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#reisererfahrung
nonotravel-blog · 7 years
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Fliegende Rücksäcke und schmachtende Blicke für Gingu
1. Dezember, Von Cabo Polonio nach Punta del Diablo 
An der Strasse stehend, Daumen raus und die Rucksäcke neben uns. Die Sonne scheint unerbittlich auf uns herab und wir ziehen uns unter Nadelbäume und freundlichen Schatten zurück. Mit unseren kleinen Musikboxen unterstreichen wir den Moment, Jonny Cash besingt unser Hitchhiking Dasein. Die ersten Autos fahren vorbei, nichts da, kein Halten. Egal, wir lassen uns nicht unterkriegen, tanzen auf der Strasse, singen zu „Fly like a bird“, fühlen uns unbesiegbar und siehe da, der erste Truck hält an. Vater und Sohn, etwa 60 und 30 alt nehmen uns ein Stück mit in die Richtung, die wir geplant haben. Sie haben beide dieselben Augen, stammen aus einem Dorf nicht weit von Cabo Polonio und sind auf dem Weg nach Valizas, einem kleinen Dorf nebenan. Der Vater, Juan besitzt einen Bio Garten, pflanzt Zucchetti, Rucola und Radieschen, der Sohn, Frederico führt ein Hostel. Ein Dorf weiter sind sie schon am Ziel und nehmen uns noch mit dem Auto mit auf eine Rundfahrt durch den Ort. Unterwegs wird frischer Fisch, Fleisch und Brot abgeholt. Sie erzählen uns vom Ort, vom Land, den Palmen und dem Hippiedasein der Leute. Hauptsächlich die schönen Palmen werden immer wieder erwähnt und von uns immer wieder bestaunt. Wir erfahren, das Capo Polonio Hippiechic sei und fragen, ob noch mehr Hippiesein überhaupt möglich sei. Sie müssen lachen und meinen ja. Frederico erzählt, dass er ein Jahr in der französischen Schweiz gearbeitet hat. Viel gesehen hat er aber nicht in dieser Zeit, da er immer zu müde war am Abend, um etwas zu unternehmen. Er hat ein Gesicht, das immer zu lachen scheint und freundliche Lachfältchen um die Augen herum. Juan hat zwei Jahre in Miami gewohnt, irgendwo bei den Latinos, da wo man kein Englisch brauche. Eine Stadtrundfahrt später fahren sie uns wieder zurück auf die Hauptstrasse, wir hieven unsere Rucksäcke aus der Ladefläche und verabschieden uns mit einem muchas gracias und Küsschen auf die Wange. Weiter gehts, Rucksäcke am Strassenrand, dieses Mal ohne Schatten. Es dauert nicht lange und ein älterer Herr hält mit seinem Pick up und fragt uns wo wir hin müssen. Er geht nicht ganz bis zu unserem Ziel aber in die richtige Richtung, die Rucksäcke werden auf die nächste Ladefläche geworfen und wir schwingen uns in die nächste Mitfahrgelegenheit. Ich frage den Mann, woher er kommt und er gibt eine knappe Antwort, fragt nicht zurück, woher wir seien und wir merken, dass er nicht an einem Gespräch interessiert ist. Eine stumme Fahrt. Für uns auch gut. Ich geniesse die Gesprächspause, die Ruhe, das Dahinziehen der Landschaft. Es ist unglaublich, wie sehr ich mich hier im Unbekannten wohl fühle und wie wenig mir das Bekannte fehlt, umso mehr ich mich von allem entferne. Die Landschaft gefällt mir, die Nadelbäume, die Weite und die endlosen grünen Felder mit gelben Blüten drauf. Von Juan weiss ich nun, dass das Grundwasser hier nur zwei Meter tief unter der Erde vor sich hin fliesst und mir ist nun klar, wieso hier in der ewigen Sonne alles trotzdem so grün und voller Leben sein kann. Schafe, Pferde und Kühe tummeln sich auf dem Gras um uns herum, wir fahren an Bergen vorbei, alles hat Platz hier und nichts scheint zu klein. Eine halbe Autostunde vor unserem Ziel lässt uns der stumme Herr aus seinem Auto, wir bedanken uns und er fährt still weiter. Auf seine Art sehr sympathisch. Wir warten wieder. Kurze Zeit später hält ein Auto hinter uns und lässt drei Jungs, eine Gitarre und die dazugehörenden Rucksäcke raus. Andere Autostöppler. Sie kommen zu uns, sagen hallo und geben uns den Fortritt auf der Strasse. Wer zuerst kommt, fährt zuerst. Gentlemen. Sie scheinen noch sehr jung, vielleicht achtzehn Jahre alt. Rastas, leicht