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Ein Traum von Mann
- Text: Anonym
- Fotos: Stefanie Moshammer
- Erschienen: 27. April 2018
- Publikation: SZ-Magazin
**Unser Autor liebt Männer. Er fragt sich, warum es oft so mühsam ist, schwul zu sein – und findet überraschende Antworten.**
Als ich zuletzt spürte, dass ich kein echter Mann bin, stand ich auf einer Leiter und hielt eine Bohrmaschine. Ich war gerade in eine neue Wohnung gezogen, Altbau und hohe Decken. Ich bohrte zehn Löcher, steckte Dübel und Haken hinein, hängte Lampenfassungen auf. Dann verband ich die Kabel mit der Lüsterklemme.
Als ich die Sicherung wieder einschaltete und alle Lampen leuchteten, fühlte ich Stolz. Ich mag es, Dinge an Wände und Decken zu hängen. Ich mag Bohrmaschinen, Spannungsmessgeräte und Schraubzwingen. Meine Mitbewohnerin schaute mich anerkennend an. Dann sagte sie: »Schon erstaunlich, dass du so gut handwerkeln kannst.« Ausgerechnet ich.
Wenn ich einen Umzugswagen in eine enge Lücke einparke, wundern sich meine Mitfahrer, dass ich so ein großes Fahrzeug lenken kann. Wenn ich Postkarten bekomme, sind sie rosa und zeigen einen Mann in Tutu oder in Lederkluft, mit Peitsche in der Hand. Auf einer Postkarte klebte eine Briefmarke mit einem nackten Hintern. Der Po von einem Kerl natürlich. Denn ich bin ein Mann, der Männer liebt.
Lange dachte ich, das würde in meinem Leben keine Rolle spielen, außer bei der Frage, mit wem ich ins Bett gehe. Ich lebe in einem Land, in dem Schwulsein nicht mit dem Gefängnis bestraft wird oder sogar mit dem Tod. Anfang der Neunzigerjahre wurde es von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen. Seit dem vergangenen Sommer dürfen Schwule heiraten und Kinder adoptieren wie Heterosexuelle auch. Keine andere gesellschaftliche Gruppe hat in den vergangenen Jahren so viele Rechte und so viel Anerkennung gewonnen wie Schwule. Sie könnten im Jahr 2018 das gleiche Leben führen wie Heterosexuelle. Doch das tun sie nicht.
Meine heterosexuellen Freunde planen gerade ihre Hochzeit oder ziehen in größere Wohnungen, weil sie ein Kind erwarten. Meine schwulen Freunde suchen seit Jahren ohne Erfolg eine Beziehung, gehen in die Darkrooms von Schwulenbars oder ziehen allein zu Hause eine Linie Koks, bevor sie über das Internet fremde Männer zu sich einladen. Meine schwulen Freunde kämpfen gegen das Gefühl der Einsamkeit und die Verlockung der Drogen. Sie wünschen sich eine feste Beziehung und finden oft nur schnellen Sex.
Studien aus Deutschland und den USA zeigen, dass sie keine Ausnahme bilden. Weniger als die Hälfte der schwulen Männer hat einen festen Partner; in der Gesamtbevölkerung sind es zwei Drittel. Schwule rauchen mehr, nehmen häufiger verbotene Drogen und haben ein doppelt so hohes Risiko, von ihnen abhängig zu werden, wie Heterosexuelle. Sie haben öfter risikoreichen Sex, erkranken vier Mal häufiger an einer Depression oder an einer Panikstörung und denken zwei bis drei Mal so oft an Selbsttötung.
Ich wollte herausfinden, warum das so ist. Liegt es an der heterosexuellen Mehrheit, die tolerant scheint, aber immer noch denkt, Schwule seien schwach, sensibel und handwerklich ungeschickt? Oder liegt es an den Schwulen selbst?
In den vergangenen Monaten habe ich mit Psychologen und Soziologen geredet. Ich habe einsame und glückliche Schwule getroffen. Ich habe eine Sexparty besucht und mit meinen Eltern über Analverkehr gesprochen. Ich bin losgezogen, weil ich erfahren wollte, wie Schwule in unserem Land leben. Wiedergekehrt bin ich mit Antworten auf zwei größere Fragen: ob eine Gesellschaft jedem Menschen die gleichen Chancen geben kann – und wann ein Kampf um Gleichheit eigentlich gewonnen ist.
Ich bin 29 Jahre alt und Single. Manchmal, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme, öffne ich eine App, die Grindr heißt. Dann baut sich auf dem Bildschirm meines Smartphones ein Gitter von Profilbildern auf, geordnet nach Entfernung. Die schwule Welt besteht aus namenlosen Gesichtern und nackten Oberkörpern.
Auf seinem Profil kann man eintragen, ob man als HIV-positiv getestet wurde, wie groß und schwer man ist und welche Position beim Sex man bevorzugt. Es gibt die Wahl zwischen fünf Abstufungen: nur Top, eher Top, beides, eher Bottom und nur Bottom. Auch ich habe diese Felder ausgefüllt. Auf Grindr ist der schwule Mann eine Ware, die sich selbst anpreist.
»Moin«, schrieb mich letztens ein Mann an, von dem ich lediglich einen Oberkörper sah. In seinem Profil standen nur zwei Buchstaben: XL. Er meinte seinen Penis.
»Wie groß ist deiner?«, fragte der Oberkörper.
»Moin«, schrieb ich und fügte eine zentimetergenaue Angabe hinzu, mit Länge und Durchmesser.
»Geil. Worauf stehst du?«
**Sex ist eine Ressource, die in der schwulen Gemeinschaft schier grenzenlos verfügbar ist.**
Als ich es ihm schrieb, antwortete er: »Das Gleiche. Ich mag es unkompliziert und ohne viel Gelaber.« Er schob hinterher: »Mag große Schwänze.«
Ich tippte: »Eher besuchbar oder eher mobil?«
Als ich den Chat meiner besten Freundin zeigte, sagte sie, auch ihr würden manche Männer auf Dating-Portalen ungefragt Bilder ihres Penis schicken oder sie plump zum Sex auffordern. Der Unterschied ist, dass ich auf Grindr ständig solche Nachrichten bekomme. Der zweite Unterschied sei, sagte sie, dass ich die Nachrichten beantworte. Ich traf den Oberkörper ein paar Tage später. Er hieß Marco.
