwartete, dass sich seine Lippen bewegten. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es wohl aussähe, würden sie die drei berühmten Worte formen. „Nichts Besonderes.“ Er zuckte mit den Schultern. „Alles okay? Bist du heiser?“ „Nein.“ Louis räusperte sich. „Nein, alles gut.“ „Okay … wie war euer Wochenende?“ „Mein Dad hat mich zum Angeln mitgeschleppt“, sagte Niall. Das war wohl das erste persönliche Detail, das Harry von ihm erfahren hatte. „Ich war zuhause, hab gezockt, fast das ganze Wochenende lang. Wollte mir das nicht antun, mit meiner Mom und Lottie Plätzchen zu backen.“ „Ist noch nicht einmal erster Advent, bis Weihnachten sind die ganzen Plätzchen längst weg gefuttert“, meinte Niall. Harry aß gedankenversunken vor sich hin. Er dachte an das Weihnachtsfest vor vier Jahren. Keine Plätzchen, kein Baum, kein Schmuck, keine Weihnachtslieder, keine Geschenke, nur Harry und sein sturzbetrunkener Vater, der mit jedem Schluck Alkohol, den er in sich hinein soff, immer wieder beteuerte, wie scheiße das Leben doch sei. Währenddessen hatte Harry zusammen gekauert auf dem Sofa gelegen und den ganzen Abend lang geheult. „Dein Geburtstag ist auch schon bald. Ich muss noch ein Geschenk besorgen.“ „Was?“, platzte Harry dazwischen, der schlagartig wieder aus seinen Gedanken erwachte. „Wann?“ „Am 24., keine Sorge, du musst mir nichts schenken, stress dich doch nicht so.“ „Machst du eine Party?“ „Nein, wozu denn? Ich habe ja nur euch beide. Und wenn ich euch einladen würde, dann erst nach Weihnachten.“ „Den 17. Geburtstag muss man sowieso nicht groß feiern. Nur der 18. muss in Erinnerung bleiben.“ „Ja, nächstes Jahr, wenn ich nicht mehr auf diese Schule gehe und mich mit allen schon total auseinander gelebt habe, soll ich eine Party schmeißen, an die ich mich in sechzig Jahren noch erinnere? Wohl kaum.“ Während Niall beteuerte, dass sie auch in einem Jahr noch eng befreundet sein werden, dachte Harry schon verzweifelt darüber nach, wie er seinem Vater sagen sollte, dass er zu einem Freund eingeladen war. Der würde ihn doch niemals allein aus dem Haus lassen. Harry war seit jenem Tag nicht mehr allein aus dem Haus gegangen … jedenfalls nicht mit der Erlaubnis seines Vaters.
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Chapter Fourteen
Es war wieder soweit, dass sie beide am gleichen Punkt waren wie vor ein paar Tagen schon einmal. Sie saßen auf dem Sofa, auf dem Tisch davor standen zwei Tassen Tee und als Louis sich zu einem Kuss vorbeugte und Harry sich gleichzeitig etwas zurücklehnte, nahm Louis die komische Situation als Vorwand dazu, sein Handy von der Tischkante zu nehmen. Er wurde dabei sehr rot. Er musste sich anders überlegen, wie er Harry dazu bekam, sich einem Kuss nicht zu widersetzen. Er sah kurz auf sein Handy, blöderweise hatte ihm aber niemand geschrieben, er hatte nur ein paar Benachrichtigungen zu den Spielen, die er spielte. Louis’ Mund und sein Kopf waren sich einig, dass es absolut keine Option war, zu sagen: „Ich habe mich in dich verliebt, Harry.“ Die Worte brachte er nicht über sich, zumal sie so blöd und schnulzig klangen, dass er befürchtete, dass sie entweder bei ihm selbst oder bei Harry wie Brechmittel wirkten. Deshalb war der Plan auch der gewesen, ihm einfach zu küssen und der Rest würde sich von selbst regeln. Aber so wurde das nichts. „Du bist so still.“ „Ich bin nur nachdenklich.“ „Worüber denkst du nach?“ „Wie ich am besten damit anfange, dir zu erklären, was ich dir schon seit einer Woche sagen will.“ „Wo liegt das Problem? Mach es doch gerade heraus, wie ein Pflaster abzureißen.“ „Es ist ein Risiko.“ „Mein Gott, hast du irgendetwas getan? Hast du …“ Harry wollte irgendetwas aufzählen, aber spontan fiel ihm nichts ein, womit Louis sein Leben hätte ruinieren können, außer „das Jugendamt verständigt“ und das kam als Satzende überhaupt nicht infrage. Louis’ Alarmglocken waren sowieso schon auf sensibel gestellt, er musste das nicht noch verschlimmern. „Ich weiß nicht, hast du irgendetwas getan, was mich betrifft?“ Vielleicht mit diesem Typen aus seinem alten Fußballteam über ihn geredet, um seine Neugier zu stillen? „Nein, ich habe nichts getan.“ Louis lächelte und legte den Kopf leicht schief. „Wie sehr vertraust du mir auf einer Skala von eins bis zehn?“ „Keine Ahnung, sechs vielleicht?“ Sein Lächeln fiel von seinem Gesicht ab. „Wir kennen uns ja erst so kurz, nicht einmal drei Wochen oder so.“ „Ja, schon okay, wenigstens mehr als die Hälfte. Wenn du mir also vertraust, jedenfalls ein bisschen, machst du dann in meiner Gegenwart die Augen zu?“ Harry verdrehte die Augen. „Das mache ich doch jeden Abend.“ „Nein … jetzt, meine ich. Kannst du jetzt die Augen zu machen, auch wenn ich nicht schlafe?“ Harry musterte ihn lange und dachte nach, bevor er dann den Kopf schüttelte und verneinte. „Nur, wenn du mir sagst, was du tust, während ich meine Augen schließe.“ „Nein.“ „Dann nicht.“ „Und warum nicht?“ „Ich weiß nicht, ob du mich anfasst und ich will nicht, dass du mich anfasst“, sagte er und als Louis darauf zu einem Widerspruch ansetzte, hängte er noch an: „Ich vertraue dir noch nicht so sehr, dass ich dir glauben kann, du fasst mich nicht an, wenn du behauptest, du fasst mich nicht an.“ „Wenn du nicht willst, dass ich dich anfasse, dann lege ich meine Hände hinter meinen Kopf oder ich setze mich auf meine Hände oder du hältst sie fest, dann weißt du, ich fasse dich nicht an und ich schwöre, ich fasse dich nicht an.“ „Okay, ich halte deine Hände, aber wenn du sie wegziehst, dann mache ich die Augen auf.“ „Okay, gut.“ So kompliziert. In irgendeinem fernen Paralleluniversum hätte er ihn einfach mit einer Hand im Nacken an sich gezogen und geküsst. Er trank noch einen Schluck Tee, ganz bewusst, dann rückte er ein Stück näher an Harry heran und streckte ihm seine entgegen. Zuerst legte Harry seine ganz zaghaft auf die von Louis, beschloss dann aber doch, sie zu umfassen – nur um sicher zu gehen. Sie sahen sich noch einen kurzen Moment lang in die Augen, dann schloss Harry seine. Es kostete ihn eine Menge Überwindung, wahrscheinlich genau so große wie Louis, diesen verdammten Kuss endlich hinter sich zu bringen. Aber es war sein erster Kuss mit einem Jungen und der Moment würde sich tief einbrennen. Es lag eine ähnliche Spannung in der Luft wie bei einem Feuerwerk. Es war der Moment, in dem die Lunte herunterbrannte, bevor die Rakete zischend und pfeifend in den Himmel schoss und in bunte Teilchen zersprang. Er konnte nicht mehr lange warten, sonst war der Moment vorbei – Fehlzündung. Er musste es jetzt tun. Langsam lehnte er sich vor. Er konnte kaum widerstehen, seine Locken anzufassen. „Was machst du?“, flüsterte Harry, als er Louis’ Atem an seinen Lippen spürte. Seine Stimme versagte dabei fast, weil er so leise sprach. Es schüchterte ihn ziemlich ein, wie nah sie sich gerade waren. Harry hatte absolut keine Kontrolle über das, was Louis tat. Ihre Lippen berührten sich, in dem Moment riss Harry die Augen auf und verfiel in eine absolute Schockstarre. Er hatte so etwas schon vorhin geahnt, als er ihn einen Moment lang so merkwürdig angesehen hatte und sich dann vorgebeugt hatte, um nach seinem Handy zu greifen. Louis löste sich nach einem Moment, der sich unendlich in die Länge zu ziehen schien, von ihm und sah ihm aus kurzer Entfernung in die Augen. Harrys Unterlippe brach in ein Zittern aus. Er klemmte sie zwischen die Zähne, um es zu verbergen, aber die Tränen, die folgten, sagten alles. Louis brachte kein Wort heraus. „Ich … ich … Louis …“ Er brachte keinen Satz zusammen, eigentlich wusste er auch gar nicht, was er dazu sagen sollte. „So habe ich mir das nicht vorgestellt“, murmelte Louis. „Warum weinst du jetzt?“ Louis wich seinem Blick aus und sah dabei die Option, seine traurig hängenden Mundwinkel hinter seiner Teetasse zu verstecken. „Weil du dabei bist, unsere Freundschaft zu ruinieren. Du hast mich geküsst und ich habe keine Ahnung, was ich davon denken soll und ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast. Du weißt, dass ich das nicht kann, trotzdem küsst du mich und zwingst mich dazu, dich abzulehnen. Ich brauche dich als Freund. Als besten und nicht als festen.