abgefuckt und so als wären sie mit allen Wassern gewaschen. Sie erinnern an die Strassenkatzen aus Aristocats, aber sehr sympathisch und hoch anständig und ich hole unsere Kamera, um sie zu fotografieren. Sie freuen sich, erzählen, dass zwei von ihnen aus Chile seien und der Dritte aus Argentinien. Vor ein paar Tagen haben sie sich in Montevideo kennen gelernt und sind nun zusammen unterwegs zu einem Zirkus in Santa Teresa. Sie machen Musik, spielen Gitarre und singen dazu, alles leicht schräg aber doch irgendwie mitreissend und möchten damit sowie mit einigen Jonglierfähigkeiten beim Zirkus teilnehmen. Süsse Jungs, jung und verwegen, so als wären sie sich kein anderes Leben gewöhnt, als das ewige Vagabundendasein. Zukünftige Herzensbrecher. Ich stelle mir den Zirkus vor, muss irgendwie an eine Freakshow denken und an geheime Magier aus aller Welt, die sich da treffen werden. Sogar Wehrwölfe und Vampire würde ich da erwarten, wo diese Jungs hinwollen. Sie freuen sich über die Fotos, wir werden Facebook Freunde da im Nirgendwo in Uruguay und ich verspreche ihnen die Bilder zu schicken.
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Wieder haben wir Glück oder sehen einfach sympathisch aus und der nächste Autofahrer haltet, noch ein Truck. Zum dritten Mal heute werden unsere Rucksäcke durch die Luft geworfen, dieses Mal in Eile, da das Auto nirgends richtig halten kann und mitten auf der Strasse stehen bleiben muss. Ich sitze vorne, fange an zu plaudern mit dem etwa 70 Jährigen. Er ist umwerfend süss mit seinen wenigen feinen Haaren, die in alle Richtungen gehen nur nicht nach unten, erzählt mir eine halbe Stunde lang über die Geschichte des Landes. Über Leute, die in den Bergen wohnen, über eine schwarze Lagune, erzählt, dass der Name der hübschen gelben Blumen ‚Margeritas de las dunas’ ist und er Uruguay möge, da es hier Menschen aus aller Welt gebe. Deutsche, Italiener, Spanier und Franzosen. Zwischendurch mach ich mir etwas Sorgen, da seine Gesprächigkeit dazu führt, dass er sich nicht mehr so gut auf die Strasse konzentrieren kann und das Auto ab und zu ins Wanken kommt. Aber der alte Herr scheint die Strecke in und auswendig zu kennen und wir düsen weiter wacker voran. Seine Mutter war aus Frankreich, er spreche aber kein Französisch. Er war schon einmal in Brasilien und Argentinien, weiter noch nicht. Pferde seien zum Arbeiten hier und er verstehe nicht, warum man so viele Tiere immer als Haustiere haben wolle. Alles auf Spanisch und schnell wie sein Fahrstil, aber ich komme ganz gut mit und halte mich gut beim antworten und nachfragen. Geschichtsstunde, Spanischunterricht, eine gratis Fahrt und eine rührende Spontanbekanntschaft, das hat sich gelohnt. Er lässt uns in Punta del Diablo raus, erklärt uns noch wo was ist und steigt dann aus dem Auto, um uns richtig und mit einem Kuss auf die Wange zu verabschieden.
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Wir kommen an in dem jetzt noch kleinen verschlafenen Surferdorf. Küste, Sonne, Wellen und Hostels lassen hier im Sommer die Puppen tanzen. Ein Traumziel für junge Backpackers mit Surfboard, jetzt in der Nebensaison aber wunderbar ruhig und leer. Wir finden schnell ein Hostel und quartieren uns ein und kurze Zeit später treffen wie wieder auf die Strassenkinder mit Zirkusflair. Sie verlassen gerade mit Rucksäcken und Gitarre unser Hostel. „Hier gibt es keine Arbeit für uns, wir versuchen es wo anders“, meint der Gruppenanführer mit Rastas zu mir. „Vielleicht sollten wir auch am Strand übernachten, die Aussicht da wäre fantastisch“, sagt der Argentinier gedankenverloren zu sich selbst und schaut dabei mit der Hand über den Augen Richtung Strand. Irgendwie umhauend und bewundernswert diese drei und Noemi sagt zu mir: „Wenn ich jemals ein Kind haben werde, das mit 18 meint, es wolle durch Südamerika trampen per Autostopp, werde ich ihm eins schmieren.“ Alles Gute ihre drei Musketiere.