Scrolle ich durch meine Nachrichten, lese ich Gespräche mit Männern, von denen ich nichts weiß, außer ihrem Gewicht und ihrer Größe, und mit denen ich darüber spreche, wie ich gern Sex mit ihnen hätte. Ich sehe Fotos von erigierten und schlaffen Schwänzen, von krummen und geraden, beschnittenen und unbeschnittenen. Der schwule Mann kann ein sehr primitives Wesen sein.
Einer meiner schwulen Freunde sagt, als er mit sechzig Männern geschlafen habe, da habe er aufgehört zu zählen. Zu dem Zeitpunkt war er 21 Jahre alt. Die meisten schwulen Männer haben zwei bis fünf Sexpartner pro Jahr, 15 Prozent haben zwischen sechs und zehn, 14 Prozent zwischen elf und fünfzig. Ich kenne keinen heterosexuellen Mann, der so oft seine Partnerinnen wechselt.
Um diesen Unterschied zu ergründen, habe ich den US-Psychologen Michael Bailey angerufen. Bailey ist Professor an der Northwestern University nahe Chicago und erforscht seit Jahrzehnten, was homosexuelle und heterosexuelle Männer voneinander unterscheidet. Er filmte, wie Schwule und Heterosexuelle gehen und sich hinsetzen, und nahm auf, wie sie einen Text vorlesen. Bailey sagt, zwei Drittel der Schwulen könne man allein an ihrer Stimme und fast die Hälfte an ihrem Gang erkennen. Bis heute kenne niemand den Grund dafür. In einem Punkt, sagt er, würden sich Schwule und heterosexuelle Männer aber nicht unterscheiden: in ihrem Bedürfnis nach Sex. Pure Evolutionslehre sei das, sagt Bailey.
Für Männer ist unverbindlicher Sex mit vielen Frauen die beste Strategie, um ihre Gene möglichst weit zu verbreiten. Für Frauen ist unverbindlicher Sex ein Spiel, in dem sie wenig gewinnen und viel verlieren können. Ein Mann, sagt Bailey, investiere weniger in eine Familie, wenn die meisten Kinder nicht seine eigenen seien.
Bailey sagt, die Heterosexuellen haben weniger unverbindlichen Sex, weil die meisten Frauen nicht wollten.
Sex ist eine Ressource, die in der schwulen Gemeinschaft schier grenzenlos verfügbar ist. Schwule feiern Partys, auf denen es um nichts anderes geht.
An einem Freitagabend im Dezember stehe ich in der Schlange für den »Kit Kat«-Club in Berlin. In meinen Socken stecken drei Kondome und ein Päckchen Gleitgel. An der Garderobe gebe ich alles ab bis auf Socken, Schuhe und Unterhose.
Der Club besteht aus zwei großen Tanzflächen, auf denen Männer sich möglichst wenig zu elektronischer Musik bewegen. Manchmal treffen sich zwei Blicke, und die beiden Männer gehen in einen dunklen Raum. Dort werden sie eins mit einer Masse nackter Körper, schwitzender, erregter, ruheloser Körper.
Ich spüre Hände, die nach mir greifen, ein leichtes Nicken heißt »Ja«, ein Kopfschütteln »Nein«. Ich sehe Penisse, die in Körperöffnungen stecken. Als ich in die Gesichter der Männer schaue, entdecke ich keine Spur von Freude. Es sieht aus, als müssten sie eine schwere Arbeit verrichten.
Auf dem Weg nach Hause frage ich mich, was der viele unverbindliche Sex mit den Schwulen macht. Mir kommt es vor, als ob viele von ihnen Sex mit dem verwechseln, wonach sie eigentlich suchen: Nähe. In der schwulen Welt ist es intimer, miteinander zu kuscheln als miteinander zu vögeln.
Treffe ich einen der Männer von der App, merke ich, dass er bloß ein austauschbares Bildchen ist. Dass er die gleichen Komplimente vorher schon so vielen anderen Männern gegeben hat. Ich berühre ihn, aber ich spüre ihn nicht.
Höre ich in mich hinein, ist da eine Leere, die sich nicht füllen lässt.
In Umfragen sagen vier von fünf alleinstehenden Schwulen, sie wünschten sich einen festen Partner. Einer von ihnen bin ich.
Ich mag es, meinen Kopf auf die Brust eines Mannes zu legen und seinen Herzschlag zu spüren. Ich mag es, seine Bartstoppeln zu zählen. Irgendwann möchte ich mich mit diesem Mann darum streiten, wer unseren Kindern abends die Zähne putzt und ihnen morgens ein Pausenbrot schmiert.
Letztens habe ich einen schwulen Bekannten besucht. Paul ist Mitte vierzig, arbeitet erfolgreich als Anwalt und lebt in der obersten Etage eines alten Backsteinhauses mit Dachterrasse. Manchmal wohnt ein Mann bei ihm, den er als Kumpel bezeichnet. Sie schlafen miteinander, aber im Alltag habe ich die beiden nie Zärtlichkeit austauschen sehen.
Als ich seine Wohnung betrat, stand Paul gebeugt über einen großen Tisch und machte ein Puzzle mit tausend Teilen. Wie ich ihn da sah, einsam mit seinen Puzzleteilen, erschrak ich. So möchte ich nicht enden.
![Jeans](Jeans.jpg)
In einer Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2000 stuften sich 1,3 Prozent der befragten Männer in Deutschland als schwul ein – aber 9,4 Prozent gaben an, sich von Männern erotisch angezogen zu fühlen.
