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Tagebucheintrag vom 13.01.2022
Heute ist ein sehr guter Tag. Ich blicke in dem Spiegel und bewundere mich, denn meine frisch blau gefärbten Haare unterstreichen meine leicht geröteten blauen Augen. Nur jemand, der mich sehr gut kennt, würde erahnen, dass ich immer noch ein wenig bekifft bin. Ich überwinde mich, gehe in die Küche und gieße mir einen Kaffee ein, dann laufe ich ins Wohnzimmer und bitte meinen Freund für einen Moment den Raum zu verlassen, damit ich das Video aufnehmen kann. Er weist mich freundlich darauf hin, dass es klüger wäre einen langärmligen Pullover anzuziehen, wegen meiner frischeren Narben und ich befolge seinen Rat, obwohl es mir stark widerstrebt nicht zu meinen Narben stehen zu können und mich sein Vorschlag auch etwas wütend macht. Ich habe mir Notizen gemacht, mich so gut wie es geht innerhalb von 30 Minuten vorbereitet, bis ich entschied, das wäre genug investierte Arbeit. Meine Hände zittern leicht, als ich die Aufnahme beginne. Innerhalb der ersten Sekunden merke ich, dass dieses Video nicht gepostet werden kann, das Thema ist zu emotional und es wird nicht gut ankommen, wenn ich grinse, während ich vorlese, wie viele Leute sich im Jahr 2019 das Leben genommen haben. 1018 um genau zu sein. Schon schockierend, wobei mich derlei Themen nicht mehr allzu sehr emotional bewegen, weil ich als Betroffene in einem Freundeskreis voller Betroffener ständig damit konfrontiert werde, welche Folgen unser Gesundheitssystem für psychisch Kranke hat. Im Zweiten Video nehme ich mir Zeit, trinke währenddessen Kaffee und lasse mich viel weniger aus der Ruhe bringen. Ich bleibe ruhig, aber bestimmt und beschwere mich darüber, wie wenig kassenärztliche Sitze für Psycholog*innen es gibt, weise auf eine Petition hin und berichte, wie es sich anfühlt, trotz monatelanger Suche und jahrzehntelangem Leiden keinen Therapieplatz zu finden. Anschließend formatiere ich das Video und poste es. Danach rauche ich aus Gründen der Nervosität noch eine Zigarette und gieße mir die nächste Tasse Kaffee ein. Ich belese mich zu den Veränderungen des ICD11, im Vergleich zum ICD10 und lasse den Tag entspannt auf mich zukommen, indem ich noch einen Joint rauche. Ich empfinde nicht einmal mehr Scham dabei, heute ist Sonntag und ich habe mir erlaubt an Wochenenden Cannabis zu konsumieren. Schließlich telefoniere ich mit einem meiner Lieblingsmenschen und trinke eine weitere Tasse Kaffee. Niemand reagiert auf mein Video und ich frage mich, was das Problem war. Ich hatte es nicht immer geschafft zu gendern, war es das? Interessierte keine*n was ich da sagte? Ich male mir plötzlich aus, was mein Cousin von mir halten würde, nach so einem Video. Ich gehe wieder ins Bad und schaue in den Spiegel. Du hast es gemacht, jetzt steh dazu. Ich erinnere mich an den Rat meines Freundes und werde wieder wütend. Was wäre, wenn ich öffentlich darüber reden würde, dass ich mir mehrere Rippen gebrochen hätte? Das wäre doch okay? Aber meine Arme, die sollten das Problem sein. Ich hasse diese Gesellschaft und ihre Unaufgeklärtheit gegenüber psychischen Erkrankungen. Brennende Wut macht sich in mir breit und ich überlege, jetzt deshalb einen Streit anzuzetteln, entscheide mich jedoch dagegen.
