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Buchrezensionen für Kinder- und Jugendbuchliteratur
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literaturzone · 4 years ago
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Die erste Romanvorstellung ist „Dear Martin“, der Debüt-Roman der Autorin Nic Stone (Bild von Nic Stone, evtl. Greenscreen), in Deutschland 2018 im Rowohlt Verlag erschienen. Der Roman handelt von Justyce, einem 17-jährigen Schüler aus Atlanta. Er besucht eine renommierte High-School, ist einer der besten Schüler seines Jahrgangs, nimmt erfolgreich am Debattierclub teil und hat Aussichten auf einen Platz in Yale. Was man aber auch über ihn wissen muss, ist, dass er schwarz ist. Er ist nicht wie die meisten seiner fast ausschließlich weißen Mitschüler*innen in einem wohlhabenden Haushalt aufgewachsen, sondern in einem Viertel von Atlanta, das von Kriminalität geprägt ist. Wie sehr er sich aber von seinen Mitschüler*innen unterscheidet und wie anders er eigentlich aufgrund seiner Hautfarbe wahrgenommen wird, wird Justyce erst wirklich klar, als er ohne ersichtlichen Grund von der Polizei festgenommen wird. Er beginnt ein Projekt, in dem er Briefe an sein Vorbild Martin Luther King schreibt und dadurch versucht, mehr wie Martin zu sein. Im Laufe dieses Projekts fällt ihm immer mehr auf, wie rassistisch und vorurteilsbelastet die Welt, in der er lebt, ist. In den Nachrichten immer wieder Meldungen von schwarzen Jugendlichen, die von der Polizei verhaftet oder erschossen werden. Bemerkungen von weißen Mitschüler*innen, die scheinbar nur von ihm als respektlos aufgefasst werden. Sein bester Freund Manny, einer der weiteren wenigen schwarzen Schüler an Justyces Schule, ist nämlich Teil einer Clique um den Mitschüler Jared, der sich immer wieder abfällig über die „Bevorzugung“ von BIPOC äußert oder aus dessen Sicht die Reaktionen von Justyce auf seine Aussagen übertrieben sind. Die Respektlosigkeiten von Jared und seinen Freunden gipfelt darin, dass sich […] an Halloween als Mitglied des Ku-Klux-Klans verkleidet. Während Justyce sich hier noch zurückhalten kann, werden die Jungs von einer Gruppe aus der Gegend, in der er aufgewachsen ist, bedroht. Bei einer anderen Party kommt Justyce aber nicht mehr mit rassistischen Aussagen von Mannys Freunden klar und wird körperlich übergriffig. Neben all diesem Stress verbringt er immer mehr Zeit mit […], seiner langjährigen Debattierpartnerin und merkt, dass er sich in sie verliebt. Aber auch in dem Bereich fällt es Justyce schwer, die Gesellschaft und seine eigenen Gefühle in Einklang zu bringen. Denn […] ist weiß und seine Mutter hält nichts davon, dass Justyce eine weiße Freundin mit nach Hause bringt. Juctyces Probleme erreichen ihren Höhepunkt, als er und Manny bei einer Autofahrt wegen einer Auseinandersetzung mit einem weißen Polizisten (nicht im Dienst!) aufgrund von zu lauter Musik angeschossen werden und Manny an den Verletzungen stirbt. Von Trauer überwältigt weiß Justyce nicht mehr, wofür er sein „Dear-Martin“-Projekt überhaupt gestartet hat und warum er sich bemüht, eine Veränderung zu bewirken.
Bei der Entscheidung für ein Buch wollte ich darauf achten, dass das Thema relevant ist. Und was ist gerade aktueller als Rassismus? Nicht nur in den USA, sondern überall. Auch wenn das Buch vor 2020, dem Jahr der Black-Lives-Matter-Bewegung, entstanden ist, hat man das Gefühl, es wäre direkt von den Ereignissen um George Floyds Tod inspiriert. Die Tatsache, dass das nicht so ist, zeigt, wie aktuell das Thema Rassismus immer war und ist.