Meine Kindheit verbrachte ich in einem Dorf im Münsterland. Ich wuchs auf mit meinen Eltern und drei älteren Geschwistern in einem Einfamilienhaus mit Garten, in dem Gurken und Sauerkirschen wuchsen. An unser Grundstück grenzte eine Schweinewiese. Der Kirchturm im Ortskern wachte über die knapp 8000 Seelen und die katholische Bürgerlichkeit. Dass es noch andere Formen zu leben und zu lieben gab als die Kleinfamilie mit Mutter, Vater und Kindern, darüber wurde nicht gesprochen.
Der Lebensweg heterosexueller Männer verläuft auf einer breiten Autobahn, auf der es manchmal Schlaglöcher geben mag. Doch vor allem gibt es gut markierte Ausfahrten, die ins Büro eines Standesbeamten führen oder in den Kreißsaal. Für schwule Männer dagegen führt der Lebensweg durch das Unterholz eines Waldes, die Pfade sind schlecht ausgetreten, und an den Gabelungen fehlen Wegweiser.
Manchmal muss ich darüber lachen, wenn Menschen behaupten, Homosexuelle könnten Kinder mit ihrer sexuellen Orientierung anstecken. Wenn das so wäre, ich wäre nie schwul geworden. Niemand lebte mir vor, wie das gehen soll: ein Leben als Schwuler.
![Nackter Mann](Nackter%20Mann.jpg)
Laut Umfragedaten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes betrachten 18 Prozent der Deutschen Homosexualität als unnatürlich. Und 38 Prozent finden es unangenehm, Männer zu sehen, die einander küssen.
Bislang haben Forscher nicht herausgefunden, warum etwa drei Prozent der Männer homosexuell werden und die anderen heterosexuell. Studien an eineiigen und zweieiigen Zwillingen zeigen eine geringe genetische Veranlagung. Ein einziges Schwulen-Gen scheint es jedoch nicht zu geben. Wäre Schwulsein rein genetisch bedingt, wären Schwule längst ausgestorben, weil sie sich selten fortpflanzen.
Forscher haben daher die Zeit im Mutterleib in den Blick genommen. Einige vermuten die Ursache in Eiweißen, die vom männlichen Y-Chromosom gebildet werden und im Gehirn des Fötus das Begehren nach Frauen anlegen. Manche Mütter bilden Antikörper, um die Eiweiße zu bekämpfen – je mehr, desto öfter sie schwanger werden. Das könnte erklären, warum mit jedem Sohn die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er schwul wird. Auch ich habe zwei ältere Brüder.
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„To give a person one’s opinion and correct his faults is an important thing. It is compassionate and comes first in matters of service. But the way of doing this is extremely difficult. To discover the good and bad points of a person is an easy , and to give an opinion concerning them is easy, too. For the most part, people think that they are being kind by saying the things that other find distasteful or difficult to say. But if it is not received well, they think that there is nothing more to be done. This is completely worthless. It is the same as bringing shame to a person by slandering him. It is nothing more than getting it off one’s chest.
To give a person an opinion one must first judge well whether that person is of the disposition to receive it or not. One must become close with him and make sure that he continually trusts one’s word. Approaching subjects that are dear to him, seek the best way to speak and to be well understood. Judge the occasion, and determine whether it is better by letter or at the time of leave-taking. Praise his good points and use every device to encourage him, perhaps by talking about one’s own faults without touching on his, but so that they will occur to him. Have him receive this in the way that a man would drink water when his throat is dry,and it will be an opinion that will correct faults.
This is extremely difficult. If a person’s fault is a habit of some years prior, by ad large it won’t be remedied. I have had this experience myself. To be intimate with all one’s comrades, correcting each other’s faults, and being of one mind to be of use to the master is the great compassion of a retainer. By bringing shame to a person, how could one expect to make him a better man?“
—Yamamoto Tsunetomo (William Scott Wilson), Hagakure. The Way of the Samurai, Kodansha, 2002, Page 27
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Ihre Meinung ist uns wichtig
Die Gäste kamen spät, und sie waren übler Laune. Die Airline hatte den letzten Flieger gecancelt und ihren gestrandeten Passagieren Zimmer in einem jener Kettenhotels gebucht, wie man sie im Umfeld jedes Flughafens findet. An der Rezeption saß Angela M., eine junge Auszubildende, der man den Spätdienst aufgedrückt hatte; nun wurde sie von genervten Leuten belagert, die alle eines wollten: sofort ein Zimmer. Es dauert natürlich, Gäste im Dutzend einzuchecken, und das Gemecker der Ungeduldigen und Wichtigtuer unter ihnen führte nicht zur Verbesserung der Abläufe.
Die Folge: ein kleiner Kübel voll digitalen Unrats. Schlechte Bewertungen für das Hotel, wenig Sterne: schlafmütziger Service; überfordertes Personal; nie wieder! In einem vernünftigen Betrieb würde sich der Chef anderntags informieren, was da los war in der Nacht, und im Zweifel seiner Auszubildenden sagen: Du kannst doch nichts dafür, wenn deren Flug ausfällt, mach dir keinen Kopf. Frau M.s Vorgesetzter jedoch starrte auf die bösen Bewertungen wie die Wüstenmaus auf die Klapperschlange. Die Ranking-Sterne sind für ihn die Währung, die sein Handeln bestimmt, und was diese Währung wirklich wert ist, spielt dabei keine Rolle. Kurze Zeit später wurde Angela M. entlassen.
Die schöne neue Welt der Bewertung ist fast allgegenwärtig. Am Sitz im Bahnwaggon: Bitte bewerten Sie Ihre heutige Fahrt! Im Modehaus an der Kasse: Bitte Knöpfchen drücken: War der Service :-) oder :-I oder :-(? Das Hotel fleht und bettelt geradezu nach Bewertungen, der Supermarkt ebenso, die Autovermietung, der Fahrradhändler, der Ebay-Verkäufer. Schüler bewerten ihre Lehrer, Patienten ihre Zahnärzte, sogar Häftlinge die Anstalt, in der sie einsitzen. Und hätte man sich die Informationsgesellschaft so vorgestellt, dass ihre Mitglieder über öffentliche Toiletten per Smiley-Touchpad urteilen?
