Tumgik
Text
Aufwachen
Es ist fünf Uhr morgens. Die Autos vor dem Fenster des kleinen Zimmers fangen wieder an vorbeizurauschen. Erst ist es ein leises Brummen. Ich zähle: “10-9-8-7-6-5-4-3-2-1″. Jetzt ist der Schall fast an seinem Höhepunkt angelangt. “5-4-3-2-1″. Und weitere 10 Sekunden, bis das Auto in der frühen Dämmerung wieder verstummt. Endlich wider Ruhe. Ich genieße die nächsten Sekunden Stille, bis das ganze Spiel wieder von vorne beginnt und mein Adrenalin wieder nach oben steigt. Es ist schon fast wie eine Hab-Acht-gleich kommt das nächste Auto-Stellung. Die Panik in mir verstärkt alle Geräusche. Sie weckt mich und weicht mir kaum von der Seite. Wie soll ich das länger aushalten? Wo soll ich hin? Die letzten 2 Monate hatte ich bei Freunden auf dem Sofa geschlafen. Mal hier eine Woche, mal dort. Zwischendrin hatte ich Klausuren und es komischerweise geschafft, dass ich nur zwei nachschreiben muss. Bei meiner WG-Suche meldete sich ein Typ, mit dem ich über meine Angstzustände, meine Situation und dem Chaos etwas schreiben konnte. Er sagte etwas davon, dass Körper, Geist und Sexualität eine Einheit wären und schlug mir vor Tantramassagen regelmäßig zu machen. Tantramassagen... Ich wollte das schon immer mal professionell lernen - aber eben zusammen mit einem festen Partner. Ein WG Zimmer würde er mir in seiner Eigentumshaushälfte für 80 Euro im Monat zur Verfügung stellen. Geborgenheit, Nähe, Zuwendung, ein günstiges WG Zimmer und dadurch eine abflachende Panik gegen Sex - wie ich es stark annehme? Ich wäre mittlerweile bereit alles gegen meine Panik zu tun. Aber will ich mich dafür prostituieren? Und was ist mit Chris? Hab ich eine andere Wahl? Mein Körper macht nicht mehr mit: Ich muss dringend zur Ruhe kommen, einen Ort haben, wo ich mich geborgen fühle und wenigstens schlafen kann. Ich wälze mich auf der unbequemen alten Matratze hin und her. Die Ohrenstöpsel neben mir in meiner Reisetasche verhelfen mir wenigstens noch eine Stunde akustische Ruhe, bis ich wieder los muss: Eigentlich steht eine 40 Stunden Woche auf dem Programm. Aber mein Körper spielt nicht mehr mit. Ich kann einfach nicht mehr. Ich renne von Arzt zu Arzt und keiner findet irgendetwas. Lohnt es sich überhaupt das nächste Symptom auch noch abzuklären? ich kann nicht mehr. Es werden nur noch mehr Medikamente, die ich mit meinem empfindlichen Magen-Darm gar nicht alle schlucken kann. Alle sind überfragt - und ich bin es auch. Alles in mir wehrt sich gegen dieses verdammte kleine Zimmer. Es ist die falsche Richtung! Ich gehöre in den süd-osten der Stadt. Nicht in ein Kaff ganz im Norden, das über eine Stunde Fahrt mit den Öffentlichen von meinem zu Hause entfernt liegt. Aber was ist überhaupt noch mein zu Hause? War nicht alles ein wenig übertrieben, alles viel zu schnell und unüberlegt? 
Seit 2015 bin ich von zu Hause ausgezogen. 500 Kilometer von meiner kleinen Heimatstadt entfernt - hinaus in die große Welt, an einen Ort, etwas Abgelegen von einer Großstadt - hinein in den Anfang meiner Geschichte. Ich freute mich auf die Zeit, hatte nie Probleme gehabt schnell neuen Anschluss zu finden. Erst zwei Jahre zuvor war ich mit 17 für ein halbes Jahr alleine nach Amerika geflogen um dort in einer Gastfamilie zu leben und auf eine HighSchool zu gehen. Als ich zurück nach Deutschland ging, kam die Panik das erste Mal zu Besuch. Und hier stand für mich fest: Nach dem Abi würde ich kein verschultes Studium wollen und möglichst schnell von meinen Eltern ausziehen. So feierte ich nach meinem Abi noch mein Geburtstag und zog eine Woche später dann mit einer Blablacar Fahrt von zu Hause aus: Erst auf ein umzäuntes Betriebsgelände mit Campus, wo ich in einer Kinderkrippe arbeitete. Die Arbeitsbedingungen glichen eher einer Sklavenarbeit: 40 Stunden + Überstunden, Seminare an offiziellen Feiertagen gegen “Freizeitausgleich”, den es nicht gab, da ich mir keinen Urlaub nehmen durfte. Es wurde nicht desinfiziert, auch beim Wickeln oft nicht. Der Großteil meines Stundenlohns von 2,80 floss also wieder in Medikamente um ja weitermachen zu können. Ich brauchte das FSJ um zu meinem Studium zugelassen zu werden. Jeden Tag ging ich in der Mittagspause auf mein Zimmer in der verlassenen Massenunterkunft, wo man im Keller zwischen den Spinneweben super eine Leiche hätte verscharren können. Ich weinte. Hört “Privileg zu sein”. Es gab mir Kraft um nach Punkt 20 Minuten wieder in der Arbeit zu sein. Überzog ich die Mittagspause mal um fünf Minuten bedeutete dies Anschiss vor versammelter Front. Ich weinte - vor den anderen. Doch