“ „Harry, bleib ruhig, lass uns darüber reden. Keine Sorge. Es hat nichts bedeutet. Bitte hör auf zu weinen. Es ist alles okay, wenn du willst, machen wir weiter, als wäre es nicht passiert.“ Feige, feige, so unfassbar feige. Wahrscheinlich eine der dümmsten Entscheidungen, die Louis jemals getroffen hatte. Wie sollte er jemals so tun können, als hätten ihn Harrys Worte nicht so unglaublich sehr verletzt? Er konnte nicht einmal für einen Tag so tun, als würde er ihn nicht lieben, nicht einmal, um Harry damit ruhig zu stellen. „Willst du vielleicht ein Taschentuch?“ „Ja … und ja, lass uns versuchen, das zu vergessen und einfach so weiter zu machen wie davor.“ Louis griff nach der Packung Tachentücher unter der gläsernen Tischplatte und reichte sie Harry. Ja, versuchen. „Trinken wir aus und gehen schlafen? War ein langer Tag.“ Louis wusste nicht, was er sonst sagen sollte ohne sich noch mehr ins eigene Fleisch zu schneiden. „Ja, okay.“ Harry tupfte sich über die Wangen. „Ich bin so verfickt nah am Wasser gebaut.“ Louis spuckte vor Überraschung fast seinen Tee zurück in die Tasse. Die ungewöhnliche Wortwahl von seinem Sitznachbarn brachte ihn zum Lachen. „Hast du gerade geflucht?“ „Ja. Muss wohl der schlechte Einfluss meines neuen Freundes sein.“ „Ja, bestimmt sogar.“ Louis stand auf, brachte die Tassen in die Küche und folgte Harry die Treppe hinauf. Der kurze fröhliche Stimmungsumschwung änderte nichts daran, was für ein Reinfall dieser Abend gewesen war. Gleichzeitig aber stellte er sich vor, wie schlimm es geworden wäre, hätte er Harry direkt ins Gesicht gesagt, dass er ihn liebte. Er wäre wohl in der Pfütze aus Harrys Tränen ertrunken, mit denen er ihre verlorene Freundschaft betrauerte. Er dachte an das Gespräch zurück, das er mit ihm über Beziehungen geführt hatte und dachte, dass das vielleicht etwas mit seiner Mutter zu tun hatte, deren Tod er ganz klar nie richtig verarbeitet hatte. Irgendetwas hatte er gesagt, das danach klang, als könnte er sich eine Beziehung nicht im geringsten Vorstellen, als würde er nicht einmal daran denken, sich in jemanden zu verlieben oder irgendetwas derartiges zulassen. Liebe war für ihn ein unbeschriebenes Blatt und er dachte nicht einmal daran, etwas daran zu ändern. Nach dem Zähneputzen kam Louis zurück in sein Schlafzimmer, Harry lag da schon unter der Decke. Es war irgendwie irre, er zog nie seine Klamotten aus und wenn, dann nur den dicken, schwarzen Hoodie, aber nur, wenn er darunter noch ein T-Shirt trug. „Welche Stufe von Vertrauen ist es, dass du dir die Hose zum Schlafen ausziehst, wenn du hier schläfst?“ „Ganz ehrlich? Eine zehn.“ Er wandte sich der Rückenlehne zu. Für Harry war es total unvorstellbar, in Louis’ Gegenwart ohne Hose zu sein, selbst wenn er selbst es war.
Am Morgen wurde Louis von dem Wecker um 5:40 Uhr geweckt, den er immer für Harry stellte, aber normalerweise machte er ihn aus, bevor Louis davon aufwachen konnte. Diesmal aber nicht. „Harry?“ Als er das Licht seines Handybildschirms durch den Raum auf das Sofa schwenkte, war er nirgends zu sehen. Was nur bedeuten konnte, dass er vergessen haben musste, den Wecker abzustellen, bevor er gegangen war – was sehr unwahrscheinlich war – oder dass er schon lange vor dem Weckerklingeln gegangen war. Wahrscheinlich weil er es nicht mehr mit Louis in einem Raum zusammen ausgehalten hatte. Er ließ sich zurück in sein Kissen fallen.
Gegen drei Uhr nachts war Harry nachhause gegangen, hatte seinen Zahnputzbecher mit Wasser gefüllt, ausgetrunken und war kurze Zeit später bäuchlings neben der Heizung in seinem Zimmer eingeschlafen. Er legte sich sein Kissen unter den Bauch, damit seine Rippe nicht so weh tat. Als Kopfkissen hielt dann sein Ellbogen her, aber davon schlief ihm der ganze Unterarm und seine Hand ein, was er aber erst am Morgen bemerkte, als er davon aufwachte, dass sein Vater die Tür ins Schloss warf. Kein gutes Zeichen. Sein Vater brauchte genau sechs Schritte bis zu Harrys Tür und vier zur Treppe, er zählte mit. Drei, vier, fünf … Sein Tag war jetzt schon ruiniert; Harry wusste immerhin, dass sein Vater ihn normalerweise nicht weckte. Seine schweren Stiefel kamen neben ihm zum Stehen. Er ging in die Hocke. „Du weißt, doch ganz genau, dass ich es merke, wenn du nur so tust.“ Harry schmatzte und schluckte die trockene Spucke in seinem Mund herunter. Für so etwas fühlte er sich jetzt ganz und gar nicht bereit. Das war das letzte, was er jetzt brauchen konnte. Dass sein Vater ihn an den Gürtelschlaufen hoch zog und im Wohnzimmer über die Sofalehne beugte.
„Ich werde jetzt duschen. Wehe, wenn du auf das Sofa kotzt. Und verkneif dir die Tränen, du bist doch kein Mädchen.“ Sobald sein Vater die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, sprintete Harry zum Gästeklo und würgte, aber es kam nichts, nur Tränen. Frühstück war undenkbar, er packte sich das Toastbrot ein, wohl wissend, dass er es heute voraussichtlich nicht einmal anfassen würde. Vor dem Unterricht zog er seine Kreise um das Schulgebäude, er wollte sich nicht hinsetzen. Es tat irre weh. Er würde den ganzen Morgen lang sitzen müssen und er wusste nicht, was er sich einfallen lassen sollte, dies zu umgehen. Zu allem Überfluss würdigte Louis ihn keines Blickes, als sie sich vor dem Unterricht und in der ersten Pause kurz begegneten. In der Mittagspause sah er sich kurz in der Cafeteria um, da Niall ihn bemerkt hatte und ansah, musste Louis ihn wissentlich ignorieren, denn er sah in dem Moment in eine komplett andere Richtung. Harry hatte ohnehin keinen Hunger, deshalb sah er keinen Grund, warum er nicht noch ein paar Runden um die Schule drehen sollte, aber jedes Mal, wenn er an den Fenstern der Cafeteria vorbei ging, starrte er hinein, nur um zu sehen, ob Louis ihn vielleicht doch nicht absichtlich ignorierte. Tat er aber. Hoffentlich nicht, weil der Wecker ihn am Morgen geweckt hatte oder weil er früher in der Nacht gegangen war. Nach dem Unterricht sah Harry Louis noch einmal, als er an der Bushaltestelle wartete. Niall war nicht dabei. Nach kurzem Überlegen beschloss er, zu ihm rüber zu gehen, solange sein Vater noch nicht zu sehen war. „Ist alles okay? Ich habe das Gefühl, du gehst mir aus dem Weg.“ Er antwortete nicht, sah nicht einmal in seine Richtung. „Ist es, weil ich heute Nacht nachhause gegangen bin? Ich konnte nur nicht schlafen, das war alles.“ „Nein, das war nicht deshalb.“ Zugegebenermaßen war Harry überrascht, dass er überhaupt eine Antwort bekam. „Warum denn dann? Wir wollten doch so weiter machen, als wäre nichts gewesen.“ „Lass mich einfach in Ruhe, okay, Harry?“ „Okay.“ Er traute sich nicht zu fragen, ob das auch heißen sollte, dass er nicht auf seinem Sofa schlafen durfte. In dem Moment fuhr sein Dad sowieso die Straße entlang und er musste Abstand von Louis gewinnen. Es lag also an dem Kuss, dass er sich so abweisend verhielt. Aber was sollte Harry schon dagegen tun? Es war seine eigene blöde Idee gewesen, das zu machen. Harry war immer noch nicht klar, was das sollte. Wollte Louis damit herausfinden, ob er schwul war oder nicht? Damit hätte er keinen Erfolg gehabt, immerhin wusste Harry das selbst nicht. Aber wenn Louis nun einfach davon ausgegangen war, dass seine Reaktion auf den Kuss bedeuten sollte, dass er nicht schwul war, wieso sollte er dann so darauf reagieren? Es war eigentlich doch sogar gut für ihn, denn in dem Fall musste er nicht befürchten, dass Harry jemals romantische Gefühle für ihn entwickeln würde. Und die einzige Möglichkeit, warum ihn das so enttäuscht oder wütend oder verletzt stimmte, war, dass er selbst solche Gefühle hatte. Aber wenn es so wäre, hätte er nicht so leichtfertig gesagt, dass ihm der Kuss nichts bedeutet hatte und er es einfach vergessen sollte. So lange er darüber nachdachte, er kam nicht dahinter, was Louis sich mit diesem Kuss nur gedacht hatte, und seine Hausaufgaben wurden auch nicht so richtig fertig.