Das Verfahren gegen Jameda zeigt den Widerspruch zwischen vermeintlicher Objektivität und beinharten Geschäftsinteressen
Das Verfahren gegen Jameda zeigt den Widerspruch zwischen vermeintlicher Objektivität und beinharten Geschäftsinteressen
Aus kleinen Anfängen ist eine gewaltige Maschinerie geworden, die fast alle Lebensbereiche erfasst. Allein das führende Reiseportal Tripadvisor wirbt für sich, “mit über 500 Millionen authentischen Reisebewertungen können wir Ihnen dabei helfen, bei der Buchung von Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten die richtige Wahl zu treffen”. Wie irreversibel dieser Sog ist, fällt der Öffentlichkeit höchstens in den seltenen Fällen auf, in denen die reale Welt ein Rückzugsgefecht gewinnt, wenn etwa diese Woche die Ärzte-Bewertungsplattform Jameda vor dem Bundesgerichtshof eine Schlappe erleidet.
Das Verfahren, das eine Kölner Hautärztin angestrengt hatte, zeigte deutlich einen grundsätzlichen Widerspruch der digitalen Rating-Plattformen: jenen zwischen vermeintlicher Objektivität und Informationsfreiheit und den beinharten Geschäftsinteressen der Betreiber. Solche Interessen sind natürlich legitim, doch verstehen es die Internetkonzerne, sich dabei als Pioniere einer gerechteren Welt zu verkleiden. Zum Geschäftsmodell von Jameda, das der BGH nun verworfen hat, gehörte eine Zweiklassengesellschaft, in der die Zahlenden wesentlich günstiger auf den Seiten porträtiert werden als die Nichtzahlenden. Die Anwältin der Kölner Ärztin sprach sogar von “Schutzgeld”.
Um nicht missverstanden zu werden: Das Bewertungswesen ist tatsächlich ein Beitrag zur Demokratisierung. Es hindert den Wirt der “Pension zur fröhlichen Wanze”, seine Absteige als Boutique-Hotel zu vermarkten; es zwingt ein Restaurant, halbwegs einzuhalten, was es an Wohltaten verspricht; es sorgt dafür, dass sich ein PC-Hersteller lieber zweimal überlegt, ob er die Kosten für eine verständliche Gebrauchsanweisung wirklich wegsparen sollte. Online-Bewertungen geben allen Bürgern Gelegenheit, sich direkt zu äußern und auszutauschen, ob mit Kritik oder Lob. Auf Amazon bieten die Kundenrezensionen - ob zu neuen Büchern, Tauchermasken, Lego-Star-Wars-Raumschiffen oder dem Mithörcomputer “Alexa” - oft enorm viel Hilfreiches, das sonst nur schwer in Erfahrung zu bringen wäre.
Doch der Fortschritt ist teuer erkauft. Der Preis ermisst sich im Verlust an Differenzierung und in einer bis ins Manische gestiegenen Bereitschaft, vom Rollmops bis zur Regierung alles und jedes in Kinderförmchen der Kritik zu pressen. Die schöne neue Bewertungswelt ruft die Menschen dazu auf, sich als Richter über andere aufzuschwingen; doch wo der echte Richter dicke Gesetzbücher benötigt, genügt dem radikal-subjektiven Online-Richter ein Smartphone. Nicht Diskussion, nicht offene Debatte ist das oberste Ziel der Rankinggesellschaft, sondern das Werturteil, und zwar ein so einfaches, dass es sich mit einem bis fünf Sternen ausdrücken lässt.
Und gegen dieses Urteil ist Einspruch Betroffener nicht erwünscht; wer ihn dennoch versucht, läuft Gefahr, erst einmal unzulässigen Drucks oder der Bedrohung des demokratischen Diskurses verdächtigt zu werden. So wurde der Wirt einer Münchner Jazzbar, der ein “Nutzer” per Schmähkritik miserables Essen bescheinigte, obwohl es dort gar nichts zu essen gibt, vom Portal anfangs behandelt, als habe er einen Schlägertrupp losgeschickt - er hatte völlig zu Recht seinen Anwalt mobilisiert.
Dabei ist das Problem gar nicht in erster Linie der offene Missbrauch, also das Bewerten als Waffe der üblichen Hater und Trolle. “Die allgegenwärtige Sternchenbewertung fällt in eine Zeit, in der im Internet nicht mehr diskutiert wird, sondern nur noch gepöbelt”, monierte etwa die FAZ. Doch das wird der großen Mehrheit der Nutzer, die Sternchen vergeben, nicht gerecht (davon abgesehen, dass die Portale aus Eigeninteresse zumindest die übelsten Fälle löschen oder das zumindest behaupten). Das Problem ist das System selbst.
Welches Menschenbild zeichnet sich ab, wenn die Gesellschaft funktionieren soll wie eine riesige Ratingagentur, deren Regeln von den ökonomischen Interessen mächtiger Portale und Internetkonzerne bestimmt werden? In dieser Welt ist das Individuum, das mit Namen und Person für etwas steht, Objekt unablässiger Überprüfung durch eine mehrheitlich anonyme Masse. “Die einzige rationale Einstellung zur Geschichte der Freiheit besteht in dem Eingeständnis, dass wir es sind, die für sie die Verantwortung tragen, - in demselben Sinn, in dem wir für den Aufbau unseres Lebens verantwortlich sind.” So schrieb der Philosoph Karl Popper 1945 in seinem Hauptwerk “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde”.
