#Kur Reha Pflege
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Tag 819 / Vom Selbstverständnis, wer ich bin
“Haben Sie eine Identität als Saxophonist?” fragt der Kursleiter den mitrehabilitierenden Referenten. Und dann frage ich mich: Welche Identität habe ich? Als was nehme ich mich wahr? Wie ist mein Selbstverständnis? Habe ich eine Identität als… … Bloggerin? Ja. … Künstlerin? Vielleicht. … Schreibende, Fotografierende, Schaffende…
Und um 10.41 Uhr wurde mir da im Kurs sitzend etwas ganz Entscheidendes über mich bewusst.
Der Blog ist mein Lebenswerk.
- lebenserhaltend - Leben beschreibend und bebildernd - und auch in dem Sinne wie manche Künstler im hohen Alter ausgezeichnet werden
Ich zeichne mich selbst aus. Um 10.41 Uhr.
Weil mir klar wurde, dass nichts, was ich beruflich je machen werde (Sachbearbeiterin, Berufsschullehrerin, Datenerfasserin…) so groß und bedeutend sein wird wie mein Onlineabstinenztagebuch.
Wer bin ich denn wirklich? Was bin ich für ein Mensch?
Ich steige vom Fahrrad ab und mache Fotos von den Pollen im Gras. Das ist mir wichtig. Vielleicht kann ich das “Gespür für Ästhetik”, “besonderen Blick” nennen? Das Gras sieht aus wie in Watte gehüllt, wie von Schnee ummantelt, wie in Nebel getaucht, wie mit Schaum überzogen. Und wenn man näher drangeht, sieht man das Kristallene, das Fusselige.
Ich bin ein Mensch, der lächeln muss, wenn ich vorbeifahrend ein Baby auf dem Arm eines anderen aufgeregt, voller Freude strampeln sehe. Ich MUSS lächeln. Das passiert unweigerlich. Das ist ein Reflex. Ich bin ein Mensch, der Zigarettenkippen nicht mehr in Pfützen schmeißen mag, seit ich gesehen habe, wie das Amselpärchen in einer badete.
Ich bin berührbar, sensibel, “hochsensibel” nannte es Frau Blubber vor ein paar Tagen in unserem dritten Einzelgespräch.
Manchmal vergesse ich, was ich an anderen Tagen an bahnbrechenden Erkenntnissen über mich hatte. Die Reizempfindlichkeit ausschließlich als Alkoholkonsumfolge, Schädigung der Reizverarbeitung und Filterfunktion zu sehen, trifft es nicht ganz.
Der Alkohol hat mich aber sehr daran gehindert, zu mir zu finden, herauszufinden, wer ich bin, was ich mag, kann, was mich ausmacht. Der Alkohol hat mich weggeführt von mir, hat mich als funktionierende Agatha eine Ausbildung, ein Studium und einige wenige Festanstellungen durchziehen lassen. Und wenn ich meinen beruflichen Werdegang ansehe, so wie der heutige Referent sich und seinen eben vorgestellt hat, dann sehe ich Arbeitsbereiche, mit denen ich heute nichts mehr zu tun haben will. Mit grundlegenden Aspekten der Tätigkeiten und dem Drumherum wider eigenen Erwartens schon. Denn es waren Arbeitsbereiche, in denen in gewissem Maße Ästhetik und Formulierungsfähigkeit/Sprach-Bild-“Begabung” gefordert waren, Arbeitsbereiche, in denen es nie monoton zuging, in denen es ein internationales Umfeld, eine multikulturelle Klientel gab. Ich bin überzeugt davon, dass ich mir nur so nahkomme, mein Wesen kennenlernen kann, weil ich trocken bin. Und jedes “wieder Trinken” würde diesen Entwicklungsprozess stören. (Abgesehen davon, dass ich sterbe.) Dr. Boombastic sagte Dienstag sinngemäß, dass, wenn Rückfall, dann von vorne, keine Katastrophe… Und ich denke: Sehr wohl wäre es eine Katastrophe für diesen Weg zum eigenen Selbst! Wie eine Schere, die all die vielen, feinen Verbindungsfäden zwischen Körper, Geist und Seele, all die Fäden, die den Ichwerdungsteppich mühsam, Tag für Tag weben, zerschneidet. Und klar, dann kann man wieder neu anfangen, Garn einfädeln… Doch ich kann nicht garantieren, dass ich all das noch mal auf mich nehme, auch wenn nur Trockenheit zum Seelenheil führt.
Ich könnte mir vorstellen, dass die ersten Schlucke schon so viel in mir zerstören, dass ich Gefallen an meinen alten trinkverherrlichenden Parolen, am Elend, am Stumpfsaufen, an der dann ggf. engmaschigeren Betreuung finde.
Seit ich für mich geklärt habe, dass ich eine Identität als Bloggerin, als künstlerisch Tätige habe, denke ich, dass ich das hier in der beruflichen Reha nicht verschweigen kann. Wenn die Angestellten der Einrichtung und die anderen Teilnehmer mir helfen sollen, mein neues Arbeitsfeld, von dem ich mich selbst finanzieren kann, zu finden, dann muss ich ehrlich sein und sagen, dass ich seit zwei Jahren, zwei Monaten, drei Wochen und sechs Tagen einen Blog führe und pflege. Und dass ich nicht sagen kann wie der heißt, weil ich da schreibe, wie ich mir meinen ersten Dildo gekauft habe, wovon ich träume, was mich bedrückt, wie das ist mit meinen Diagnosen in dieser Welt.