Am Abend sitzen wir mit einer Flasche Wein in den Garten, ein Verschlag aus Containern, ein paar Tischen und einem riesigen Grill. Ein paar Jungs machen ein Feuer. Ein paar Minuten später probieren sie unseren Wein, wir bestaunen ihre lausigen Feuerkünste und alle zusammen erzählen wir lachend über dies und das. Einer der drei hat ein Gesicht wie ein nordisches Supermodel und wir fragen ihn, ob wir ihn fotografieren dürfen. „Sure“, meint er und wir machen Portraits im Abendlicht von ihm. Blonde Locken, Wimpern zum dahinschmelzen und ein schelmisches Lachen lassen unsere Herzen höher schlagen. Süsse zwanzig ist der Argentinier, heisst Gingu und arbeitet hier für die nächsten paar Monate zusammen mit seinem gleichaltrigen Kolleg, der ebenfalls zfotografiert. Die beiden wohnen in einem Zimmer mit sieben anderen Hostelangestellten, darunter vier Frauen. „Privatsphäre ist das einzige Problem hier, aber wenn es nötig ist, weiss man schon, wohin man mal ein leeres Zimmer mit einem Bett findet“, erzählt der andere Fotograf mit einem verschmitzten Lächeln. „Einigen ist es aber auch einfach egal, ich bin auch schon aufgewacht, weil zwei unter mir Sex hatten und das ganze Bett wackelte.“ Nun macht es mir auch durchaus Sinn, weshalb in den Toiletten der Massenschläge auch oft ein Zettel hängt mit der Info: Bitte keine Kondome die Toilette runterspülen.
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Wo wir schon dabei sind, halten wir auch noch die anderen zwei Feuermacher mit unseren Kameras fest, einer aus Vancouver, der andere aus Kalifornien. Sie bieten Fokuhila und kanadisches Holzfällerhemd sowie lange Haare, Bart und durch und durch ein gechilltes Dasein. Der Fokuhila vielleicht schon etwas zu verchillt und er lässt vermuten, dass so einige chemische Zaubermittel nicht ganz unbeteiligt daran sind. Das Feuer will nicht so recht, klappt dann aber doch noch und wir kommen in den unverhofften Genuss von Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Wir sitzen da wie alte Freunde, trinken Wein und lachen ab den Hunden, die beim Anblick des Essens schier vergehen. Mittlerweile ist es dunkel und wir reden über den Amazonas und das Abenteuer Leben. Auf Anhieb verstehen wir uns alle super, haben den selben Humor. Immer wieder frage ich mich in solchen Momenten, was diese Menschen Zuhause wohl für ein Leben führen. Ich denke mir, dass ein Alltag, eine Struktur so gar nicht zu ihnen passt und frage mich, ob sie das Gleiche über uns denken. Vermutlich. Aber es ist eh egal, das Leben Zuhause hat hier für andere wenig Bedeutung und man ist einfach so, wie man gerade ist. Diese Menschen die wir hier treffen, bekommen ein Bild von uns, was vielleicht nichts mit dem von Zuhause zu tun hat. Vielleicht aber dafür umso mehr mit uns selbst. Es ist als würde man sich hier in einer Parallelwelt befinden, die gleiche Person sein, nur mit einem immer wieder anderen Leben. Ein Leben hier, ein Leben dort, immer wieder in einer anderen Haut, so wie einem gerade zumute ist, mit immer neuen Menschen um einen herum. Doch es fühlt sich richtig an, nichts ist gespielt, weil man auch niemandem etwas vormachen muss. Man ist irgendwie echter noch als Zuhause, einfach dadurch, dass man nichts und niemandem gerecht werden muss und sich einfach treiben lassen kann. Der Kalifornier mit den langen Haaren hat ein lautes Lachen, das ansteckt. Der junge, schöne Argentinier sitzt im Schneidersitz auf der Holzbank und raucht, während ihm seine Haare immer wieder fabulös ins Gesicht wehen und der Fokuhila ist einfach durch und durch sympathisch auf seine Art und auf eine für uns nicht ganz klare Weise ebenfalls sehr angetan von dem jungen Gingu. „Come to visit me in California, Gingu. You can work there on a weed farm“, sagt der Fokuhila zu Gingu. „And we could spend more time together“, meint er mit bedeutungsvollem Unterton in der Stimme, während er ein Herz auf ein Papier malt, in das er Gingu’s und sein Name schreibt. Gingu lächelt verlegen, ganz abgeneigt scheint der schöne Lockenträger auf jeden Fall nicht zu sein. Es ist kühl. Sterne über uns und der fast Vollmond. Ich mache immer wieder ein paar Fotos. Ein Hund legt sich auf meine Füsse, geniesst die gelassene Stimmung genau so wie ich auch. Ich fühle mich pudelwohl. Noch mehr Wein, noch mehr Bilder.