Wer dagegen auf die Liquid Democracy setzt, auf die Menge der meist unbekannten User, erzeugt ein Gefälle zwischen jenen, die mit ihrer Person Verantwortung tragen, und den anderen, die genau das scheuen wie die FDP das Regieren. Gerade die verbreitete Anonymität ist mitverantwortlich dafür, dass die Bewertungsforen Manipulationen oder gleich groß angelegten Fälschungen Tür und Tor öffnen. Immer mehr Fälle werden bekannt, in denen Leute sich Vergünstigungen mit der Drohung verschaffen, den Laden, das Hotel, das Produkt sonst mies zu bewerten. Umgekehrt machen geschickte Firmen bereits ein Geschäft daraus, Rezensenten zu ködern - mit Freiexemplaren, Gutschriften oder schlichter Bestechung. Für ein paar Dutzend Euro bieten Firmen ganze Bewertungspakete an, 10, 50, 100 echt anmutende Kommentare - alles Fake.
Wie mit einer Live Cam lässt sich derlei auf dem Analyseportal reviewmeta.com verfolgen. Nehmen wir Montag, den 19. Februar, Amazon-Angebote: Bei “worst of” weit oben steht etwa die Anleitung für, was immer das sein mag, “Intermittierendes Fasten für Frauen”, angebliche Kundenzufriedenheit laut Bewertungen: 4,5 von fünf Sternen bei 56 Bewertungen insgesamt. Review Meta hat ein Analyseprogramm darüber laufen lassen, Ergebnis: Nur drei Bewertungen seien echt, hier liegt die Zufriedenheit bei sehr bescheidenen 2,2 Sternen. Bei der Peel-Off-Gesichtsmaske bleiben drei von 50 übrig, Gesamtwert desaströse 1,0 Sterne. Laut Review Meta sind mindestens 20 Prozent der Einträge in Bewertungsportalen Fälschungen.
Trotzdem ist das vielen Nutzern entweder nicht klar oder gleichgültig. Nicht wenige von ihnen vertrauen “dem Netz” mehr als der eigenen Erfahrung, mit der Folge, dass sie nichts mehr durch eigene Entdeckungen erfahren. Es gibt Leute, die im Urlaub ein noch so schönes Restaurant am Strand auf keinen Fall betreten, weil im Reiseportal negative Bewertungen stehen. Wer diese geschrieben hat und warum, interessiert sie nicht.
Zwischen der Welt des mündigen Verbrauchers und der des digitalen Blockwarts verschwimmen die Grenzen
Das ist so, als ob ein Fünftel aller Seiten eines Reiseführers vom Buchverlag oder dem Autor manipuliert oder völliger Nonsens wären, sich die Geheimtipps am Strand von Mykonos als Abzockerbuden mit Parkplatzblick entpuppen würden, die Sterne vergeben von den Saufkumpanen des Wirts und die Verrisse geschrieben von seinen Konkurrenten. Nie wieder würde man ein Buch dieses Verlags erstehen.
Die Grenzen verschwimmen zwischen der Welt des mündigen Verbrauchers und jener des digitalen Blockwarts. Noch problematischer wird es, wenn anonyme Bewertungen über Karrieren und Lebensläufe entscheiden. An vielen Universitäten sollen die Studenten zum Abschluss ihrer Kurse den Dozenten evaluieren, schriftlich und anonym. Von Aristoteles bis Adorno hat die Wissenschaft vom offenen Austausch auch zwischen Lehrer und Schüler gelebt, oft genug setzten sich die Schüler durch. Stattdessen raunt ausgerechnet die Universität ihrem Nachwuchs zu: Es ist doch besser und sicherer, ja sogar euer Grundrecht, nicht persönlich für das einstehen zu müssen, was ihr meint. Das ist der Geist, der Freiheit predigt und Feigheit schafft, der die Schwachen schützen will und sie in Wahrheit noch schwächer macht. Und vor was eigentlich schützen? Sich Gegenargumente anhören zu müssen? Oder Widerworte? Vor der Unbequemlichkeit, Farbe zu bekennen?
Garmisch-Partenkirchen, ein älteres Hotel; etwa sieben Umbauten früher muss es sehr schön gewesen sein. Heute sind nur noch die Preise gehoben, die Fenster schlecht isoliert und die Zimmer dunkel, im Bad flackerte eine Funzel. Als der Gast morgens zahlen will, fragt ihn der Angestellte am Empfang, ohne aufzublicken: “Waren Sie zufrieden?” Er fragt es im Ton eines Mannes, der eigentlich sagen will: Erzähl das jemanden, den es interessiert; aber das bin ganz sicher nicht ich. “Nein”, erwidert der Gast, “nicht besonders.” Der Portier sagt nur: “Na dann. 110 Euro bitte.”
Kurz durchzuckte den Gast der Gedanke, sich via Tripadvisor zu rächen, ein Stern nur und ein paar gemeine Worte. Aber es erschien ihm dann doch zu kleinlich und verbissen. Er fasste stattdessen einen naheliegenden Entschluss: einfach nicht wiederzukommen.
—
Dr. Joachim Käppner
Geboren 1961. Nach Ausbildung auf der Deutschen Journalistenschule in München Promotion in Geschichte und Redakteur des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes. Seit 1999 SZ-Redakteur mit Schwerpunkt Sicherheit, 2002 Stellvertretender Leiter Innenpolitik, 2006 bis 2010 Leiter der Lokalredaktion. Theodor-Wolff-Preis 1998, Herwig-Weber-Preis 2010; Quandt-Medienpreis 2011. Mit Robert Probst Herausgeber mehrerer historischer Bücher in der sz-edition (“1945 - Die letzten 50 Tage”; “Befreit, besetzt, geteilt”; “Der Zweite Weltkrieg - Die letzten Augenzeugen”), mit Wolfgang Görl und Christian Mayer Herausgeber von “850 Jahre München. Die Geschichte der Stadt”. Heimliche Leidenschaft: Streiflicht.