Der Roman „Dear Martin“ erzählt die Erlebnisse eines schwarzen Jugendlichen in einer Zeit, in der Rassismus hochaktuell ist. Das Besondere daran ist, dass wir als Lesende unterschiedliche Perspektiven auf die Handlung wahrnehmen. Im Großteil des Romans wird Justyce durch eine Erzählinstanz begleitet, die seine Gefühle und Gedanken wiedergibt, aber eine neutrale Sicht auf die Dinge hat. Teilweise verschwindet sie sogar komplett und es wird zum Beispiel das Unterrichtsgeschehen rein dialogisch, dargestellt. Mit diesen Kapiteln wechseln sich im ersten Teil die an Martin Luther King gerichteten Tagebucheinträge von Justyce ab. Hier erhalten wir einen direkten Einblick und eine Bewertung von Justyce in die Geschehnisse. Schon in den „neutral“ erzählten Passagen bekommt man zwar mit, was Justyce denkt und fühlt, aber kann noch eine gewisse Distanz halten, aber in seinen Briefen fühlt man sich ihm nochmal mehr verbunden, da man hier seine ungefilterten Gefühle lesen kann. Das finde ich besonders gelungen, da ich als nicht von Rassismus betroffene Person den Alltag eines schwarzen Jugendlichen in einer von Weißen dominierten Welt hautnah miterleben konnte und erkennen konnte, wie sehr Justyce sich in bestimmten Settings zurückhalten muss, aber in seinen privaten Aufzeichnungen Dinge denken und aussprechen darf, die er sonst nicht denken und aussprechen würde. Dieser Wechsel zwischen Perspektiven wird im zweiten Teil des Romans – nach Mannys Tod – gebrochen, da Justyce keine Briefe an „Martin“ mehr schreibt. Allerdings werden zwischen die von der Erzählinstanz erzählten Kapitel immer wieder Nachrichtenmeldungen geschoben. Dadurch wird die Verbindung der Lesenden zu Justyce distanzierter als im ersten Teil. Justyce, im ersten Teil des Romans noch motiviert, Veränderung hervorzurufen, wirkt jetzt resigniert. Auch hier ist es der Autorin nach meiner Meinung sehr gelungen, die Resignation einer großen diskriminierten Gruppe darzustellen und die Lesenden spüren zu lassen. All diese unterschiedlichen Perspektiven auf beschriebene Situationen zeigen dennoch deutlich, wie präsent (Alltags-)Rassismus in den USA ist und haben beim Lesen immer wieder ein ungutes Gefühl in mir hervorgerufen, sodass ich manchmal kurz innehalten und das Gelesene auf mich wirken lassen musste.
In dieses schwere Thema Nic Stone noch die verschiedenen alltäglichen Probleme eines „normalen“ Jugendlichen eingeflochten. Die erste große Liebe, Freundschaft und Familie. SJ, das Mädchen, in das sich Justyce im Laufe der Geschichte verliebt, ist weiß, was für Justyce kein Problem wäre, wenn seine Mutter nicht wäre. Mit Manny, seinem besten Freund gerät er aneinander, weil Manny um seine „Integration“ in den weißen Freundeskreis besorgt ist, wenn er sich gegen diskriminierende Aussagen wehrt. Justyces Mutter scheint in einer anderen Welt zu leben, in der es für Schwarze nicht möglich ist, sich in einer weißen Welt durchzusetzen, weshalb sich Justyce von ihr zurückgehalten fühlt. So kann man sich auch als Teenager ohne Rassismus-Erfahrungen gut in den Protagonisten hineinversetzen.
Zusammenfassend kann ich für „Dear Martin“ eine große Empfehlung aussprechen, vor allem wenn man sich mit Rassismus aus der Perspektive von Betroffenen auseinandersetzen möchte. Daneben, dass das Schicksal von Justyce mich beim Lesen von Anfang an mitgerissen hat, ist er einfach ein sehr sympathischer Protagonist, dem man es gönnt, erfolgreich im Leben zu sein. Das war mit einer der Gründe, warum ich das Buch an nur einem Tag verschlungen habe. Aus Sicht einer Lehramtsstudentin kann ich mir den Roman außerdem gut als Schullektüre vorstellen. Vor allem in Zeiten von „Black Lives Matter“ oder auch „Fridays For Future“, in denen besonders Schüler*innen sehr politisch engagiert sind, sollte eine Lektüre wie „Dear Martin“ nicht in der Schule fehlen, um zum Nachdenken anzuregen. Ausgehend von Rassismus in den USA könnte dann im Unterricht auf Rassismus in Deutschland, vor allem in Zusammenhang mit Anschlägen wie Hanau, aber auch Polizeigewalt, gelenkt werden und eine Sensibilisierung stattfinden.
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