Am Abend vergaß Harrys Vater, die Wohnzimmertür abzuschließen. Vielleicht war es auch ein Test, um festzustellen, ob Harry der Versuchung des Sofas widerstehen konnte. Er wusste, es war eine saublöde Idee, er hätte sich höchstens ein paar Sofakissen und eine zweite Decke mitnehmen sollen. Doch dann stand er da im Türrahmen und sah es an, da wurde es zunehmend schwerer, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, darauf zu schlafen. Es stand da wie die Sünde höchstpersönlich, Harry musste nicht lange abwägen, ob der Ärger am Morgen das wert war. Nach zweieinhalb Nächten hintereinander auf dem Boden hätte er dafür sogar seine Niere gespendet. Er stellte sich kurz ein gemütliches Krankenhausbett vor, konzentrierte sich dann jedoch wieder auf die Couch. Ihm war durchaus bewusst, dass er ohne einen Wecker keine Chance hatte, den Konsequenzen dafür zu umgehen. Während der Einschlafphase dachte er noch darüber nach, die Timer-Funktion der Herdplatte zu nutzen, aber bevor er diesen Plan in die Realität umsetzen konnte, war er bereits eingeschlafen.
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Chapter Fifteen
Am Mittwoch kam es Harry vor, als würde er den Vortag noch einmal durchleben. Sein Vater kam nachhause, er lag vor Angst gelähmt auf dem Sofa, zählte die Schritte und wusste wieder ganz genau, was auf ihn zukam. Nur diesmal hatte er sogar das Gefühl, es verdient zu haben. Den ganzen Morgen lang quälte ihn das Sitzen, sein Herumhumpeln brachte ihm schräge Blicke ein, Louis weigerte sich, mit ihm zu reden, kurz gefasst: Es war alles nur beschissen. Aber ihm kam an diesem Tag der Gedanke, ob er mit diesem Kuss vielleicht gar nicht austesten wollte, ob Harry schwul war, sondern vielleicht hinterfragte er selbst, ob er es war. Er hatte schließlich gesagt, er hätte noch nie einen Jungen zuvor geküsst, nur zwei Mädchen. Dann hätte es ihm nichts bedeutet, weil er vielleicht doch erkannte, dass Jungs nicht das Richtige für ihn waren, was sein Verhalten erklärte. Aber irgendwie blieb Harry nicht lange an dieser Theorie hängen. Wäre Louis sich nicht sicher gewesen, hätte er so nicht ihr erstes richtiges Gespräch eröffnet, mit dem Thema, dass er schwul war. Er hätte das nicht gesagt, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre. Er hätte es niemandem gesagt, wenn er daran gezweifelt hätte. Aber er hatte davon geredet, dass es ein offenes Geheimnis und ein Gerücht an der Schule war. Wäre es nicht wahr, hätte Louis diese Stimmen längst zum Schweigen gebracht und sie eines Besseren belehrt. Außerdem hatte er davon gesprochen, dass er schon ein paarmal verliebt gewesen war, was heißen musste, in Jungs. Es war also definitiv nicht der Grund für den Kuss. Vielleicht wollte er nur austesten, wie es sich anfühlt, einen Jungen zu küssen? Harry redete sich viele Dinge ein, obwohl das Offensichtliche schon vor seinen Augen lag, er wollte es nur nicht wahrhaben. Louis war in ihn verliebt.
Es war Donnerstag, an dem er es erst richtig akzeptieren konnte, weil es erst dann alles Sinn für ihn ergab. Als Louis sich vorbeugte, um vermeintlich nach seinem Handy zu greifen, war das sein erster Versuch, ihn zu küssen, der nach hinten losging. Dann kam der tatsächliche Kuss, weil Louis so verknallt war, dass er nach dem ersten gescheiterten Versuch nicht aufgeben wollte, da er die Anzeichen nicht sah, dass es Harry nicht so ging. Danach war Harry in Tränen ausgebrochen und Louis’ einzige Möglichkeit, ihn zu beruhigen war es, ihm zu sagen, dass dieser Kuss nichts bedeutet hatte und keine Gefahr für ihre Freundschaft darstellte. Aber gleichzeitig tat es ihm weh, so tun zu müssen, als wäre dieser Kuss tatsächlich bedeutungslos gewesen und als konnten sie noch einfach nur Freunde sein. Zudem hatte es ihn wahrscheinlich sehr verletzt, wie Harry auf den Kuss reagiert hatte. „Können wir reden? Bitte? Bitte!“, flehte Harry regelrecht, aber Louis ging einfach nur an ihm vorbei. Niall warf ihm über die Schulter noch einen Blick voller Mitleid zu, aber auch er schien sich nicht dafür einsetzen zu wollen, dass sie ein klärendes Gespräch miteinander führten.
Nachdem Harry die ganze Woche lang nichts von Louis gehört hatte, sich den Tag über den Kopf darüber zerbrach, warum, sich nachts in den Schlaf weinte, weil er es nicht wahrhaben wollte, bekam er am Freitag endlich – endlich! – auf dem Flur einen kleinen Zettel von ihm zugesteckt. Es war die unordentlich abgerissene Ecke eines Blockblattes, auf dem stand: Heute, 10:35 Uhr, Klo im Ostflügel, L. Um 10:35 Uhr war keine Pause, Harry kam fast sofort der Gedanke, dass das so beabsichtigt sein musste, dass sie dort auch ganz sicher allein waren. Na ja, Harry gehörte nicht zu den Personen, die einfach während des Unterrichts auf die Toilette gingen, das erregte zu viel Aufmerksamkeit, aber wenn er Louis nicht verlieren wollte, war es die einzige Möglichkeit. Er würde sowieso nur einmal mehr von seinen Klassenkameraden angestarrt werden. Das tat sowieso jeder von ihnen in den Pausen und auch sonst, wann immer es sich anbot. Harry war das sehr häufig aufgefallen, seit Louis ihn darauf hingewiesen hatte, dass über ihn geredet wurde, an dem Abend, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Davor war es ihm tatsächlich nicht aufgefallen, manchmal ein paar Blicke in seine Richtung, er war jedoch meist zu sehr in Gedanken versunken, um zu merken, dass es tatsächlich sehr viele, sehr oft taten. Während der nächsten Unterrichtsstunde sah Harry sehr oft auf die Uhr, um die Zeit nicht zu verpassen. Er war im anderen Flügel und hatte nicht mehr als acht Minuten, um wieder zurück im Klassenzimmer zu sein, sonst würden die Leute sich die wildesten Geschichten ausdenken, warum er so lange weg gewesen war. 10:24 Uhr, Harry legte seinen Stift hin, stand auf und verließ unter den beobachtenden Blicken das Klassenzimmer, ehe die Lehrerin sie mahnte, dass die Konzentration der Klasse auf ihr liegen sollte. Harry sprintete zum Klo, damit er mehr Zeit mit Louis haben konnte. Als er die schwere Tür aufzog schien der Raum leer zu sein. Bei den Waschbecken stand niemand, er ging weiter nach hinten. Er war sich sicher, im Flur niemanden gesehen zu haben. „Louis?“, flüsterte er in den leisen Raum herein. Seine Stimme hallte an den hohen Wänden wider. Eine Kabinentür öffnete sich und Louis bat ihn herein, bevor er die Tür wieder verschloss. „Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest“, sagte er leise. „Warum nicht? Ich wollte doch schon die ganze Woche mit dir reden.“ „Ja … trotzdem. Ich dachte, vielleicht hast du die Nase voll davon, zu warten. Aber jetzt bin ich soweit, mit dir darüber zu reden.“ „Ich weiß schon, was du sagen willst?“ „Wirklich?