[Essay non Joachim Käppner, Süddeutschen Zeitung vom 24.02.2018, Gesellschaft, http://sz.de/1.3877863]
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Das missbrauchte Geschlecht
Wie kann man Frauen in der Sprache sichtbarer machen? Muss man sich dafür zum Herren oder zur Herrin über die Grammatik aufschwingen? Mit dem Gendern gehen sprachpolizeiliche Allüren einher.
VON PETER EISENBERG
Als vor fast vierzig Jahren das Fräulein abgeschafft war und das Gendern begann, wollte man damit zur Sichtbarmachung von Frauen in der Sprache beitragen. Schon damals wurden Denkweisen angelegt, die sich als irreführend herausstellen mussten. Die gängigste Form des Genderns bestand in der Ersetzung von Wörtern wie Bäcker durch Bäckerin und Bäcker. Man unterstellte, damit werde Gendergerechtigkeit möglich, Bäckerin sollte Frauen und Bäcker sollte Männer dieses Berufsstandes bezeichnen. Dem Genus Femininum wurde die Bezeichnung von Frauen, dem Maskulinum die Bezeichnung von Männern zugeschrieben, was prinzipiell unzutreffend ist. Grammatisches und "natürliches" Geschlecht haben, betrachtet man den Wortschatz des Deutschen als Ganzes, wenig miteinander zu tun.
Wortbildungslehren beschreiben das Ergebnis der Ableitung von Substantiven mit dem Suffix "er" aus Verben (Bäcker aus backen) als "Person, die die vom Verb bezeichnete Tätigkeit ausübt." Von Männern ist beim Nomen Agentis nicht die Rede. Bäcker als Maskulinum bezeichnet ebenso wenig ausschließlich Männer wie Person als Femininum ausschließlich Frauen bezeichnet. So ist das im Deutschen. Es gibt hier ein Wort, das ausschließlich Frauen bezeichnet (Bäckerin), aber keins, das ausschließlich Männer bezeichnet. Frauen sind sprachlich zweimal, Männer einmal sichtbar.
Das Genus in den indoeuropäischen Sprachen ist entstanden durch Zweiteilung in Bezeichnungen für Belebtes (später Maskulinum) und Unbelebtes (später Neutrum). Das Femininum kam als drittes Genus hinzu und spezialisierte sich auf Kollektiva und Abstrakta. Mit dem natürlichen Geschlecht weiblich hatte es nichts zu tun, und dabei ist es bis heute im Wesentlichen geblieben.
Vollkommene Symmetrie gibt es nicht im Kategoriengefüge natürlicher Sprachen
Seit den Arbeiten des russisch-amerikanischen Sprachwissenschaftlers Roman Jakobson aus den 1930er-Jahren wissen wir, dass in allen Gruppen von grammatischen Kategorien jeweils eine als die unmarkierte fungiert, das heißt als eine mit allgemeiner, unspezifischer Bedeutung im jeweiligen Bereich. Grammatische Kategorien wie Singular - Plural, Indikativ - Konjunktiv oder Aktiv - Passiv teilen einen Benennungsbereich niemals in gleiche Teile, sondern funktionieren nach dem Prinzip von Hintergrund (unmarkierte Kategorie) und Bild (markierte Kategorie mit speziellerer Bedeutung und aufwendigerer Form). Bei den meisten Klassen von Abstrakta und Kollektiva des Deutschen (Erregung, Klugheit, Seilschaft) ist, ganz im Einklang mit der Genese des Genus, das Femininum unmarkiert mit der Folge, dass auch bei Artikelwörtern und Pronomina der Plural bis auf den Dativ identisch mit dem Singular des Femininums ist (die, sie, ihre, manche usw.). Etwas anders, aber vergleichbar bei substantivierten Adjektiven und Partizipien (Alte, Vorsitzende). Das Femininum ist hier dominant, bei anderen Personenbezeichnungen ist das Maskulinum unmarkiert.
Jakobsons Markiertheitstheorie gehört zu den fruchtbarsten Ansätzen des 20. Jahrhunderts überhaupt, wo es um ein Verständnis von grammatischen Kategorien geht. Sie sagt unzweideutig, dass es Gendergerechtigkeit nicht geben kann, soweit sie über Manipulationen am Genussystem erreicht werden soll. Vollkommene Symmetrie gibt es im Kategoriengefüge natürlicher Sprachen nicht, sie hätte theoretisch einen ähnlichen Status wie das labile Gleichgewicht in der Physik. Denkbar ist allenfalls eine Markiertheitsumkehrung mit dem Ziel, das Femininum zur unmarkierten Kategorie zu machen.
Der nächste Schritt in Richtung eines konsequenten Genderns bestand in der Propagierung der Schreibweise BäckerInnen, die dann vielfältig ausgebaut wurde, etwa zu Bäckerinnen, Bäcker/innen, Bäcker_innen und Bäcker*innen. Von vornherein blieb unklar, wie all das ausgesprochen werden konnte. Aus dieser großen Not versucht man eine kleine Tugend zu machen mit dem Hinweis, die Fixierung auf das Geschriebene sei umso richtiger, als die Sprecher dadurch ins Grübeln kämen. Man sollte sich wohl an solche Formen gewöhnen, aber dennoch niemals aufhören, jedesmal wieder überrascht zu sein. Die Formen Bäcker_innen und Bäcker*innen finden ihren Platz in den neueren Thesen über den wahren Charakter des Geschlechts, auch in Gruppen von LGBT (Lesbian, Gay, Bi, Trans), die inzwischen mindestens bei LSBTTIQ angelangt sind.