Aber wenn es darum geht - Was bin ich für ein Mensch? Was liegt mir? Womit beschäftige ich mich gerne? Was erfüllt mich? - dann muss ich anführen, dass es Schreiben, Fotografieren, manchmal Malen… ist. Ich hatte “nicht nur” eine berufliche Auszeit wegen Krankheit und der damit verbundenen Genesungs- bzw. Rehabilitationsphase. Ich war in einem schlechteren Gesundheitszustand als heute und habe parallel, neben Klinikaufenthalten, Therapie, Nachsorge, DBT-Gruppe, intensiven Selbsthilfegruppenbesuchen einen Blog geführt und gepflegt. Und ich habe auch nicht vor, den demnächst einzustellen.
Der Blog ist mein Lebenswerk.
Vielleicht kann ich in zehn Jahren mit drei Kindern und Teilzeitberufstätigkeit nicht mehr so viel schreiben. Aber heute ist nicht in zehn Jahren. Ich hing jetzt Tage, vielleicht Wochen im Minderwert. Und intensiv für Dr. Boombastic zu schwärmen, hat das sogar noch verstärkt. “So ein gutaussehender Mann wird auf ganz andere Frauen stehen - schlankere, schönere, gepflegtere, perfektere…” “Ein Psychiater wird sich nie mit einer labilen Mehrfachdiagnosenpatientin einlassen.” “Ich habe dem gar nichts zu bieten: Wohnung im chaotischen, nicht besonders sauberen Zustand, ich kann kaum ein leckeres Gericht kochen, ich koste mit meiner Bedürftigkeit nur Kraft - und Geld wahrscheinlich auch.” “Ich bin vermutlich eh zu alt, aber innerlich viel zu unreif für den.”
Ich hab mich so klein und unattraktiv geredet, bis… weiß ich auch nicht mehr genau, bis wann. Bis mir jemand schrieb, dass er den Tag 801-Blogeintrag gut fand? Bis ich etwas bloggte, das mir gefiel? Bis ich im Meeting hörte, dass jemand anderes zu einem Anonymen Alkoholiker gesagt haben soll, ihn hätte seit Jahren kein Mensch so beeindruckt wie dieser Anonyme Alkoholiker, weil und wie er das angeht, leistet, macht mit dem konsequenten, abstinenten Leben.
“Meine Schwäche gibt mir Kraft.” habe ich gestern erst in einer Notiz von mir aus dem letzten Jahr gelesen. Und das ist ja auch so. “When you meet a sober alcoholic, You meet a hero… No better people are made than this.” (Friedrich von Bodelschwingh) (Tag 381)
Entweder Dr. Boombastic steht auf tiefgründige, künstlerisch begabte, sensible, fragile, beachtliche, schonungslos ehrliche… Frauen wie mich, oder eben nicht. Dann wird mich ein anderer wertzuschätzen wissen. “In NRW wärste längst vom Markt.” sagte meine Leberzirrhose-Mitpatientin, als wir vor Wochen mal telefonierten. Ich BIN eine gute Partie. Ich bin “ein guter Mensch. Und unter den Guten ein besonders Guter.” (Tag 336) Und vielleicht war das heute der beste Tag meiner beruflichen Reha, weil ich mir (wieder) näher gekommen bin, weil ich gemerkt habe, wie viel in mir angestoßen wird, dadurch, dass ich genau da bin, wo die in einer offeneren, tieferen, persönlicheren Art auf die Menschen gucken, denen sie zurück ins Berufsleben helfen. Ich habe endlich verstanden, warum es wichtig ist, zu betrachten, was mir in meiner Freizeit Freude bereitet.
Von meinem Blog habe ich bisher in keiner Reha erzählt, nicht in der Nachsorge und ich wollte das auch hier “privat” lassen. Aber dass ich dieses Langzeitprojekt auch in schweren Krankheits- und Genesungsphasen weitergeführt habe, sagt ja auch (wie die Abstinenz selbst) viel über mich aus. Durchhaltevermögen, Zielstrebigkeit, Entschlossenheit, Beobachtungsgabe, Urteilsvermögen, Reflexion, Kreativität, Weltoffenheit. Andere sind vielleicht sportliche Menschen oder Gemüse anbauende oder kirchlich engagierte Menschen. Ich bin eben ein schreibender, bloggender, fotografierender, dokumentierender Mensch. Ich bin ein Mensch, der sich hinsetzt auf eine Bank im Neubauviertel, um den Ort, der seit Tag 686 mit Traurigkeit und Verzweiflung verbunden war, für mich umzuschreiben, umzudeuten, damit ich ab jetzt beim Vorbeifahren denken kann: Hier habe ich für mich wichtige Erkenntnisse zu meinem Selbstverständnis und meinem Lebenswerk aufgeschrieben.
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