“ „Ja, ich hatte die ganze Woche lang Zeit, darüber nachzudenken, am Anfang war mir nicht klar, warum du das gemacht hast, aber dann ist mir bewusst geworden, dass der einzige Grund, warum du mich erst küssen solltest, dann sagen solltest, es hätte nichts bedeutet und dann sauer sein würdest, der war, dass es doch nicht nichts bedeutet hat.“ „Ja, das stimmt. Was denkst du darüber?“ „Ich denke, dass der Kuss … ich fand ihn nicht schlecht.“ Louis lächelte, bevor Harry weiter sprach. „Ich weiß aber nicht, ob das automatisch heißt, dass ich ihn gut fand. Und ich weiß, dass eine Beziehung nicht in mein Leben passt.“ „Warum nicht? Jeder macht gerade seine ersten Erfahrungen und ich weiß, dass du dir oft wünschst, dich nur ein bisschen normal zu fühlen.“ „Das hat damit nichts zu tun, was andere denken und tun. Es geht dabei um mich und mein Leben.“ „Lass mich dir zeigen, dass es sich lohnt, sich darauf einzulassen. Lass mich dir zeigen, wie gut es sich anfühlt. Bitte, versuch es wenigstens. Und wenn es nicht gut ist, können wir Freunde bleiben.“ „Können wir das? Wirklich? Diese Woche hat doch bewiesen, dass das nicht geht.“ „Ich kann an meinen Gefühlen doch nichts ändern und ich kann sie nicht verbergen und so tun als wären sie nicht da.“ „Siehst du, wir können nicht befreundet sein. Du schiebst mich in diese Richtung und du weißt, dass ich sie gehe, nur damit ich dich nicht verlieren muss.“ „Ich will dich dazu nicht zwingen, aber ich wünsche es mir so sehr.“ „Ich weiß, du kannst nicht klar denken.“ „Was wirst du tun?“ „Ich hab doch keine Wahl, Louis. Du lässt mir keine Wahl. Aber lass mir noch ein bisschen Zeit, ich muss über vieles nachdenken.“ „Willst du trotzdem heute Nacht bei mir schlafen?“ „Ich würde nichts lieber tun, aber ich denke, dass es besser ist, wenn nicht. Ich werde dir sagen, welche Entscheidung ich getroffen habe, spätestens am Montag.“ Louis nickte, seine Augen blieben an Harrys Lippen hängen. „Darf ich dich noch einmal küssen?“ „In einem Klo? Ist das die richtige Atmosphäre für so etwas?“ Louis musste sich auf die Zunge beißen, um nicht so etwas Schnulziges zu sagen wie „Liebe kennt keine Grenzen.“ Das hätte ihn nur verschreckt. Stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Lass es uns herausfinden.“ Er machte einen Schritt auf Harry zu, der wirkte, als würde in ihm ein Sturm toben, tastete mit den Fingerspitzen nach seinen Händen und drückte seine Lippen für drei viel zu kurze Sekunden auf die von Harry. Erneut erwiderte dieser nicht, aber Louis konnte es ihm nicht übel nehmen, weil er ihn viel zu sehr liebte, um die Frustration darüber zu fühlen, dass er dies nicht tat. „Wir sollten jetzt zurück in die Klasse gehen.“ Wie in Trance nickte Harry. Seine Kiefer mahlten und er schien jetzt schon sehr nachdenklich zu sein. Der Kuss war wie der erste gewesen – nicht schlecht –, aber hieß das auch sofort, dass er gut war und Louis ihn auch so mochte. Harry erwischte sich dabei, wie er im Klassenzimmer mit den Fingern über seine Lippen fuhr. Er konnte fühlen, wo Louis’ waren und das brachte ihn total aus dem Konzept. Bis zum Ende der Stunde schaffte er es gerade noch so, den Tafelaufschrieb in sein Heft zu übertragen, aber aufpassen konnte er nicht mehr wirklich. Er beschloss, sich in der Mittagspause nicht zu Louis und Niall zu setzen, sie hatten bestimmt viel zu bereden, er hatte sowieso keinen Hunger. Die harte Entscheidung schlug ihm auf den Magen. Na ja, es war keine harte Entscheidung. Die Auswahl war beschissen. Entweder er war ohne Louis oder er wahr in einer Beziehung mit Louis, so oder so konnten sie keine Freunde sein. Ohne Louis verlor sein Leben etwas, das ihm in sehr kurzer Zeit sehr wichtig geworden war. Eine Beziehung lief darauf hinaus, dass er viel mehr Vertrauen zu Louis brauchte, dass er schlichtweg nicht hatte. Früher oder später würde Louis ihn berühren wollen oder er würde wollen, dass sie gemeinsam in seinem Bett schliefen oder noch mehr Dinge taten, über die Harry nicht einmal nachdenken wollte. Emotional gesehen war er nie in der Pubertät gewesen, er hatte nie darüber nachgedacht, auch nur jemanden zu küssen, hatte sich nie verliebt oder überhaupt daran gedacht, sich selbst anzufassen, was andere in seinem Alter alles gemacht hatten. Emotional war er auf dem Reifegrad eines Elfjährigen, er konnte nicht einmal daran denken, eine Beziehung zu führen, er war dem überhaupt nicht gewachsen. Aber jetzt musste er es und das war beängstigend. Alles, was er über Beziehungen wusste, beschränkte sich auf seine Eltern, gewisse Fernsehserien und den Biologieunterricht. Aber Letzteres befasste sich eher mit spezifischeren Handlungen, nicht mit Liebe und so einem Zeug. Was er aus dem Fernsehen wusste, war, dass alles nur auf Sex hinauslief, was er sich von einer Beziehung mit Louis nicht unbedingt erhoffte. Und seine Eltern … es war schon lange her, aber Harry hatte seine Eltern immer für ein Vorzeigeehepaar gehalten. Sie hatten sich immer geliebt, selten gestritten und sich gut um Harry gekümmert. Harry konnte sich nur an zwei Situationen erinnern, als sie gestritten hatten. Das eine war, als mein Vater seine Arbeit verlor, dieser Streit zog sich lange hin und wurde manchmal aktiv und manchmal passiv ausgefochten. Der zweite war mehrere Wochen, vielleicht auch ein paar Monate nachdem sein Vater den Nachtjob im Lagerhaus angenommen hatte. Seine Mom hatte sich beschwert, dass sowohl sie als auch ich ihn kaum noch zu Gesicht bekamen. Für Harry stimmte das eigentlich nicht. Er war morgens da, bevor Harry zur Schule ging, und frühstückte, und am Abend, aßen sie ebenfalls gemeinsam, bevor er zur Arbeit ging, er hatte ihm eben nicht mehr bei den Hausaufgaben geholfen oder mit ihm gespielt. Sein Vater hatte darauf hin sehr schroff erwidert, dass es ja immerhin jemanden geben musste, der ihre Malerei finanzierte, das war auch der Hauptstreitpunkt, als er seine Arbeit verloren hatte. Harry erinnerte sich an sonst kaum etwas aus dieser Zeit, wenn er daran dachte, hatte er nur diesen einen kurzen Dialog im Kopf.
„Du bist kaum noch für uns da, den ganzen Tag verschläfst du, Harry hat niemanden zum Spielen, du fährst ihn nicht zum Fußballtraining und bist auch bei keinen Spielen mehr dabei. Und nachts bist du weg und ich schlafe allein.“ „Beschwer dich doch nicht, ich esse mit euch gemeinsam morgens und abends und ich bringe ihn ins Bett. Und du – jemand muss doch deine Malerei finanzieren.“
Sie hatten es nicht leicht gehabt in dieser Zeit, aber sie haben nie aufgegeben, so wie andere Paare. Aber was sollte Harry daraus schon für sich und Louis lernen? Es führte ihn alles in die Irre, aber eigentlich wusste er nichts Wesentliches über Beziehungen. Was ihm die Freiheit ließ, darüber mit Louis – oder vielleicht auch mit Niall – zu reden. Er musste immerhin wissen, worauf er sich da einließ.