Der Unterstrich hat nach einer verbreiteten Lesung über sich einen Abgrund von Leere und soll verwendet werden, wenn man gar kein Geschlecht mehr will, der über allem sich erhebende Stern (Asterisk) dagegen soll die ungefähr sechzig Geschlechter überstrahlen, die man heute individuell oder gruppenbasiert in Anspruch nimmt. Die Sprache muss ja mit nur drei Genera auskommen. Alle genannten Formen, das darf man nicht vergessen, gibt es im Deutschen nicht. Sie stellen einen Eingriff in unsere Grammatik dar, in der sie keinen Platz finden. Sie sind, was man Pluralia tantum nennt: substantivische Ausdrücke, die keinen Singular haben. Lässt man wie üblich die Pluralendung weg, ergibt sich die Bäcker*in, vermutlich ein Femininum zur Bezeichnung von Frauen. Und das Maskulinum? Vermutlich der Bäcker*in zur Bezeichnung von Männern. Wollen wir das? Und was wird aus Bäckerhandwerk, Bäckerlehrling usw.? Es ergeben sich Bäcker*innenhandwerk, Bäcker*innenauszubildende*r usw. Wollen wir so etwas wirklich?
Ein Geflüchteter kann einer sein, der sich einem Regenguss entzieht
Für den Grammatiker ist das nur die Spitze des Eisbergs. So wenig wie in der Gentechnik kann man in einer natürlichen Sprache überblicken, was passiert, wenn man irgendwo ins System hineingreift. Man denke nur an die als korrekt propagierte, um sich greifende Ersetzung von abgeleiteten Substantiven durch zu Substantiven konvertierte Partizipien. Dazu eine kleine, aus Zufallsfunden zusammengestellte Liste: Ankommende, Studierende, Fortgeschrittene Studierende, Lehrende, Lkw-Fahrende, Autobahnbenutzende, Helfende, Mitfeiernde, Nichtglaubende, Wahlhelfende, Anrufende, Forschende, Erziehende, Demonstrierende, Streikende, Asylsuchende, Medienschaffende, Naherholungssuchende, Prüfende, zu Prüfende, Geduldete, Getötete, Betroffene.
Solange Fälle dieser Art nicht andere Wörter ersetzen oder Einzelfälle sind, richten sie keinen Schaden an. Wir haben ja seit langem auch Wörter wie Vorsitzende, Abgeordnete, Angestellte. Aber der Unterschied zwischen einem substantivierten Partizip und einer Suffixbildung ist bedeutend und sollte nicht übergangen werden. Partizipien sind Formen, die produktiv von allen Verben gebildet werden können und der Bedeutung des Verbs nahe bleiben. Auch ihre Konversion zu Substantiven ohne formale Veränderung ändert daran nichts. Suffigierungen wie die mit "er" oder "ling" bringen dagegen über das Suffix ein ganz neues Bedeutungselement ins Substantiv. Jedes von ihnen hat spezifische semantische Funktionen.
Man stelle sich die Abschlussklasse einer Schule vor, deren Schüler eine Lehre antreten wollen. Sie sind dann Auszubildende, aber Lehrlinge sind sie noch nicht. Der Unterschied zwischen beiden Substantiven ist einfach und klar. In einem Blog über das Gendern bringt ein Blogger ein ebenso klares Beispiel zu Studierender vs. Student: Ein sterbender Studierender stirbt beim Studieren, ein sterbender Student kann auch im Schlaf oder beim Wandern sterben.
Sollen in Standarddeutsch abgefasste Schriftstücke sofort in den Papierkorb?
Dasselbe gilt für durch Konversion des Partizip II gebildete Substantive. Ein Geflüchteter kann einer sein, der sich einem Regenguss oder einer nervigen Seminarveranstaltung entzieht, ein Flüchtling dagegen flieht vor Krieg, Gewalt oder politischer Verfolgung. Der Bedeutungsunterschied ist in allen besseren Wörterbüchern des Deutschen niedergelegt. Niemand von den elf Millionen Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verlassen haben, hat sich als Geflüchteter bezeichnet, alle waren Flüchtlinge und sind es geblieben. Es gibt überhaupt keinen Grund, das Wort Flüchtling aus dem Deutschen zu vertreiben, sieht man vom Gendern ab. Flüchtling lässt sich nicht gendern, die Form Flüchtlingin ist aus morphologisch-systematischen Gründen ungrammatisch. Deshalb hätte man gern das partizipiale Substantiv Geflüchteter, das man ohne Aufhebens gendern kann. Allerdings zu dem Preis, dass man sich zum Herren oder zur Herrin der Sprache erhebt, einen wichtigen, tief verwurzelten Wortbildungsprozess untergräbt und ein jahrhundertealtes Wort diffamiert.
Im Augenblick galoppiert das Gendern mit hoher Konsequenz auf einige extreme Ausformungen zu, die ihm durchaus schaden könnten. Im Berliner Koalitionsvertrag ist von Berliner*innen, Bürger*innen, Senator*innen, aber nur von jugendlichen Straftätern und Intensivtätern die Rede. Auch hören wir täglich etwas über Gefährder, nicht aber über Gefährder*innen oder Gefährdende. Aus Sicht des Genderns doch wohl eine haarsträubende Diskriminierung. Und auf Vorschlag der SPD-Fraktion in den Bezirksparlamenten von Mitte und Lichtenberg sollen Drucksachen nur noch auf der Tagesordnung erscheinen, wenn sie in gegenderter Sprache abgefasst sind. Das bedeutet nichts anderes, als in Standarddeutsch abgefasste Schriftstücke sofort in den Papierkorb zu werfen. Dem kann rechtlich auf verschiedenen Wegen begegnet werden. Es sollte sich jemand finden, der ein Klagerecht besitzt und den Aufwand nicht scheut. Er würde sich um die deutsche Sprache verdient machen. Gerade weil wir kein Sprachgesetz wollen, sollten sprachpolizeiliche Allüren unterbunden werden.
Der Linguist Peter Eisenberg veröffentlicht in diesen Tagen bei de Gruyter seine "Deutsche Orthografie. Regelwerk und Kommentar".
[Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, Freitag, 3. März 2017]
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„Because we do most things relying only on our own sagacity we become self-interested, turn our backs on reason, and things do not turn out well. As seen by other people this is sordid, weak, narrow and inefficient. When one is not capable of true intelligence, it is good to consult with someone of good sense. An advisor will fullfil the Way when he makes a decision by selfless and frank intelligence because he is not personally involved. This way of doing things will certainly be seen by others as being strongly rooted. It is, for example, like a large tree with many roots. One man's intelligence is like a tree that has been simply stuck in the ground.“
Yamamoto Tsunetomo (William Scott Wilson), Hagakure. The Way of the Samurai, Kodansha, 2002, Page 6
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Jeder Mensch, der etwas verkauft, das es nicht gibt, wird angeklagt und verurteilt. Die Kirche verkauft Gott und den Heiligen Geist seit zwei Jahrtausenden in aller Öffentlichkeit völlig ungestraft.
Thomas Bernhard, Ein Kind, 1982
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Bedingungsloses Grundeinkommen
Hallo Konzernlenker! Hallo Milliardäre! Hallo Joe Kaeser, oh du Konzernchef von Siemens und Topverdiener! Hallo Götz Werner, oh du Drogerie- und Salbenheiliger! Hallo Telekomhöttges! Hallo Elektroauto-Musk-Milliardär! Hallo ihr gönnerhaften und großzügigen Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens! Hallo ihr milden Millionäre! Hallo ihr Checker! Seid gepriesen! Oh höret: Wir freuen uns!
Wir freuen uns auf euer Helikoptergeld! Wir freuen uns auf das bedingungslose Grundeinkommen! Wir machen uns schon mal bereit! Wir legen uns auf unsere Futons! Ist ja nicht mehr lang, bis es kommt! Oh wie wir uns schon freuen! Oh selbst du, du Kaiser von Siemens, sprachst schon davon! Oh ihr! Geld für alle! Einfach so! Möget ihr das bedingungslose Helikoptergeld auf uns herabregnen lassen! Möge es auf uns niederkommen wie flatternde Vögel! Oh, wir werden uns euer Flattergeld greifen, und unsere Wangen werden glänzen! Und wir versprechen euch: Wir machen dann was KREATIVES oder was EHRENAMTLICHES! Und wir lassen euch in Ruhe und gehen euch nicht auf den Sack! Wir gehen zur Volkshochschule und machen Squaredance-Kurse oder wir verteilen ehrenamtlich dünne Suppen an andere Leute! Und ihr dürft weiter euren Streifen durchziehen, wie ihr lustig seid! Oder wir machen sogar Hip-Hop, wie der Salbenmilliardär Werner vom Salbenhaus dm es empfiehlt!
Es ist ja nicht mehr genug Arbeit da für alle! Das verstehen wir! Deshalb BETÄTIGEN wir uns eben IRGENDWIE! Und machen IRGENDWAS! Wir machen was KREATIVES oder was EHRENAMTLICHES! Und ihr macht bitte weiter wie bisher! Es kann ja nicht jeder SOFTWAREINGENIEUR sein, wie du oh Siemenskaiser richtigerweise sagtest! Das verstehen wir! Deshalb gebt uns einfach das grundlose Bedingungsgeld und wir gehen euch, versprochen, nicht auf den Sack! Wir spielen dann für euch Gesellschaft! Wir bilden für euch eine Gesellschaftsattrappe! Damit ihr und eure SOFTWAREINGENIEURE das Gefühl haben könnt, ihr wäret von Menschen umgeben!
Jemand anders macht jetzt ja die Arbeit! Eure Computer und eure Roboter! Das finden wir super, denn dann ist das ganze Zeug präziser und effektiver und wir können auf unseren Futons liegen bleiben und was KREATIVES machen! Und wenn wir die 1000 Euro Helikoptergeld kriegen, dann sind wir von da an auch nicht mehr der Meinung, dass Demokratie etwas zu tun hat mit der ungefähren Gleichheit der Menschen oder mit Augenhöhe! Wir finden es dann o.k.,
dass ihr, oh Konzernlenker, Milliardäre, Finanz-Checker und Softwareingenieure, den Wert der Welt auf eure Konten leitet, während wir Rest der Menschheit als Helikopterleute auf den Futons liegen dürfen, um was KREATIVES oder was EHRENAMTLICHES machen zu können, wenn wir Bock drauf haben! Und wir versprechen euch, wir machen viel
Gymnastik, damit wir euch das Gesundheitssystem nicht belasten, wir haben ja Zeit!
Obwohl, oh Joe Kaeser, wenn wir es recht bedenken, wenn jetzt sogar schon so Leute wie du mit der Befürwortung des geldlosen Runterkommens anfangen, dann müssen wir ehrlich gesagt sagen, dann kriegen wir es aber schon ein wenig mit der Angst zu tun! Wenn nicht nur anthroposophische Salbenspinner davon reden, das können wir ja noch verstehen, nein, wenn selbst du, oh Kaeser, der du mit richtiger MÄNNERWARE handelst, mit Kernspintomografen und Kupplungen, auch grundlos bedingen willst, dann wird uns schon ein wenig bang! Denn manchmal haben wir schon den Eindruck, dass wir in einer Welt leben, in der der Wert eines Menschen vielleicht schon davon abhängt, dass man irgendwie auf ihn ANGEWIESEN ist! Und dass sich so komische Gefühle ergeben, wenn die einen Leute die anderen Leute auf Gnadenbasis existieren lassen, obwohl man diese Leute doch irgendwie gar nicht braucht! Und die deshalb irgendwie auch nerven! Denn mal ehrlich, Joe, wenn es irgendwie ein paar weniger Helikopterleute und Futonlieger gäbe, die man grundlos versorgen müsste, dann würde es ja wohl auch nicht schaden!
Aber egal, wir freuen uns! Komm vorbei, oh Siemenskaiser, zu unserem Volkshochschule-Weihnachtsbasar, wo wir unsere kreativen Sachen verkaufen, und nimm einen Strohengel mit (für 20 Cent, kommt in die Kaffeekasse)!
[Süddeutsche Zeitung, Peter Licht, Fernausgabe Nr.298 vom 24. Dezember 2016, Seite 48]
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