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Etwas später fallen wir todmüde in unsere Betten. Ein Massenschlag von sechs Kajüttenbetten und wir sind wieder einmal alleine darin. Noch eine Weile liege ich wach im Bett, beschäftigt mit Gedanken über die Erlebnisse des Tages und beginne alles aufzuschreiben.
Am nächsten Abend wiederholen wir das ganze mit den selben Leuten und noch ein paar mehr. Über den Tag haben wir noch einen zwanzig jährigen Schweizer kennengelernt, der etwas kiffend und ab und an Drogen probierend alleine durch Südamerika schlendert. „Ihr müsst das wirklich auch mal ausprobieren mit den Pilzchen, alle haben immer Angst davor, aber was viele nicht wissen ist, dass es einfach nur lustig ist“ meint der drogenbegeisterte Junge mit den kleinen Augen, während er ein Bier trinkt. Wohl eher nicht, denken wir für uns. Am ersten Tag in Uruguay ging er mit einem Fremden im Auto mit irgendwohin ans Stadtende, nachdem er ihn nach Gras gefragt habe, erzählt er. Dort trafen sie einen Kolleg von jenem Fremden, der den Schweizer Reisenden versorgte. Faszinierend, wie der Kleine so durch Südamerika kommt, von Ort zu Ort gespült wird ohne jede Vorbereitung und doch irgendwie überlebt. Ebenfalls mit am Tisch sitzen noch Luis und sein französischer momentaner Reisekolleg, die wir schon aus Cabo Polonio kennen. Sie sind gerade in irgendwelche Kartentricks vertieft, zwei die sich gefunden haben. Heute steuern wir einen grossen Salat bei für alle, den die Jungs mit Freuden begrüssen. „Ich habe das Gefühl nur Fleisch gegessen zu haben die letzten Tage“, sagt der Kalifornier. Auch davon gibt es aber natürlich nicht zu wenig und wir essen tatsächlich etwa über zwei Stunden hinweg. Luis geht in zwei Wochen wieder zurück nach Schweden, wo der aus Guatemala stammende seit einigen Jahren lebt. Seit acht Monaten ist er nun unterwegs und bis vor kurzem habe er noch gedacht, er freue sich aufs Heimkehren, aber jetzt als es immer näher kommt, nicht mehr. „Ich glaube, wenn ich wieder Zuhause bin, werde ich mir ein Hostel suchen, um da immer ein wenig im Aufenthaltsraum rumzuhängen“, sage ich zu ihm und er erwidert lachend: „Ja das habe ich mir auch schon überlegt!“ Es werde ihm fehlen Leute kennen zu lernen und er habe das Gefühl, dass das Leben Zuhause nicht so ‚Echt‘ sei, wie das Leben unterwegs. 
Gingu, den wir heute Nachmittag bei einem zweistunden Shooting nochmals von jeder Seite einfangen durften, sitzt dabei neben mir und raucht eine. “Fast schon unheimlich wie unfassbar schön jede seiner Bewegungen ist”, schwärmt Noemi. “Wie ein junger Gott, der sich seiner Person noch nicht bewusst ist.” Stimmt schon, selbst die Bewegung wie er sich eine Zigarette anzündet wirkt wie aus einer Marlboro Werbung.
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Der Fokuhila lädt uns nach Kalifornien ein, wir sollen mit ihm zusammen an das Burning Man Festival. Dazu bauen er und seine Freunde jedes Jahr einen grossen Festivalwagen und würden dann Tagelang feiern. Anstrengend und amüsant. 
Bis irgendwann spät in der Nacht reden wir, immer wieder sitze ich an einem anderen Platz. Der Schweizer sitzt ganze zwei Stunden still am immer selben Ort am Tisch und schaut zufrieden verklärt vor sich hin, während er ein Joint nach dem anderen inhaliert. Zwischendurch trinkt er etwas Bier, das brauche er, da es ihn wieder munterer mache. Was für ein Ausgleichssystem! Ich lerne noch einen Kartentrick, der wirklich an Magie grenzt genauso wie dieser ganze Abend. Fokuhila flirtet mit Gingu, der auch von uns immer wieder mit schwärmenden Blicken angestarrt wird. Ein Abend von dem ich wünschte, er würde nie zu Ende gehen.
by Nora
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