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Chapter Sixteen
Auf den Freitag folgte wie immer der stressige Samstag. Er wusch die Wäsche, säuberte das Bad und die Küche, staubsaugte im Wohnzimmer und in dem Schlafzimmer seines Vaters, räumte die Wäsche in den Trockner, bezog das Bett frisch, pflückte Krümel aus den Sofaritzen und während sein Vater beim Einkaufen war, dachte er kurz darüber nach, zu Louis zu gehen, solange er weg war. Aber ihm würde auffallen, dass Harry nicht vorangekommen war, also ließ er es bleiben. Das Gespräch über Beziehungen ließ sich auch auf Montag verschieben. Sein Vater war heute lange weg und er war wirklich hungrig, also suchte er aus dem Vorratsschrank etwas Essbares heraus. Ganz hinten in der Ecke fand er noch eine Packung Reis, im Gefrierfach waren noch ein paar Erbsen und irgendetwas Fleischartiges mit Soße in einer Tupperdose, das sich aber im gefrorenen Zustand nicht genauer definieren ließ. Er taute es in der Mikrowelle auf und gab es dann in den Topf mit dem Reis, der vor sich hin kochte. Während er darauf wartete, dass sein Essen bald fertig wurde, ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Der Kalender sagte 27. November und während er durch das Fenster eine Frau beobachtete, die ihre beiden Hunde ausführte, traf es ihn wie ein Blitzschlag. Es war der 27. November. Gedankenversunken stocherte er mit dem Kochlöffel in seinem Reis herum und bemerkte gar nicht, dass dieser bereits am Boden des Topfes fest brannte. 27. November. Vor vier Jahren etwa in zwei Stunden hatte sein Vater ihm erzählt, dass seine Mom in der Nacht auf dem Weg nachhause von ihren Eltern einen schlimmen Unfall gehabt hatte. NEIN, hatte er unter Tränen geschrien, während sein Vater ihm erklärte, dass es geregnet hatte und sie auf nasser Fahrbahn in einem Waldabschnitt versucht hatte, einem Reh auszuweichen. NEIN, hatte er geschrien und ihn geboxt, er hatte das nicht hören wollen. Harry war nach draußen gestürmt, hatte sein Fahrrad genommen und war so lange gefahren, bis seine Beine müde geworden waren. Da befand er sich im Nirgendwo, er wartete, bis er sich wieder gut fühlte und dann fuhr er weiter. Als er nicht mehr konnte, war es spät und schon fast dunkel und er stand vor einem Haus, das er nicht kannte. Er klingelte und es machte eine Frau auf. Er sagte, ihm wäre kalt und er wüsste nicht, wo er war und wie er nachhause kam. Sie bat ihn herein und bot ihm eine heiße Tasse Kakao an, aber Harry zögerte erst, da seine Mom ihm beigebracht hatte, nicht zu Fremden zu gehen. Aber seine Mom gab es nun nicht mehr, also ging er zu ihr hinein. Er trank seinen warmen Kakao, war in eine dicke Decke gewickelt, während die Frau im Telefonbuch nach der Nummer seines Vaters suchte. Irgendwann dann rief sie ihn an, sie redeten eine Weile und Harry wurde dabei bewusst, dass er eigentlich gar nicht nachhause wollte. Aber dann kam sein Vater und ließ ihm nicht die Wahl, darüber zu entscheiden. Er legte sein Fahrrad in den Kofferraum, während sich Harry ins Auto setzte. Sein Vater war so sauer, dass er gar nichts sagte, bis sie zuhause waren. „Was würde ich nur machen, wenn du jetzt auch weg wärst?“, sagte er. Dann nahm er ihm sein Fahrrad weg, das er so sehr liebte und am Abend zog er Harry zu sich in sein Schlafzimmer und zog ihn und sich aus. Er zwang Harry, ihn anzufassen, was er damals nicht verstand. Es roch nach Rauch, Harry wurde davon schwindelig, der Feuermelder piepte wie verrückt und er war so benebelt von dem Rauch, dass er gar nicht spürte, wie weh es tat, als seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten und er auf den Boden fiel. Als sein Vater nachhause kam, ließ er die Einkaufstüte fallen, als er zur Tür hereintrat den Rauchmelder hörte. Er stürmte nach drinnen, zog sich den Kragen seines Pullovers übers Gesicht und zog Harry aus der Küche heraus, bevor er den Brand löschte, die Fenster öffnete und die Küchentür schloss, bevor noch mehr Rauch in den Rest des Hauses zog. Er legte Harry auf das Sofa und öffnete die Wohnzimmerfenster. Als Harry zu sich kam, drehte sich zuerst alles und ihm wurde schlecht. Von dem ganzen Rauch tat ihm der Kopf weh. Auf dem Sofatisch stand ein Glas Wasser und sein Vater ging im Raum auf und ab. Harry konnte nicht einschätzen, in welcher Stimmung er gerade war und worauf er sich gefasst machen musste. Er befürchtete das Schlimmste und hoffte auf das beste. „Tut mir leid, Dad. Ich war so abgelenkt.“ Er schloss die Augen und wandte sich dem Fenster zu. „Ist etwas verbrannt? Mal von dem Essen abgesehen?“ „Hab nicht nachgesehen.“ Er räusperte sich. Seine Stimme klang sehr ruhig. Es war nicht die Art von Ruhe hinter der sich ein heftiges Unwetter verbarg, er klang einfach nur ruhig. Beängstigend. „Was würde ich machen, wenn du nicht aufgewacht wärst?“ Angst … Es war Angst, die sich hinter dieser unheimlichen Ruhe in seiner Stimme verbarg. „Ich bin doch aufgewacht. Ich bin da und ich bin wach und ich bin okay.“ „Komm, wir gehen zum Arzt. Zieh deine Schuhe an.“ Er kämpfte gegen den Schwindel an, der sich erneut in seinem Kopf breit machte, als der Lockenkopf sich aufsetzte und aufstand. Sein Vater beobachtete ihn im Türrahmen und schob mit dem Fuß ein paar fallen gelassene Lebensmittel aus dem Weg. „Eine Tüte ist noch im Kofferraum … das meiste Zeug davon können wir wohl vergessen.“ Harry war so überrascht von der unvermittelt lockeren Art seines Vaters, dass er von seinen Schnürsenkeln aufsah, um nachzusehen, ob es auch wirklich er war, aus dessen Mund diese Worte stammten. Normalerweise war sein Vater ein sehr verkrampfter, ernster Mensch, der die Wut eines ganzen Tages in sich anstauen ließ, um sie dann an Harry auszulassen, verbal, physisch oder psychisch. Gespräche waren selten. Lockerheit ebenfalls. Schon gar nicht über ein zerbrochenes Glas saure Gurken, einen Eierkarton, dessen Inhalt man total vergessen konnte und ein paar auf dem Boden zermatschte Tomaten. Eher hätte er sich darüber aufgeregt. Als sie das Haus verließen, stand ihre Nachbarin, eine Witwe in den späten Fünfzigern, vor der Haustür und beobachtete den Rauch, der aus den Fenstern entkam. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, nur ein kleiner Brand, schon gelöscht, keine Sorge“, entwarnte Harrys Vater und murmelte irgendetwas von wegen „Dorfklatsch“ in das Lenkrad, nachdem auch er eingestiegen war.
„Kriegst du gut Luft oder hast du irgendwelche Atembeschwerden?“, fragte der Arzt, nachdem Harry ihm den Fall geschildert hatte. Mithilfe seines Vaters, der die Lücken auffüllte. Danach sah er sich Harrys Rachen sehr genau an. „Keine Schwellung, sieht gut aus, aber es kann auch sein, dass die Reaktion deines Körpers auf den Rauch sich verzögert, also falls du Husten haben solltest oder das Atmen schwerer wird, komm noch mal.“ „Kann man es nicht davor schon verhindern? Vielleicht ist es dann schon zu spät, wenn er Husten hat.“ Für einen kleinen Moment schoss Harry, wie er da so auf der Liege saß und seinem Vater dabei zusah wie er auf und ab ging, der Gedanke durch den Kopf, dass er sich gar nicht um Harry als seinen Sohn sorgte, sondern um Harry als sein kleines, zerbrechliches Püppchen, das er steuerte, kontrollierte und ausbeutete. Worin bestand sein Leben noch, wenn Harry nicht mehr da war? Aus Arbeit, mit der er das Haus kaum abbezahlen konnte und diesem leeren Haus, das noch lebhafte Erinnerungen barg, aber nichts als tot war. „Ich kann Ihnen nur etwas gegen den Schwindel und die Unpässlichkeit verschreiben und Sie in das nächste Krankenhaus schicken, wo er mit Sauerstoff versorgt und über Nacht beobachtet wird.“ Harry sah seinen Vater bittend an. Er wollte diesen Tag nicht im Krankenhaus verbringen, andererseits gab es im Haus zu viele Erinnerungen. Trotzdem wollte er nicht dort sein. Und er wollte seinen Vater nicht allein lassen, er wusste, dass dieser wieder zur Flasche greifen würde, wäre er allein. Wobei er sich nicht sicher war, ob er ihn davon abhalten konnte, selbst wenn er schon da war. Was sollte er schon dagegen tun? Sein Vater hatte Macht über ihn. Sein Vater nickte ihm zu. „Wir nehmen die Medikamente und … kommen dann wieder, wenn es ihm schlechter gehen sollte.