keiner traute sich etwas zu sagen, oder zu mir zu gehen und ich traute mich nicht für mich selbst und meine Rechte einzustehen. Eigentlich hätte ich in der Mittagspause dringend zu der Stelle gehen müssen, die meine Zugangskarte zu dem Gelände hätte verlängern können. Sie hatte nur Mittags offen. Aber für den Weg hätte ich 15 Minuten meine Pause überziehen müssen. So hieß es immer für mich eine halbe Stunde am Zaun entlang zu laufen, durch die Hauptwache reingehen, um auf der anderen Seite des Zauns den Weg zurückzulaufen, wenn ich das Gelände alleine verließ. Reine Schikane! Nach der Arbeit fiel ich um. Ich war hundmüde. Wie sollte ich mir dort so ein soziales Umfeld aufbauen? So ging ich nach Feierabend immer auf das Zimmer zu meinem Freund. Für ihn gehörte es einfach mit zu der Arbeit dazu, wenn ich die einzige bin, die vollgeschissene Hosen auswaschen und die Kinder abduschen muss, obwohl es Kinder aus den fremden Gruppen betrifft. “Die sind doch alle total nett” - ja das waren sie auf den ersten Blick auch. Meine einzigen Lichtblicke waren die Heimfahrten alle paar Monate. Ich freute mich wie ein kleines Kind, wenn wir unsere Heimatstadt erreichten und mir kullerten jedes Mal die Tränen, wenn wir sie wieder Richtung Großstadt verließen. Ich musste mich für fast jede Heimfahrt krank schreiben lassen. Ich hasse es sowas tun zu müssen, aber der ICE war oft schon zu teuer und mein Freund wollte nicht nach meinem Feierabend in den Berufsverkehr kommen und so erst spät Abends in der Heimat ankommen- und ein Wochenende auf einem verlassenen Gelände alleine wäre keine Alternative gewesen. Mein Freund war selbst überfordert. So ging die Zeit vorbei. Es kam Weihnachten, ich wurde spontan am Blinddarm operiert und kam mal wieder nicht auf die Beine. Nach einem Monat fing ich wieder an zu arbeiten. Jedes Heben der Kinder schmerzte höllisch. Atemnot kam hinzu. Keiner konnte verstehen, was mit mir los war. Am Wochenende lag ich oft morgens im Bett und spielte sinnlose Spiele, so lange mein Freund noch schlief. In einer Push Nachricht sah ich, wie er sich über mich bei einer alten Freundin von ihm über mich beschwerte. Es verletzte mich. Ich weiß, es war nicht korrekt, aber ich laß mir den Verlauf durch. Das war der letzte Zeitpunkt, an dem ich sein Handy in die Hand nehmen durfte. Er versuchte mir immer gut zuzureden, war jeden Abend für mich da, hielt mich im Arm, wenn ich weinte, wir gingen zusammen einkaufen und unternahmen Sachen zusammen. Aber nichts half: Mir war jeden Tag übel. Ich hatte Angst mich übergeben zu müssen, fing an immer eine Plastiktüte mit mir herum zu tragen. Morgens war es am schlimmsten. Was war das bloß? Oder war es psychisch, weil ich ein paar Monate vor meinem Umzug an meinem Geburtstag das Erbrochene eines Freundes aufwischen musste und ich ewig viele Anläufe gebraucht hatte um den Geruch aus dem Badezimmer zu bekommen und das damals zu eklig fand? Egal woher es kam - ich kränkelte in alle möglichen Richtungen weiter, mein Bauch rebellierte, meine Ängste ganz dringend aufs Klo zu müssen und es nicht zu schaffen wuchsen und ich arbeitete trotzdem. Soziale Kontakte waren relativ mau und wenn ich mich mit den Kommilitonen meines Freundes alleine treffen wollte, wurde er eifersüchtig. Kontakt über Sport fiel krankheitsbedingt aus. Wie auch, wenn mir ständig übel war? Wenigstens die andere BFDlerin war dar - auch wenn ich mit ihr am Tag nur zwei drei Sätze wechselte, weil sie in einer anderen Gruppe war. In ihrer Gruppe wurde wenigstens pädagogisch gearbeitet. In meiner Gruppe gab es nur “Freies Spielen”. Ich musste ein halbes Jahr durchstehen um das FSJ anerkannt zu bekommen. Oder sollte ich wirklich zurück zu meinen Eltern ziehen, wo ich vorerst keine Beschäftigung hätte um dann ein paar Monate später doch wieder zurück zu meinem Freund zu ziehen? Es wäre Scheitern auf vollen Bahnen gewesen. Nein, ich musste hier durch. Nach einem halben Jahr deutete ich an, dass ich bald kündigen würde. “Aber dir ist schon bewusst, dass ich dafür sorgen werde, dass du am selben Tag noch das Zimmer auf dem Gelände verlierst, wenn du hier kündigst?”, war die Reaktion der Krippenleitung. Im Nachhinein erfuhr ich, dass sie darauf gar keinen Einfluss hatte. Mein Freund und ich zogen also nach zwei Jahren Fernbeziehung und einem halben Jahr in der Hölle zusammen. Den ersten Tage schliefen wir auf einer Matratze, mit nur einer Lampe in der Wohnung. Ich arbeitete einen Monat weiterhin in der Krippe. Aber es ging bergauf. 
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