Nachmittags bin ich mit einer Freundin zum Spaziergang verabredet und wir treffen uns bei ihr. Ich merke schnell, wie gestresst sie ist. Sie erzählt von ihrer neu angefangenen Therapie und den Diagnosen, die im Raum stehen. Es ist schon stressig, die Anfangsphase einer Therapie, da erst einmal viele Diagnosen abgewogen und ausgeschlossen werden müssen. Ich freue mich trotzdem für sie, ich glaube es ist gut, dass sie jetzt Therapie macht. Wir quatschen über dieses und jenes, tauschen uns aus. Ich bin glücklich, ich strahle, ich rede so viel und lache endlich mal. Ich fühle mich fast schon etwas zu gut in ihrer Nähe, wir haben ähnliche Erfahrungen gesammelt, haben eine ähnliche politische Haltung und verstehen und seit jeher super. Nach unserem Spaziergang, gehen wir zu ihr nach Hause, wo ihr Freund bereits auf uns wartet. Mittlerweile bin ich auch wieder nüchtern, wofür ich sehr dankbar bin, es ist mir nämlich doch unangenehm, wenn jemand mitbekommt wie oft ich tatsächlich high bin. Wir setzen uns in die Küche und rauchen. Eine nach der anderen. Aber es fühlt sich gut an, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen, vor allen Dingen, wenn diese einem permanent das Gefühl geben, gewollt zu sein. Robin räuspert sich und sieht mich ernst an. „Planst du immer noch an deinem Geburtstag Ecstasy zu nehmen? Ich halte das, ehrlich gesagt, für eine völlig beschissene Idee. Du wurdest eben erst aus der Klinik entlassen und auch wenn du es vehement abstreitest, hatten wir schon das Gefühl, dein Zustand hätte sich dort verbessert.“ Er schaut mich an. Ich werde ein wenig nervös, weil ich weiß, dass er recht hat, ich aber dennoch Schwierigkeiten habe, Ratschläge von anderen, gerade von Männern, anzunehmen. Schnell entsteht eine Debatte zum Thema Drogen, meine psychische Gesundheit und die Gefahren, die es mit sich bringen würde, Ecstasy an meinem Geburtstag zu konsumieren. Mich beschleicht das leise Gefühl, dass seine durch die Polizei erzwungene Abstinenz ihn jetzt generell zum Drogenkritiker hat werden lassen. “Ich weiß, welche Gefahren der Konsum für mich birgt, aber ich glaube auch, dass ich einen möglichst gesunden Umgang mit chemischen Drogen gefunden habe, ich konsumiere wirklich selten, achte auf die Dosis, auf Set und Setting. Und ehrlich gesagt, habe ich das Gefühl, mein Geburtstag, an dem alle meine Freunde endlich mal aufeinander treffen, wäre ein guter Anlass dafür. Immerhin werde ich 21, ich habe wirklich Lust darauf, mal wieder drauf zu sein.” Er nickt verständnisvoll, das macht mich fast ein wenig wütend. Er hat ja recht, aber bin ich mit Anfang 20 nicht jung bzw. alt genug um solchen Dummheiten nachzugehen? Er weist mich wiederholt darauf hin, welche Gefahren ein E-Kater mit sich bringt, von Selbstverletzung, noch tieferer Depression und letztlich - Suizid, ganz zu schweigen. Ich verspreche, mir seine Argumente noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen und versuche das Thema zu wechseln, vergeblich. Fuck, wenn ich nicht mal meine Drogenaffinen Freund*innen auf meiner Seite weiß, wie würden dann meine restlichen Freund*innen reagieren, wenn ich was schmeißen würde? Ich atme tief durch und versuche deutlich zu machen, dass ich dann zu anderen Drogen greifen würde. Ich sehe nämlich nicht ein, meinen 21. Geburtstag nüchtern zu verbringen. Das führt, wie zu erwarten, zu großem Widerspruch und Empörung. Ich könnte ja was Trinken, sagt Robin, wohl wissend, dass ich Alkohol wirklich nicht leiden kann. Nach einigem Hin und Her beschließe ich, die Diskussion jetzt wirklich zu beenden. Ich verstehe ja wirklich, dass sie sich sorgen machen und gestehe mir sogar ein, dass, wären die Rollen zwischen uns getauscht und er würde an seinem Geburtstag, nach einem langen Klinikaufenthalt und in tiefer Depression MDMA konsumieren wollen, auch Widerspruch erheben würde. Aber zugeben, ich messe da mit zweierlei Maß. Meine Freund*innen sind mir eben wichtiger, als ich mir. Vielleicht ist das traurig, geht aber wahrscheinlich auch den meisten Leuten so.
Schnell entpuppen sich TERFs als neues Gesprächsthema. Wir regen uns gemeinsam darüber auf, wie man Trans-Personen einfach aus Feminismus ausschließen kann, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass die Verabschiedung von ungesunden und erzwungenen Geschlechterrollen eigentlich das Ziel der 3. Welle des Feminismus sein sollte. Ich liebe es über Feminismus zu reden, ich muss sogar sagen, dass ich mir dabei gern selbst zuhöre, so arrogant es klingen mag, aber ich habe einfach Ahnung von dem, was ich da erzähle. Schön, dass meine Freundin und ich da auf einer Wellenlänge sind, ihr Freund fängt derweil an zu zocken, wenig interessiert an unserer Wut. Ich verstehe so vieles nicht. Warum können wir Menschen nicht einfach als das akzeptieren, was sie sind, warum muss sich eine so wichtige Bewegung auf so perfide Art und Weise spalten?
Nachdem ich eine Weile vor mich hin monologisiert habe, entscheide ich mich zu gehen und laufe nach Hause. Dort begrüße ich meinen Freund und lasse den Abend mit ein paar weiteren Joints ausklingen, wohl wissend, wie arm mich mein Cannabiskonsum auf Dauer macht. Wir besprechen auch, ob es wirklich so sinnvoll wäre, direkt an meinem Geburtstag Ecstasy zu nehmen und ob wir damit nicht lieber warten sollten. Schließlich engagiere ich mich mit dem Gedanken, an meinem Geburtstag wirklich nüchtern zu sein und gehe erschöpft und ausgelaugt ins Bett.
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