“ Den Rest des Satzes nuschelte er nur so vor sich hin, schien Unzufrieden damit, was der Arzt ihm für Möglichkeiten bot. Der Arzt schrieb ein Rezept aus für zwei Medikamente mit sehr kreativen Namen, dann gingen sie nachhause. Um das Haus herum waren keine Rauchschwaden mehr zu sehen. „Wie lange bin ich bewusstlos gewesen?“, fragte Harry, während sein Vater den Rest der Einkäufe aus dem Auto holte. „Nachdem ich kam noch fast zehn Minuten.“ „Hm.“ Harry nahm sich Schaufel und Besen und kehrte die Scherben des Gurkenglases auf, danach sah er in dem Eierkarton nach. Drei hatten den Sturz überlebt, er legte sie in das Türfach des Kühlschranks. In der Küche roch es immer noch ein wenig nach Rauch, aber es schien nichts verbrannt zu sein, Harry musste sich also nicht schlecht fühlen. Zumindest nicht so sehr. Er sammelte noch ein paar Wurstpackungen vom Boden auf und Gemüse, das er erst gründlich wusch, um sicher zu gehen, das keine Glassplitter darin waren. „Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Harry sagte nichts, während er den Kühlschrank mit den restlichen Lebensmitteln auffüllte. „Wenn ich nicht rechtzeitig da gewesen wäre …“ Er führte den Gedanken nicht fort. „Hör auf, darüber nachzudenken. Es ist ein beschissener Tag, solche Dinge passieren, ich war zu abgelenkt, ich hätte nicht kochen sollen.“ „Ja, ist ein Scheißtag. Morgen gehen wir in die Kirche und kümmern uns ein bisschen um das Grab.“ „Hm“,kam erneut wieder nur aus Harrys Mund. Er füllte ein Glas mit Wasser auf und schluckte die zwei Tabletten. „Vielleicht legst du dich ein bisschen hin.“ „Ja … ich werde mich ein bisschen auf dem Sofa ausruhen.“ „Nein, oben.“ Harry fragte sich kurz, ob der Dachboden gemeint war, denn es klang nicht sehr nach seinem Vater, dass dieser ihm sein Bett anbot. Vielleicht hatte auch er ein bisschen zu viel Rauch eingeatmet und es hatte ein paar sadistische Hirnzellen in ihm ausgelöscht. Der Gedanke blieb einen längeren Moment an ihm hängen, bis sein Vater aufstand und ihm auftrug, ihm zu folgen. Harry war jetzt zu übel dafür, wenn sein Dad ihn jetzt ausnahm, würde er ins Bett kotzen müssen. „Los, zieh deine Hose aus.“ Überraschenderweise machte sein Vater das gleiche, was er sonst nicht tat. Dann stand Harry einen Moment lang nutzlos im Raum herum und schien darauf zu warten, dass sein Vater ihn am Arm packte, an das Bett heran zog und ihn auf die Matratze presste, wie er es immer tat – nur heute nicht. Er hob nur die Bettdecke an, wartete darauf, dass Harry sich hingelegt hatte, und legte sich selbst hinter ihn. Sie lagen eng aneinander, denn die rechte Hälfte des Bettes blieb seit vier Jahren immer leer. Harry wagte es nicht einmal, über die Matratze zu streichen. Irgendwie schien es ihm verboten. „Heute darfst du weinen.“ Er streichelte dabei den Arm seines Sohnes, der dabei eine kalte Gänsehaut am ganzen Körper bekam und sich zu fragen begann, wie sich das für seinen Vater anfühlte. Aus seiner Sicht war alles natürlich ganz anders als aus der Sicht von Harry. Es gab jedoch keine Möglichkeit, die er noch nicht durchdacht hatte, aus welchem verkorksten Grund es seinem Vater gefiel, ihn so anzufassen. Er starrte lange nur vor sich hin und dachte über dieses Streicheln nach, bis es aufhörte und er langsam einschlief, obwohl ihn der Gedanke daran, dass sein Vater direkt hinter ihm lag, eigentlich vom Schlafen abhalten sollte. Aber er war so, so müde. Die ganze Woche auf dem Boden. So müde.
Als er wieder aufwachte, dämmerte es auf der anderen Seite der Fenster bereits. Es ging ihm besser, kein Schwindel, kein Husten, sein Magen hatte sich auch beruhigt. Er lag allein in dem Bett, was hieß, dass sein Vater schon aufgestanden war. Das Herz schlug ihm schneller, denn er wusste nicht, worauf er sich gefasst machen sollte. Es war eigentlich jedes Jahr das Gleiche gewesen: sein Vater betrank sich, je nach der Menge, wurde er immer merkwürdiger. Harry kannte das schon. Am Anfang war er sehr trübsinnig und nachdenklich, dann ging es immer weiter bergab mit seiner Laune, irgendwann wurde er dann sehr anhänglich, dann sehr wütend, was sich noch so weit steigern ließ, dass er gewalttätig wurde. Vor zwei Jahren hatte er es so weit getrieben, dass er irgendwann nur noch Harry anschrie und seine halbvolle Flasche Whiskey nach Harry warf. Allerdings war er so betrunken, dass er ihn weit verfehlte. Am ersten Jahrestag vom Tod seiner Frau hatte er sich nur so sehr betrunken, dass er Harry in sein Bett zwang und ihn umklammerte wie eine Rettungsboje. Eigentlich wollte Harry gar nicht aufstehen, aber er konnte nicht anders. Sein Vater stand vor einem Absturz und er musste ihm irgendwie ausreden, nicht allzu viel zu trinken. Er saß auf seinem Stuhl in der Küche und schob mit einer Gabel die Eiswürfel in seinem Glas hin und her. Daneben lag irgendetwas auf dem Tisch, mit dem seine andere Hand herumspielte. Er stopfte es schnell in seine Hosentasche, als er Harry auf der Treppe hörte. „Komm her, Harry“, rief er lauter als nötig. Sein Sohn begann zu zittern. War er etwa schon in der Wutphase? Er trat in die Küche herein. „Setz dich hin.“ Er tat wie befohlen. „Was wünschst du dir zu Weihnachten, Harry?“ Nicht einmal eine Sekunde lang überdachte er diese Frage, bevor er antwortete: „Mein Bett.“ „Sollst du haben“, nuschelte er und goss noch etwas Whiskey zu den Eiswürfeln. „Erinnere mich daran, wenn ich wieder nüchtern bin.“ Harry nickte. Wenn er es seinem Vater im nüchternen Zustand erzählte, musste er darauf achten, ihn nicht wütend zu machen und sich klar auszudrücken, sonst würde er sich einen Spaß daraus machen wie ein Flaschengeist und er würde am Ende auf dem Lattenrost seines Bettes schlafen. Nicht als wäre das schon einmal passiert, aber er würde es seinem Vater durchaus zutrauen. „Das ist doch hoffentlich erst dein zweites“, sagte er leise. „Das ist die letzte Flasche, danach gehe ich in die Bar.“ „Aber ruf dir ein Taxi.“ „Meinst du ich bin so blöd wie deine Mutter und fahre gegen einen Baum? Das hättest du wohl gerne.“  Autsch, der hatte gesessen. „Du rufst dir ein Taxi.“ Harry nahm sich die Autoschlüssel seines Vaters vom Schlüsselbrett im Flur. Er hätte sich sonst nicht getraut, so mit ihm zu reden, aber in diesem Stadium des Betrunkenseins hatte er noch nicht viel zu befürchten. „Wo gehst du hin?“, fragte er wieder viel lauter als es nötig gewesen wäre. „Ich gehe duschen.“ Na ja, es war eher so, dass er sich heulend in der Badewanne zusammenkauerte und den Duschkopf umarmte. In Momenten wie diesen vermisste er seine Mom so sehr, dass er ihr die Schuld an dem weiteren Verlauf seines Lebens gab. Dafür hasste er sich wiederum selbst, was seine Laune in einer ewigen Abwärtsspirale absinken ließ. Das Klopfen an der Tür erschreckte ihn dermaßen, dass er den Duschkopf fallen ließ. „Ich werde jetzt gehen. Wenn du müde bist, darfst du oben schlafen.“ „Trink nicht zu viel“, rief Harry durch die Tür zurück, stellte das Wasser ab und trocknete seinen Körper ab. Währenddessen dachte er darüber nach, was er mit seiner Zeit allein anfangen sollte. Er konnte fernsehen, Musik hören, auf den Spielplatz gehen oder … mit Louis reden. Letzteres fiel aber weg, schon allein, weil er heute an nichts anderes denken konnte als an seine Mom. Was fing er nur mit sich an? Er suchte nach dieser CD seiner Mom, die sie damals fast täglich gehört hatte. Die laute Musik dröhnte manchmal von morgens bis abends aus ihrem Atelier. Harry konnte sie jedoch nicht finden, sie war bestimmt bei den anderen ihrer Sachen im Keller, zu dem er keinen Zugang hatte. Einerseits war die Tür natürlich verschlossen, andererseits stand davor eine große Kommode und darüber ein Gemälde, was die Tür vollkommen verdeckte, das war gleichbedeutend mit polizeilichem Absperrband.
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Chapter Seventeen
Harry verbrachte den Abend mit Fernsehen, aber je später es wurde, desto beschissener wurde das Programm, die Episoden wiederholten sich, auf manchen Sendern lief nur noch Kram aus den Achtzigern und Neunzigern, also ging Harry in die Küche, nahm noch einen kleinen Snack zu sich und machte sich Tee, während er auf seinen Vater wartete. Es war nicht so, als würde er etwas von ihm brauchen, er wollte nur sicher gehen, dass er nicht zu betrunken nachhause kam. Dass er überhaupt nachhause fand. Nebenbei lief noch der Fernseher, da Harry die Stille nicht ertragen konnte. Es war so eine unheilvolle Ruhe, die über dem Haus lag, wie in diesem Gruselfilm, auf den er bei dem ständigen Kanalwechsel gestoßen war. Schon nach fünf Minuten hatte er wieder umgeschaltet, im Moment lief eine Dokumentation über Raubtiere, kaum weniger ekelhaft, trotzdem sehr entspannend, vor allem die Stimme des Sprechers. Es waren Jaguare, die gefangen genommen wurden und denen ein GPS-Tracker eingepflanzt worden war, bevor sie wieder in ihre natürliche Umgebung freigelassen wurden. Mithilfe des Trackers konnten Forscher die gleiche Herde Jaguare über ein Jahr lang beobachten und ihr Verhalten studieren. Eigentlich nichts weltbewegend Spannendes, Harry hätte sich viel lieber eine seinem Alter entsprechende Serie angesehen, so wie Louis es getan hätte, aber er hatte leider keinen Computer. Sein Vater hatte einen, aber er könnte jeden Moment nachhause kommen und so besoffen sein, dass ihn das kleinste Staubkorn wütend machte. Da war es dann doch leichter, einfach diese blöde Doku anzusehen. Als er nachhause kam, war er so betrunken, dass er kaum mehr gerade stehen, kaum einen Schritt gehen konnte. Und das Sprechen fiel ihm auch ziemlich schwer. Es war kein schöner Anblick, seinen eigenen Vater so zu sehen. Harry machte den Fernseher aus und folgte seinen torkelnden Schritten die Treppe hinauf, er hatte zu große Angst davor, etwas zu fragen. Er hasste diese Tradition, das alljährliche Besäufnis seines Vaters machte es Harry nicht gerade leichter, den Verlust zu verkraften, er sah damit schließlich, dass selbst sein Vater das nicht konnte. „Harry!“ Es hatte irgendetwas Bestialisches an sich, wie er das vor sich hin brüllte. „Ich bin hier, direkt hinter dir.“ Er zitterte vor Angst. Er gab ein Brummen von sich, während er weiter Stufe für Stufe erklomm. „Ich war heute im Keller“, lallte er kaum verständlich vor sich hin. Es kostete Harry eine Menge Anstrengung, zu verstehen, was er da von sich gab. Danach kam noch irgendwas mit „den ganzen Scheiß wegschmeißen“, den Anfang des Satzes hatte er nicht verstanden, aber er hoffte, dass sein Vater nicht vorhatte, den Keller komplett auszumisten. „Hab da e'was für di... 'efunden.“ Er ließ sich auf das Bett fallen und streifte die Schuhe von den Füßen. „Im Keller?“, hakte Harry nach. „Hm-mh“, er drehte den Kopf so im Kreis, dass er kaum ausmachen konnte, ob es ein Kopfschütteln oder ein Nicken war, aber da er nichts weiteres dazu hinzufügte, ging er davon aus, dass er damit bejaht hatte. Harry ging ins Badezimmer und füllte den Becher mit den Zahnbürsten mit Wasser auf. Er holte außerdem die Schachtel Aspirin aus dem Schrank neben dem Spiegel. Bei seiner Rückkehr hatte sein Vater bereits die Hose ausgezogen und fiel bei dem Versuch, nach der Decke zu greifen, fast aus dem Bett. Harry legte sich dazu und deckte sie beide zu. Er hatte noch den dicken Hoodie und die Jeans an und weigerte sich, auch nur eines davon auszuziehen. Sein Vater schlang einen Arm um ihn und zog ihn fest an sich. Harry hatte die ganze Nacht lang sein Schnarchen im Ohr, aber er konnte dabei nur an Louis denken. Der Gedanke an ihn und sein Schnarchen machte ihn auch langsam müde, so dass auch er bald darauf einschlief.
Am Morgen fühlte Harry sich richtig elend. Bestimmt nicht so schlimm wie sein Vater, aber doch so sehr, dass er lange das Gemälde anstarrte, hinter dem Sich die Kellertür verbarg. Sein Dad schlief noch, aber er würde ihn bald wecken müssen, er wollte schließlich in die Kirche gehen. Er wollte das irgendwie gar nicht, er war bestimmt schlecht gelaunt, wenn er aufwachte und einen Kater hatte. Das wusste er schon aus den letzten Jahren, deshalb hatte er ihm auch am Abend schon das Glas Wasser und die Tabletten hingestellt. Harry zog sich noch schnell um und stellte ein paar Sachen für das Frühstück auf den Tisch, den Autoschlüssel hängte er wieder an das Schlüsselbrett, er achtete bei alldem penibel darauf, nicht allzu viel Krach zu machen. Erst dann fühlte er sich dem gewachsen, seinen Dad aufzuwecken. „Hmmm, wie spät ist es?“ „Kurz nach acht, um neun beginnt der Gottesdienst.“ Er grummelte in sein Kissen. „Nimm wenigstens die Tablette schon jetzt, dann hat sie Zeit zu wirken.“ Es war jedes Jahr das gleiche, sein Vater setzte sich mit einem Kater in die Kirche und sah danach aus, als würde ihm bei der lauten Orgelmusik der Kopf platzen, aber er nahm es jedes Jahr wieder auf sich. „Komm in fünfzehn Minuten noch mal“, sagte er, bevor er eine Tablette mit Wasser herunter schluckte. Harry nickte und ging nach unten. Er machte sich einen Pfefferminztee, während er so gedankenverloren in der Tasse herumrührte, kamen ihm die Worte seines Vaters aus der letzten Nacht wieder in den Sinn. Er war im Keller und hatte dort etwas gefunden? Irgendetwas dergleichen hatte er doch gesagt. Vielleicht hatte er das ja auch nur im Suff so vor sich hin gebrabbelt oder sich ausgedacht. Während er die Wand mit der Kellertür angestarrt hatte, war ihm jedenfalls nicht aufgefallen, dass es anders aussah als sonst. Die Kommode sah nicht danach aus, als wäre sie verrückt worden. Hm. Aus der Geschichte wurde er nicht schlau. Er würde wohl warten müssen, bis sein Vater damit herausrückte. Es war viertel nach acht, Harry ging noch einmal nach oben, um seinen Vater aufzuwecken. Überraschenderweise ging er ohne viele Widerworte darauf ein. Er stand auf und holte sich Hemd und Hose aus den Kleiderschrank, bevor Harry das Zimmer verließ. Er hörte, wie sein Vater die Dusche anstellte, da machte er sich noch einen Tee. Das Frühstück würde noch ein bisschen warten müssen. Nach acht Minuten kam sein Vater nach unten und setzte sich zu Harry an den Esstisch. Er hatte schon etwas Toast geröstet, auf dem Tisch stand alles bereit. „Habe ich gestern irgendetwas getan oder gesagt, das ich wissen sollte?“ Wann immer Harry seinen verkaterten Vater sah – und das geschah wenigstens dreimal im Jahr – sah er nicht den Mann in ihm, der ihn regelmäßig missbrauchte. Es war eine Facette, die ihn an seinen früheren Vater erinnerte. „Du hast mir versprochen, mir mein Bett zu Weihnachten zu schenken“, sagte er leise und wandte sich dabei dem Toaster zu. „Zu Weihnachten, hm? Versprochen?“, murmelte er vor sich hin. „Ja“, bestätigte Harry. „Meinetwegen.“ Er hätte Luftsprünge machen können. In absehbarer Zeit hätte er sein Bett zurück. Dann war er auch keine so große Last für Louis mehr. „Und du hast davon geredet, dass du gestern im Keller warst und da was gefunden hast … für mich. Aber ich war mir nicht sicher, ob das wahr ist, du warst schon ziemlich voll, als du das gesagt hast.“ „Es stimmt, aber davon solltest du eigentlich erst heute erfahren.“ Er legte zwei Scheiben Wurst auf sein Toastbrot. „Warum? Und worum geht es überhaupt?“ „Erzähle ich dir später.“ Harry platzte fast vor Ungeduld. Sein Vater war sonst nie im Keller und er erst recht nicht. Es war wie das Atelier – ein verbotener Ort. Harry war dort nicht mehr gewesen, seit er selbst einige Sachen seiner Mom dort untergebracht hatte. Es war ein kahler Raum mit Putzwänden, Betonboden und einem Haufen Spinnweben. An der Wand neben der Treppe zog sich ein hohes Regal aus Metall entlang, sonst war der Raum leer. In der letzten Erinnerung an diesen Raum war er völlig überfüllt mit Kartons, in der Ecke standen ein paar hölzerne Staffeleien mit bunten Farbspritzern, daneben eine Kiste voll mit Farben und Pinseln. Außerdem war die komplette Einrichtung des Ateliers, auch die Möbel, die Hälfte der Schlafzimmereinrichtung und auch alles aus dem Badezimmer, dem Wohnzimmer und alles Mögliche, was an ihre Existenz erinnerte in den Keller gewandert. Der dritte Stuhl am Esstisch fehlte, die Nägel in der Wand im Flur und im Wohnzimmer erinnerten daran, dass dort mal Familienfotos und Leinwände gehangen hatten. Eine Ecke des Kellers war voll mit Bildern seiner Mutter. Harry vermisste oft sehr, sie anzusehen, denn durch sie war das Haus bunt und lebhaft gewesen. Jetzt waren sie weg, und das Haus, das sie mit viel Liebe dekoriert hatte, war leblos, grau und einsam.
In der örtlichen Kirche war es heute ziemlich leer. Nicht, als hätte Harry beurteilen können, wie viele Leute sonst in die Kirche gingen, er war eigentlich nur fünfmal im Jahr dort, zu Festtagen, und da war es normalerweise echt voll. Auf den Bänken saßen überwiegend alte Leute, deshalb war er auch so überrascht, in der dritten Reihe Louis zwischen seiner Mutter und seiner kleinen Schwester zu sehen. Er wunderte sich darüber, er hatte nämlich nie erwähnt, dass er gläubig war oder in die Kirche ging. Vielleicht war es aber für ihn auch nur eine Ausnahme. Oder es war ihm unangenehm, darüber zu reden, dass er an Gott glaubte, weil er dann als irre abgestempelt werden könnte. Aber soweit Harry sich an den Inhalt der Bibel erinnerte, waren gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht wirklich „Gottes Wille“, deshalb war es wahrscheinlich nicht der Fall. Es war wohl eher so, dass er von seiner Mutter dazu gezwungen wurde. Den ganzen Gottesdienst lang dachte Harry sich alle Möglichen Gründe aus, warum Louis hier sein sollte, ausgerechnet heute, er konzentrierte sich gar nicht auf den Pfarrer oder betete oder sang mit den anderen. Er war zu beschäftigt damit, Louis anzusehen. Dieser bemerkte ihn jedoch erst, als die Messe vorüber war und alle den Ausgang anstrebten. „Hi, Harry.“ Louis blieb neben dem Eingang stehen, er schien sich wohl ein bisschen unterhalten zu wollen. „Hey.“ „Ist das dein neuer Freund?“ „Ja.“ Harry senkte den Blick auf die Frage seines Vaters hin. Er hatte gedacht, er hätte ihn im Getümmel abgehängt und ein paar Sekunden ohne ihn gewonnen. „Ich bin Louis“, stellte sein Gegenüber sich vor und streckte die Hand aus. Harry sah, dass er sein Gesicht verzog und war sich sehr sicher, dass sein Vater ihm gerade die Hand zerquetschte. Wie besitzergreifend er doch war. Als hätte sein Vater irgendeinen Anspruch auf ihn. Harry fühlte sich kurz wie ein Objekt behandelt, so wie sein Dad sehr oft fühlen ließ. „I-ich muss gehen“, stammelte Louis und ging zu seiner Familie zurück, die schon auf ihn wartete. Harry und sein Dad gingen schweigend zum Grab, sprachen ein stilles Gebet für sie. Louis ging währenddessen an ihnen vorbei und so wie ihm der Mund aufklappte, schien ihm ein Licht aufzugehen. Harry beobachtete ihn kurz beim Vorbeigehen, dann sah er wieder auf das Grab. „Wird wieder Zeit für ein paar neue Blumen, was?“ Harry nickte und behielt für sich, was er gerne gesagt hätte. Nämlich dass sein Vater viel zu selten herkam, um das Grab zu pflegen und deshalb alle Blumen eingingen. Ein paar Minuten später machten auch sie sich auf den Nachhauseweg. Harry sah ein bisschen fern, sein Vater legte sich wieder schlafen, obwohl er ihm versprochen hatte, mit ihm über den Keller zu reden. Auch Harry schlief bei einer uralten Folge Tom&Jerry auf dem Sofa ein. Das Klappern von Geschirr und das Rumpeln von schließenden Schranktüren weckte ihn am frühen Nachmittag auf. Sein Vater hatte gekocht, was an sich schon ein ziemlich überraschendes Werk war. Außerdem hatte er gesehen, dass er auf dem Sofa schlief und ihn nicht geweckt und bestraft. Mussten noch Nachwirkungen von dem Alkohol sein. Auf dem Tisch stand eine kleine, viereckige Schachtel, die nach einer Schmuckschatulle aussah. „Was ist das?“ „Mach es auf, dann siehst du selbst.“ Harry setzte sich auf seinen gewohnten Platz, zog das Schächtelchen an sich heran und zögerte noch einen Moment, bevor er es öffnete. Er schloss den Deckel nach ein paar Sekunden wieder. „Das hast du aus dem Keller geholt?“ „Ja. Du sollst es haben.“ „Ist das wirklich der richtige Anlass für Geschenke? Vor allem für solche.“ „Hm, keine Ahnung.“ Für einen kurzen Moment lang hielt er inne, bevor er weiter in dem Topf herum rührte. „Deine Mutter hat sie sehr gerne gehabt, sie hat sie selbst gemacht.“ „Ich weiß, sie hat sie immer getragen, jeden Tag.“ Harry öffnete die Schachtel erneut und gab sich noch einmal dem Anblick hin. Es war eine goldene Halskette, die eine sehr alte und abgenutzte Optik hatte. An der Kette war ein kleiner, runder Anhänger aus dem gleichen Material, etwa so groß wie eine Daumenkuppe. In der Innenseite war der Fingerabdruck seiner Mom abgebildet, auf der Außenseite ein geschnörkeltes Muster eingraviert. Es war ein sehr persönliches Stück, Harry traute sich kaum, sie aus der Schachtel zu nehmen und anzulegen.
An diesem Tag verbrachte Harry noch viel Zeit damit, sich und die Halskette im Spiegel an zusehen und darüber nachzudenken, was er von diesem Geschenk halten sollte. Er war sich nicht sicher, ob er so viel Nähe zu seiner Mutter ertragen konnte, und dann auch noch so kurz nach ihrem Todestag. Gleichzeitig tat sich ihm die Frage auf, ob das nur ein weiterer kluger Schachzug seines Vaters war, damit dieser wieder etwas hatte, das er Harry schmerzlich entreißen konnte, wenn die Kette ihm wichtig geworden war. Vielleicht gingen ihm so langsam die Ideen aus, wie er sein Leben noch mehr zur Hölle machen konnte. Dieses Spiel über Macht, Unterwerfung und totaler Kontrolle konnte nur weiter gehen, wenn sein Vater ihm weiterhin geliebte Dinge wegnehmen konnte. Und wenn Harry zu Weihnachten sein Bett zurück bekam, dann kam ihm das sehr gelegen. Vielleicht hätte er sich doch etwas anderes wünschen sollen. Irgendein Spielzeug, das ihm nicht am Herzen lag, so dass es ihm egal sein konnte, wenn sein Vater es ihm weg nahm. Aber sein Vater würde es merken. Es gab keinen Weg, das Spiel zu durchbrechen, ohne sein Leben oder seinen Dad zu verlieren. Das Jugendamt würde Harry seinen Vater wegnehmen, wenn er diesen Anruf machte. Wenn er davon lief, wäre er ebenfalls allein. Wenn er sich das Leben nahm, dann wäre es auch vorüber, aber so verzweifelt war er nicht. Und seinen Dad umzubringen, hätte ihm ebenfalls seinen Vater genommen. Die einzige Lösung war Gehirnwäsche, dann wäre er wieder wie vor dem Tod von Harrys Mom, aber das war surreal und nicht zu verwirklichen. Deshalb wartete er ab. Bis sein Vater es irgendwann satt hatte und falls das nicht geschah, bevor er achtzehn wurde, würde er einfach ausziehen. Na ja, das sagte sich leichter, als es sich umsetzen ließ. Harry musste seinem Vater dann die Stirn bieten, ihm ins Gesicht sagen, dass er genug von diesem Spiel hatte und zu alt war, um sich von irgendwem unterwerfen zu lassen und sein eigenes Leben leben wollte. Als wäre das nicht schwierig genug, musste er dann auch sein eigenes Leben leben. Harry wusste noch nicht einmal, was er nach der Schule machen wollte. Er wusste nicht, was er gerne tat, er hatte keine Hobbys und sein Vater erlaubte ihm auch nicht, das Haus zu verlassen. Anstatt Louis nach Beziehungen zu fragen, sollte er besser mal nachfragen, wie er sich die Zukunft vorstellte, welche Pläne er hatte. Er gab sich einen Moment lang der Vorstellung hin, dass Harry und Louis sich irgendwann dieselbe Wohnung teilten, eine Arbeit hatten und immer noch Freunde waren. Wahrscheinlich würden sie sich aber bald aus den Augen verlieren, denn Louis machte in diesem Jahr seinen Abschluss und er erst im nächsten Jahr. Und selbst wenn es nicht so kam, würde es darauf hinauslaufen, da Louis ihn auf eine Weise liebte, die Harry wahrscheinlich niemals erwidern konnte.
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